Berlin-Reinickendorf: Wenn der letzte Schuster den Kiez verlässt
Mit viel Leidenschaft führt Matthias Kartmann seit Jahrzehnten eine Schuhreparatur im Norden Berlins. Nun geht er - wie so viele im Ortsteil.
Matthias Kartmann sitzt in einer Ecke seiner Werkstatt in Borsigwalde, neben ihm steht eine große, alte Nähmaschine. Auf seinem Schoß liegt ein Holzbrett, darauf ein Stück Leder. Mit Hilfe einer Schablone zeichnet er einen Halbkreis auf das Leder. Dann schneidet er die Form mit einer Eisenschere aus und schärft die Kanten mit einem Messer – so wie er es schon immer macht, seit fast 40 Jahren.
Matthias Kartmann ist Schuster. Sein Leben dreht sich um Schuhe und andere Lederartikel. Aber nicht mehr lange. Bald wird er sein Geschäft schließen. Nicht, weil er muss, sondern weil er will. "Ein Laden nach dem anderen macht hier zu", sagt der 54-Jährige. "Das ist nicht schön mit anzusehen."
Immer mehr Geschäfte schließen in Borsigwalde
Und tatsächlich: Kartmann ist nicht der einzige in Borsigwalde, der aufhört. Vor dem Schuhreparatur-Laden kündigt sich bereits der Auszugs seines Nachbars an: Ein Transporter steht da, Männer schleppen alte Möbel und Geräte aus der ehemaligen Kneipe und laden sie in den Wagen. "Das ist genau das, was ich meine", sagt Kartmann. Bisher hätten die Leute, bevor sie zum Kegeln in den Gasthof gingen, ihre Schuhe bei ihm abgegeben und sie am nächsten Tag wieder mitgenommen – das sei nun vorbei.
In Borsigwalde im Norden Berlins, leben 6600 Menschen. Es ist der jüngste Ortsteil der ganzen Stadt, erst seit 2012 gehört er zu Reinickendorf. Der Eisenwarenladen, der Physiotherapeut, Bäcker, Metzger und Versicherungsagenturen sind nebeneinander in der kleinstädtisch anmutenden Einkaufsstraße aufgereiht. Am Ende der Straße links, gegenüber des Sportplatzes, hat Matthias Kartmann in seinen Schuhreparatur-Laden jede Menge zu tun.
In den Tagen, die ihm bis zur Schließung am 23. Dezember bleiben, wollen noch einige Paar Schuhe poliert, genäht und geflickt werden.
Mit einem Borstenpinsel verteilt Kartmann einen Spezialkleber über dem gerade ausgeschnittenen Lederstück. Kurz lässt er es antrocknen, dann drückt er es an die Hinterkipper eines Schuhs, der zwischen seinen Beinen klemmt. Während er arbeitet, setzt er sich seine Brille mal auf die Nase, mal auf den Kopf, wo sie in seinen buschigen Haaren verschwindet.
In den Laden von Kartmann kommen die unterschiedlichsten Leute
Matthias Kartmann ist Mitte der 1960er in Wilmersdorf geboren. Seine Mutter arbeitete in einer Reinigung, der Vater war Polizist. Auch der junge Kartmann wollte mal Polizist werden. "Aber irgendwie war das nichst für mich, dafür bin ick zu frei im Kopp", sagt er mit Berliner Dialekt. Vor knapp dreißig Jahren hat Kartmann das das Schuhgeschäft in der Schubartstraße in Borsigwalde von einer alten Frau übernommen, deren Mann gestorben war. Damals standen noch selbstgemachte Schuhe in den Regalen.
"Heute mache ich nur noch Reparaturen – alles andere lohnt nicht", erzählt Kartmann. Während der Schuster in seiner kleinen Werkstatt arbeitet, erzählt er Geschichten von früher, auch von seiner Mutter. Sie habe ihm beigebracht, anderen gegenüber fair zu sein und Menschen zu helfen. "Zu mir in den Laden kommen die unterschiedlichsten Leute. Wahrscheinlich, weil ich ihnen zuhöre und mit ihnen rede."
An Kunden mangelt es im Schuhreparatur-Laden nicht
Wenn ein Kunde in den Laden kommt, freut sich Matthias Kartmann. Er steht schwungvoll von seinem Stuhl in der Ecke auf und geht durch den Vorhang aus Eisenketten nach vorne zu der Verkaufstheke mit der alten Kasse. "Ich komme hier her, weil ich Matthias vertraue und genau weiß, dass er seine Arbeit gut macht", sagt einer der Kunden. Innerhalb von zwei Stunden kommen um die zehn Leute in den Laden. "Das ist noch gar nichts", sagt Kartmann.
Warum hört er dann auf? Der Grund sei nicht nur, weil viele andere Geschäfte in seiner Umgebung schließen. Er will den "letzten Zug" bekommen, bevor er zu alt ist. "Ob dich etwas zu Frieden stellt, kannst du erst am Ende sehen." Und seine Arbeit habe ihn zufriedengestellt. "Ich habe es leidenschaftlich gemacht." Künftig wird er bei seiner Schwester, einer Fotografin, arbeiten. Aber Schuster sein, das ist für ihn nicht nur ein Handwerk, sondern auch eine Sicht auf die Dinge. "An den Schuhen kann man ablesen, in welcher Zeit wir leben."
Er wendet sich wieder dem reparaturbedürftigen Schuh zu. Mit einer sicheren Bewegung schneidet er den überstehenden Rest des kleinen Lederstücks weg, dann näht er es auf seiner großen Maschine fest. Er stellt den schwarzen Schuh ins Regal zu den anderen, die in den nächsten Tagen noch abgeholt werden müssen. "So. Fertig."
Ronja Straub
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