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Opfer oder Täter:? Die junge Hauptfigur in „Lolita“ von Nabokov.

© © Yann L'Hénoret/Yann L'Hénoret

„Die Wahrheit über Lolita“: Von wegen Nymphe

Eine Arte-Doku enthüllt „Die Wahrheit über Lolita“, das berühmte Buch von Vladimir Nabokov. Das ist gerade in Zeiten von MeToo sehr aufschlussreich.

„Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta.“ Berühmte erste Sätze der Weltliteratur. Und Anfang eines ihrer größten Missverständnisse dazu. Denn wer „Lolita“, den 1955 erschienenen Roman von Vladimir Nabokov für eine Geschichte über eine frühreife Nymphe hält, die den alten weißen Mann Humbert Humbert um den Verstand bringt, liegt verkehrt, wie „Die Wahrheit über Lolita“ (Arte, 10.1., 21.55 Uhr) zeigt.

Die französische Dokumentation (Regie: Olivia Mokiejewski) beleuchtet Nabokovs Werk aus einem neuen Blickwinkel. Der gängigen Meinung zufolge ist Lolita ein aufreizendes, sexuell frühreifes Mädchen, das Begierde bei älteren Männern erweckt.

Nicht wenige verstanden das Werk als literarische Verherrlichung von Pädophilie – eine absolute Fehlinterpretation. Lolita, die eigentlich Dolores Haze heißt, ist ein zwölfjähriges Waisenmädchen, deren Leben durch den sie misshandelnden Stiefvater zerstört wird, wie die Autorin Vanessa Springova („Die Einwilligung“) erklärt.

Wir haben Vladimir nie mit einer Nymphe zusammen gesehen.

Ivan Nabokov, Großneffe des Schriftstellers, in der Arte-Doku „Die Wahrheit über Lolita“

„Nabokov spielt ständig mit seinen Lesern. Dass Lolita die Verführerin sein soll, ist bei den meisten Lesern Kern des Missverständnisses“, sagt auch Brian Boyd, eine der besten Kenner von Werk und Leben Nabokovs, Autor einer großen zweibändigen Biografie des 1940 in die USA und später in die Schweiz exilierten russischen Schriftstellers. Es handele sich um ein Bild, das der sehr pädophile Erzähler, der ältere Mann namens Humbert Humbert, vermitteln möchte.

Nabokov führt die Leser in die subjektive Gedankenwelt des pädophilen Stiefvaters von Dolores, die allein in dessen Fantasie zu der sehr real beschriebenen Lolita wird. Dieser Konnex wird im Roman nicht aufgelöst – ein Tabubruch, einer der Gründe für den Erfolg von „Lolita“ und auch für die Fehlinterpretationen des Bestsellers, der Nabokov in späten Jahren vermögend gemacht hat.

Ein schiefes Bild, das auch die populäre Verfilmung von Stanley Kubrick mit James Mason und Sue Lyon nicht aus der Welt schaffen konnte, mehr eine Liebesgeschichte denn ein krimineller Fall von Pädophilie. Dazu noch die Vermarktung des Hollywood-Films von 1962: ein junges Mädchen mit Lolly, rotem Lippenstift und Herzchenbrille auf dem Filmplakat. Fertig ist das Lolita-Klischee, das heute auf jedem „Lolita“-Buchcover prangt.

Eine junge Heldin, die weltweit zum Phantasma avancierte, was den Roman und diese sehenswerten 60 Minuten verfilmte Literaturgeschichte (mit seltenen Archivaufnahmen und Selbstaussagen des 1977 verstorbenen Nabokov) in Zeiten von #MeToo und lauter werdenden Stimmen von Inzest- und Pädophilie-Opfern aktueller denn je macht.

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