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An Stil ist kein Mangel: Lichterfelde ist ein spektakuläres Villenviertel.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Wo Rentner am Rad drehen

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 50: Lichterfelde.

Am S-Bahnhof Lichterfelde West wurde ich Zeuge eines beeindruckenden Schauspiels. Ein dicker alter Mercedes näherte sich im Schritttempo dem Gemüsestand am Bahnhofsplatz. Aus dem Wageninneren dröhnte laute Musik, die ich erst erkannte, als sich die Fahrertür öffnete: „Noooooooon“, schmetterte Edith Piaf, „je ne regrette rieeeeeeeen ...“. Ein Greis kletterte aus dem Auto, näherte sich mit winzigen Schritten dem Gemüsestand, kaufte einen einzelnen Apfel, trippelte zurück zum Mercedes und fuhr von dannen, all dies begleitet von Edith Piafs ohrenbetäubendem Gesang. Ich glaube, stilvoller wurde in Berlin nie ein Apfel gekauft.

An Stil ist in Lichterfelde auch sonst kein Mangel. Johann von Carstenn hieß der Stadtentwickler, der Berlins wohl spektakulärstes Villenviertel 1865 gründete. Der damals angesagte Historismus hat dem Ortsteil die unglaublichsten Baustile beschert – am besten gefielen mir die zugbrückenverzierten Miniaturburgen des Architekten Gustav Lilienthal, der hier Häuser baute, während sein Bruder Otto auf einem Hügel in Lichterfelde-Süd seine Flugapparate ausprobierte.

Die Mutter hatte ihn mehr tot als lebendig aus den Trümmern geborgen

Noch heute begegnet man in der Westhälfte des Ortsteils rund um die Drakestraße Menschen, die an die alte Lichterfelder Grandezza anknüpfen. Ich lief staunend hinter einer Dame her, deren Pelzmantel farblich auf ihren Hund abgestimmt war – oder umgekehrt. Erst ab dem Teltowkanal, spätestens ab der Currywurstbude „Zur Bratpfanne“, verwandelt sich Lichterfelde in einen demokratischeren, mehr dem Rest der Stadt ähnelnden Ortsteil.

Genau dort lief ich Herrn Müller über den Weg. Er schob seinen Leierkasten den Jungfernstieg entlang. „Wollen Sie mal kurbeln?“, fragte er, als er meine Blicke bemerkte. Wollte ich natürlich.

Herr Müller war 76 Jahre alt. Zur Welt gekommen war er in Tempelhof, kurz bevor das Wohnhaus seiner Eltern im Krieg zerbombt wurde. Die Mutter hatte ihn mehr tot als lebendig aus den Trümmern gezogen, seitdem funktionierte nur noch einer seiner beiden Lungenflügel. Gearbeitet hatte Herr Müller sein Leben lang in christlichen Werkstätten. Etwa um 1980 herum, kurz vor seinem 40. Geburtstag, wurde ihm klar, dass seine mageren Verdienste ihm keine große Rente bescheren würden – weshalb er beschloss, sich als Altersvorsorge einen Leierkasten anzuschaffen. Herr Müller legte jeden Monat ein bisschen Geld beiseite, und als er 10 000 Mark zusammenhatte, kaufte er sich eine Drehorgel der Marke Deleika mit handbetriebenem Blasebalg und elektronischem Musikchip.

In Lichterfelde-West sind die Menschen spendabler

Drei- bis viermal pro Woche zieht Herr Müller seitdem mit dem Kasten durch seinen Wohnort Lichterfelde. Am beliebtesten, sagt er, seien die Berliner Klassiker: In Rixdorf ist Musike, Sportpalastwalzer, Das ist die Berliner Luft, Im Grunewald ist Holzauktion. Herr Müller kurbelt, bis er 30 Euro im Hut hat, dann macht er Feierabend. In Lichterfelde-West kommt dieser Tagesverdienst etwas schneller zusammen als in Lichterfelde-Ost.

Der Leierkasten, erklärte mir Herr Müller, habe zwei große Vorteile: Erstens komme man beim Arbeiten unter Leute, zweitens sei so eine Drehorgel bis ins hohe Alter problemlos zu bedienen.
Es war der ausgeklügeltste Rentenplan, von dem ich je gehört hatte.

Fläche: 18,2 km² (Platz 12 von 96)
Einwohner: 83 293 (Platz 12 von 96)
Durchschnittsalter: 46,0 (ganz Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Peter Fox (Musiker), Johann von Carstenn (Unternehmer)
Gefühlte Mitte: Emil-Schulz-Brücke
Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

Diese Kolumne erschien am 24. Februar 2018 im Tagesspiegel-Samstagsmagazin Mehr Berlin.

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