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Geschichten als Raubgut? Studierende der Freien Universität untersuchen Literatur.

© Bernd Wannenmacher

Geschichten als Raubgut?: Die Kolonialzeit und ihre namenlosen Poeten

Im Rahmen einer Ausstellung untersuchen Studierende, ob Geschichten als koloniale Beute in europäische Verlage gelangt sein könnten.

Von Sören Maahs

Afrika war in Mode bei den Literaten der Avantgarde. In der Dada-Kneipe Cabaret Voltaire standen um 1916 Maskentänze „nach Motiven aus dem Sudan“ auf dem Programm, Hugo Ball wollte mit afrikanischen Rhythmen „die Literatur in Grund und Boden trommeln“, und Tristan Tzara wälzte in Zürichs Bibliotheken die ethnologische Literatur über Afrika auf der Suche nach ‚authentischen‘ Gesängen und Gedichten.

Eine Auswahl seiner Fundstücke veröffentlichte er 1920 im „Dada Almanach“. Abseits der Zürcher Dada-Gemeinde publizierte der Schriftsteller und Kunsthistoriker Carl Einstein die Sammlung „Afrikanische Legenden“ (1925). In der populären Buchreihe „Märchen der primitiven Völker“, erschienen im Diederichs Verlag, gab der Afrikanist Carl Meinhof 1916 afrikanische Märchen heraus. In Frankreich sorgte eine Anthologie von Blaise Cendrars für Aufsehen.

Für ihre Übersetzungen und Bearbeitungen griffen Carl Einstein und seine Dichterkollegen auf Material zurück, das Missionare, Sprachforscher, Ethnologen und Kolonialbeamte vor Ort gesammelt hatten. Carl Einstein listete 141 Quellennachweise auf, allerdings ohne Details zur Überlieferungsgeschichte. Zumeist ordnete er die Texte nur allgemein ethnischen Gruppen zu und gab keine Namen an.

Noch heute in hohen Auflagen verkaufte Bände wie „Die schönsten Märchen aus Afrika“ (Reclam 2021) geben wiederum Carl Einstein und Co. als Quellen der verwendeten Texte an. „Woher die Texte kommen, wer sie erzählte und wer sie unter welchen Umständen aufzeichnete, hat sich niemand gefragt“, sagt die Studentin Lynh Nguyen, die an der Ausstellung „Literatur als koloniale Beute?“ mitgewirkt hat. „Die tatsächlichen Urheberinnen und Urheber bleiben anonym, werden im Klappentext von Meinhofs Band als ‚namenlose Poeten‘ bezeichnet.“

Wer heute von kolonialem Raubgut spricht, meint vor allem „Dinge“: Boote und Bronzen, Gegenstände des täglichen und zeremoniellen Lebens. Doch können auch Geschichten als koloniale Beute nach Europa gelangt sein? Diese Frage wirft die von Studierenden erarbeitete Ausstellung auf, die am 26. April in der Philologischen Bibliothek der Freien Universität eröffnet wird. „Wir wenden uns gegen die Anonymität der vermeintlich ‚namenlosen Poeten‘ und gegen die Dekontextualisierung der Erzählungen“, sagt Irene Albers, Professorin am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Zusammen mit ihrem Mitarbeiter Andreas Schmid leitete sie das Forschungsseminar „Looted Literature?, aus dem die Ausstellung hervorgegangen ist.

Anhand des ausgestellten Materials – Erstausgaben, Reproduktionen von Quellentexten und Phonogrammwalzen – lässt sich zurückverfolgen, wie Autoren der europäischen Avantgarden sich Texte aus den afrikanischen Kolonien aneigneten. Zeitgenössische Fotos und Dokumente, etwa aus dem Blaise-Cendrars-Archiv in Bern und dem Archiv des Diederichs Verlags in Jena, machen die kolonialen Kontexte sichtbar.

Die Geschichten wurden oft unter Zwang erzählt

„Die Aufzeichnungen entstanden häufig in einem Herrschaftsverhältnis, und damit gingen nicht selten Zwang und Gewalt einher“, so Andreas Schmid. Davon zeugt eine Notiz von Karl Weule, der in den deutschen Kolonien einheimische Gesänge auf Wachswalzen aufnahm. 1908 schrieb er über den ostafrikanischen Sänger Sulila: So „fasse ich neuerdings den blinden Sänger einfach am Kragen (…). Dann halte ich das wollige Haupt wie in einem Schraubstock fest, bis der Barde sein Heldenlied zu Ende gebrüllt hat. Ob er zuckt und zerrt und den Kopf noch so energisch zu wenden versucht – ich halte ihn.“

Aus einigen Quellen erfährt man aber doch Namen und Details. Die Erzähler waren in der Regel Zöglinge auf Missionsstationen und „eingeborene Sprachgehilfen“ an Kolonialinstituten oder Gefängnisinsassen. Die als „Sprachproben“ gesammelten Lieder und Texte erschienen vor allem in Grammatiken und linguistischen Fachzeitschriften. „In den Abschriften und Übersetzungen Tzaras, Einsteins, Cendrars’ und anderer verschwinden diese Informationen“, sagt Irene Albers.

