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Martin Weigert floh als Kind in die USA, weil seine Familie jüdische Wurzeln hat.

© Miriam Rüdesheim

Sohn von KZ-Häftling besucht Sachsenhausen: „Mein Vater hat nie viel vom Holocaust erzählt“

1938 verschleppten die Nationalsozialisten Hans Werner Weigert ins Konzentrationslager, darauf flüchtete er in die USA. Jetzt kehrt sein Sohn an den Ort des Grauens zurück.

Die Figur hält sich mit ihrer Hand Mund und Augen zu. Unterdrückt einen Schrei. Will ihr Unrecht nicht sehen. Die Skulptur soll ein Zeichen der Erinnerung sein. „Es ist ein Zeichen des Protests gegen den Nationalsozialismus. Gegen die Zensur: Die Menschen haben nicht mehr das gesagt, was sie dachten, das Relief stellt eine Mahnung dar“, so interpretiert Martin Weigert die Kollwitz-Bronze „Die Klage“.

 „Die Klage“. Bronze-Relief von Käthe Kollwitz.
„Die Klage“. Bronze-Relief von Käthe Kollwitz.

© dpa/Hannes P Albert

Mit einem Finger stützt er sich am Podest ab, als er das Relief überreicht. Er schenkt es der Gedenkstätte Sachsenhausen. Mit der „Klage“ will er an seine Eltern Elisabeth und Hans Werner Weigert und ihre Vergangenheit in Deutschland erinnern – und die Arbeit der Gedenkstätte ehren.

Martin Weigert ist emeritierter Professor für Biowissenschaften und Molekularbiologie in New Jersey. Sein Vater arbeitete in Deutschland als Jurist. 1938 verbot ihm die NS-Regierung weiterzuarbeiten, er musste das Land verlassen. Weil er jüdischer Abstammung war.

Nazis setzten Massenverhaftungen als Druckmittel ein

Hans Werner Weigert entstammte einer bekannten Berliner Kaufmannsfamilie. Diese betrieb die Plüsch- und Wollwarenfabrik Weigert & Co. mit Produktionsstandorten in Charlottenburg und Schlesien. Sie war seit 1839 in Berlin ansässig und gehörte mit zu den bedeutendsten jüdischen Textilunternehmen der Stadt. Hans Werner Weigert war als Anwalt tätig. Er war in Berlin verwurzelt – in Nazi-Deutschland jedoch nicht mehr willkommen. Seine Familie emigrierte in die USA.

Im November 1938 nahmen Nationalsozialisten bei den reichsweiten Pogromen mehr als 6300 jüdische Bürger aus dem norddeutschen Raum fest und verschleppten sie in das KZ Sachsenhausen. Unter ihnen war Hans Werner Weigert. „Eines Tages stand die Gestapo vor der Tür. Sie sagten meiner Mutter, sie würden den hier lebenden Juden verhaften. Meine Mutter sagte, sie sei es. Sie glaubten ihr nicht“, berichtet sein Sohn Martin Weigert.

Die Massenverhaftungen sollten Druck auf Menschen jüdischer Abstammung ausüben, das Land zu verlassen. Zuvor verboten bekommen, weiter als Rechtsanwalt zu arbeiten, lebte der Vater zwei Wochen lang in KZ-Haft: in völlig überfüllten Baracken, bei harter körperlicher Arbeit und unter Diffamierung durch die Nationalsozialisten. Am 23. November kam er wieder frei. Wohl, weil er bereits ein Quoten-Visum für die USA beantragt hatte und dieses zugeteilt wurde. Anfang 1939 verließ Hans Werner Weigert mit seiner Frau und seinen beiden Kindern Deutschland.

Mein Vater hat nie viel vom Holocaust erzählt.

Martin Weigert, emeritierter Professor für Biowissenschaften und Molekularbiologie in New Jersey

Trotz geglückter Flucht war sein Leben im Exil nicht mehr wie zuvor möglich. Im amerikanischen Rechtssystem konnte Weigert nicht arbeiten. Er betätigte sich als kaufmännischer Angestellter und Lehrer. 1947 kehre er für einige Zeit nach Deutschland zurück. Als „legal officer“ der US-Militärregierung half er bei der Reorganisation der Justiz in der amerikanischen Besatzungszone. Anfang der 1950er-Jahre erhielt er eine Professur für Politikwissenschaften an einer Universität in Washington.

