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© Spiekermann-Klaas

Schulkonzepte: Wenn die Stadt zur Schule wird

So macht Schulschwänzern das Pauken wieder Spaß: Vor 20 Jahren wurde in Berlin das „Produktive Lernen“ begründet.

Ronja Hinze hat die Kurve gekriegt. Aufgedreht sitzt sie im Büro ihrer Schule, plaudert vom letzten Praktikum, vom Ziel, den Mittleren Schulabschluss zu schaffen, von der Zukunft.

Vor ein, zwei Jahren sah die Sache noch ganz anders aus. Da war sie „in ein schlechtes Umfeld“ geraten, wie sie sagt, hatte viel geschwänzt, war zweimal sitzengeblieben, hatte erst eine Realschule und dann eine Gesamtschule geschmissen. Doch dann fand ihre Mutter eine Schule, die ganz anders war als alles, was die Tochter vorher gesehen hatte und woran sie gescheitert war. Eine Schule, die Kindern das Lernen erleichtert, indem sie das Lernen in das wahre Leben verlagert.

Die Schule, die die Jugendlichen ins Leben schickt, in die Betriebe, in die Stadt, und die deshalb „Stadt als Schule“ heißt, liegt in Kreuzberg, direkt neben der Synagoge am Fraenkelufer. Es sind nur wenige Räume und eine Cafeteria, in denen sich der Schulbetrieb abspielt und in denen die Schüler sich zwei Tage pro Woche für 13 Schulstunden aufhalten. Ansonsten findet das Schülerleben draußen in der Stadt statt. Denn die Jugendlichen suchen sich in der neunten und zehnten Klasse sechs Betriebe, in denen sie mithelfen und ihren Aufgaben gerecht werden müssen.

Ronja kommt ins Schwärmen, wenn sie von ihren Praktika erzählt. Mal ging es um Abfalltrennung, dann war sie in einem Fitnessstudio, wo sie lernte, „auf die Menschen zuzugehen“. Jetzt ist sie bei einer Druck- und Medienfirma, in die Studenten der Humboldt-Universität vom nahegelegenen Adlershofer Campus zum Kopieren kommen, in der aber auch Kalender und Bücher gebunden werden. „Die Zeit vergeht wie im Flug“, sagt Ronja. Man merkt ihr an, dass sie Langeweile nicht ertragen kann.

Was Ronja für die beste Schule hält, in der sie je war, war vor 20 Jahren eine sehr umstrittene Sache. Die damalige CDU-Schulsenatorin Hanna-Renate Laurien war wenig begeistert von der Idee, Schüler weitgehend vom Schulbetrieb freizustellen und sie stattdessen dem „Produktiven Lernen“ auszusetzen. Deshalb wurde das Konzept zunächst nur als Jugendbildungsprojekt genehmigt. Es dauerte vier Jahre, bis es als Schulversuch akzeptiert wurde. Ein langer Kampf.

Den Elan für diesen Kampf hatten die Berliner Pädagogen Ingrid Böhme und Jens Schneider aus den USA mitgebracht. Sie waren damals auf der Suche nach Konzepten, um gescheiterten Schülern eine Perspektive zu geben. Schülern, die kaum noch Aussicht auf einen regulären Schulabschluss hatten; die, zweimal sitzengeblieben, keine ordentliche Schule mehr besuchen durften. Böhme und Schneider gelang es nicht nur, als Schule anerkannt zu werden. Sie gründeten zudem noch das Institut für Produktives Lernen in Europa (IPLE), an dem Lehrer speziell fortgebildet wurden, um schulmüden Jugendlichen mit vielen Ausflügen in die Praxis das Lernen wieder schmackhaft zu machen. Im Laufe der Jahre schafften sie es, an 13 weiteren Hauptschulen den zweijährigen Bildungsgang „Produktives Lernen“ anzudocken, so dass die dortigen Schüler ihre Schule nicht verlassen müssen, wenn sie merken, dass sie dem Unterricht nicht mehr gewachsen sind. Hier läuft dann beides nebenher: der normale vierjährige Hauptschulzweig über vier Jahre und zusätzlich das „Produktive Lernen“ in Klasse neun und zehn. Das „Mutterkloster“ aber blieb die „Stadt als Schule“ in Kreuzberg.

Dass der Alltag mit ausnahmslos schwierigen Schülern nicht unbedingt frustrierend sein muss, lernt, wer sich am Fraenkelufer umsieht: Die 150 Jugendlichen, die hier auf zwei Etagen unterrichtet werden, und die zuvor in ihrem Leben oft nur als „Problemfälle“ bezeichnet wurden, sind freundlich und gut gelaunt. Wenn Rektor Guido Landreh durch die Flure geht, grüßen sie höflich.

Einige von ihnen sind mit Lehrerin Marlies Weerts gerade von einer Klassenreise in die Türkei zurückgekommen. „Wir respektieren die Schüler mit ihren Schwächen und versuchen, auf Augenhöhe zu kommunizieren“, sagt Weerts. Das sei die Grundlage dafür, dass sie alle hier so gut miteinander auskämen. Natürlich gebe es „schwierige Situationen“. Neulich sei es zu einer Handgreiflichkeit unter zwei Mädchen gekommen. Das sei aber eine Ausnahme.

Einige Schüler hätten durchaus das Vermögen zu einem höheren Schulabschluss, sagt Schulmitbegründer Jens Schneider. Knapp 20 Prozent schafften zuletzt sogar den Mittleren Schulabschluss – mehr als an den normalen Hauptschulen. Dass die Jugendlichen bei ihnen weniger Fachunterricht bekämen als an normalen Hauptschulen, werde durch die Erfahrungen und das Fachwissen kompensiert, das sie in den Betrieben sammeln: „Das Geheimnis ist, dass wir die Öffentlichkeit in Anspruch nehmen.“

Die Bereitschaft, diesem Modell zu folgen, wächst bundesweit angesichts der nach wie vor hohen Schulabbrecherquoten. Mecklenburg-Vorpommern sei gerade dabei, das „Produktive Lernen“ flächendeckend in seinen kombinierten Haupt- und Realschulen einzuführen, sagt Ingrid Böhm. Mit einem ähnlichen Ansatz werde jetzt schon an 60 Standorten in 21 Ländern gearbeitet.

Damit sind Böhm und Schneider nicht zufrieden: Sie wollen ihr besonderes Unterrichtsmodell auch an Gesamtschulen etablieren – damit Jugendliche wie Ronja schneller zum Ziel kommen. Die Entscheidung darüber muss nun Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) treffen.

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