Eine Geschichte ist wie der Wind: Sie kommt von weither, und wir spüren sie.

||Kábbo

Mit ihren Vorlagen gingen sie sehr freizügig um, passten sie ihren Vorstellungen von „primitiver“ Dichtung an. „Die ethnologischen Mitschriften zeigten jedoch selbst schon dieselbe sinnverzerrende Tendenz“, erklärt Andreas Schmid. „Daher dürfen auch erstmalige Verschriftlichungen zum Beispiel bei Leo Frobenius und Carl Meinhof nicht für authentische Originale gehalten werden.“

Die exakte Überlieferungskette der Texte zu rekonstruieren ist oft nicht möglich. „Die Provenienzfäden reißen ab. Es bleiben offene Fragen“, so AVL-Student Vincent Sauer. Für die Erzählung „Der Wind“ in einer für Kinder gedachten Märchensammlung von 1928, die bis heute in deutscher Übersetzung erhältlich ist, konnte er aber eine Herkunft ermitteln: Der franko-schweizerische Schriftsteller Blaise Cendrars hatte die Erzählung ohne Quellenangabe aus einer Anthologie des französischen Orientalisten René Basset aus dem Jahr 1903 abgeschrieben – der sie seinerseits einem 1880 veröffentlichten englischsprachigen Fachblatt für südafrikanische Folkloredichtung entnommen hatte. Dort wird der Erzähler namentlich genannt: |Han‡kass’o .

Gefangenenfotografien aus den 1870er-Jahren zeigen |Han‡kass’o als jungen Mann mit ernstem Gesicht. Wegen Schafdiebstahls wurde er 1869 zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt, 1877 starben seine Frau und sein jüngstes Kind an den Folgen eines brutalen Polizeiübergriffs. Zwei Jahre lang, von 1878 bis 1879, wohnte er bei den Sprachforschern Wilhelm Bleek und Lucy Lloyd in Kapstadt. Gerühmt als ausgezeichneter Geschichtenerzähler, stammte ein großer Teil des Materials, das Bleek und Lloyd zusammentrugen, von ihm. |Han‡kass’o lieferte so Einblicke in die Denkweise und die Lebensumstände der südafrikanischen |Xam.

Mit der Kolonisation geriet ihre Sprache in Vergessenheit

Bis um 1870 waren die |Xam durch die vordringende Kolonisation beinahe ihres gesamten Landes und ihrer Unabhängigkeit beraubt worden. Oft leisteten sie dagegen Widerstand, viele von ihnen kamen dabei um. Die Überlebenden waren gezwungen, sich als Arbeitskräfte weißer Siedler zu verdingen und sich an andere Lebensverhältnisse anzupassen. Ihre Sprache geriet in Vergessenheit, heute spricht sie niemand mehr.

Der Schwiegervater von |Han‡kass’o, genannt ||Kábbo, sinnierte wehmütig über seine Heimat und sein früheres Leben: „Meine Leute besuchten einander in ihren Hütten, damit sie sich dort davor setzen und rauchen konnten. Auf diese Weise erfuhren sie daheim Geschichten.“ Eine Geschichte, sagte ||Kábbo, „ist wie der Wind, sie kommt von weither, und wir spüren sie.“ Die literaturwissenschaftliche Provenienzforschung kann also auch zu einem anderen Begriff von Literatur führen.

Eine der neun Ausstellungsvitrinen widmet sich auch Fragen der Restitution. Gegenstände kann man zurückgeben. Doch wie restituiert man immaterielles Kulturgut? Bisher gab es wenige Versuche, Geschichten zu restituieren. Ein Beispiel ist das belgische Projekt SHARE. Im Jahr 2021 wurden 4000 historische Tonaufnahmen von Liedern an die Rwanda Cultural Heritage Academy rücküberreicht – auf einer Festplatte.

„Es ist wichtig, die Texte und Aufnahmen aus ihrer schlagseitig europäischen Aneignungs- und Deutungsschleife zu lösen und sie zu teilen“, konstatiert Andreas Schmid. So verstanden bedeute Restitution vor allem Kollaboration: nicht eine Eigentumsübertragung, sondern eine Vervielfältigung der Perspektiven und Stimmen.

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