Martin Weigert war anderthalb Jahre alt, als er mit seinen Eltern Deutschland verlassen musste. „Meine Eltern liebten die deutsche Kultur. Ich kann mich erinnern, dass ihr Neustart in den USA schwer war. Mein Vater hatte Probleme, einen Job zu finden, und meine Mutter wurde als ‚German Spy‘ bezeichnet und belächelt“, sagt Weigert. „Mein Vater hat nie viel vom Holocaust erzählt.“

Familie war in Berlin tief verwurzelt

Martin Weigerts Urgroßvater Max Weigert hatte die Plüsch- und Wollwarenfabrik geleitet. Er saß im Berliner Stadtrat und wirkte als Vizepräsident an der Gründung der Berliner Handelshochschule mit. Sein Großvater Erich Weigert war bis zur antisemitisch motivierten Zwangsbeurlaubung 1933 Direktor des Landgerichts Berlin I. Sein Taufpate war Nachbar und späterer Bundespräsident Theodor Heuss.

Auch mit Martin Niemöller war die Familie verbunden. Ihm soll Weigerts Vorname gewidmet sein. Mit Käthe Kollwitz war Familie Weigert befreundet. Auf einem Bild zeichnete sie die Kinder der Familie mit Kohle. Die Familie besaß mehrere Werke von ihr, die sie an Museen weitergab.

Wegen des Bezugs zu Käthe Kollwitz hat Martin Weigert die Kollwitz-Bronze ersteigert, die er nun an die Gedenkstätte weiterverschenkt. Das Emigrantenprogramm des Berliner Senats ermöglichte seine Reise nach Deutschland. „Ich habe das Bronzeplastik ‚Die Klage‘ von Kollwitz gesehen und geliebt. Für mich stand außer Frage: Das gehört in diese Gedenkstätte“, sagt er.

Manja Schüle (SPD), Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg, spricht mit Martin Weigert während einer Veranstaltung auf dem Gelände des ehemaligen KZ Sachsenhausen.
Manja Schüle (SPD), Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg, spricht mit Martin Weigert während einer Veranstaltung auf dem Gelände des ehemaligen KZ Sachsenhausen.

© dpa/Hannes P Albert

Schon vor einigen Jahren war Martin Weigert mit seiner Tochter nach Berlin gereist. Sie habe sich sehr für die Geschichte ihres Großvaters interessiert. „Ich wusste, mein Vater hätte niemals wieder ein KZ von innen besucht“, sagt Martin Weigert. „Wir aber wollten uns mit seinem Leben auseinandersetzen. Der Besuch hat einen enormen Eindruck hinterlassen.“

Dabei beeindruckt Weigert, wie intensiv sich die stellvertretende Leiterin der Gedenkstätten Sachsenhausen, Astrid Ley, mit der Geschichte einzelner Juden im KZ auseinandersetze: „Sie erforscht die Geschichten, die noch nicht so bekannt sind. Ich schätze ihre Arbeit und möchte ein Zeichen setzen.“ Auch deshalb habe er sich für das Geschenk entschieden. Dafür ist Ley dankbar: „Ich bin überwältigt von dem Vertrauen und der Großzügigkeit von Herrn Weigert nach all dem, was unser Land in der Vergangenheit angerichtet hat“, sagt sie.

Trotz seiner Geschichte ist Martin Weigert gerne in Deutschland. „Wenn ich an Deutschland denke, schießen mir zuallererst die Bilder der Freunde meiner Eltern in den Kopf. Viele von ihnen waren Helden, sie haben Widerstand geleistet“, sagt Weigert. Er blickt auf und lächelt. Ihm mache es Angst, dass rechtsextreme Parteien die Vergangenheit sowie die rassistischen Morde vergessen. Dort spiele viel Ignoranz mit rein. „Sie fällen Kollektivurteile über Menschen, die sie nicht kennen. Das war früher schon das Schlimmste – und es ist auch noch heute.“

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