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Offen für alle? Inklusion soll auch in Kitas stattfinden.

© Uwe Anspach/dpa

Inklusion in Berliner Kitas: Auf der Suche nach dem richtigen Platz

Wie gut sind Kitas auf die Betreuung von schwerbehinderten Kindern eingerichtet? Manche Eltern wünschen sich Sonder-Kitas.

Kochen ist für Mandy-Mae Ercan vor allem Sport. Kurzstreckensprint. Vom Herd durch die Küche ins nächste Zimmer, „alle zwei Sekunden muss ich nach ihm schauen“. Gut, zwei Sekunden ist übertrieben, aber eine ganze Minute lang kann sie nicht an den Töpfen stehen. Viel zu gefährlich, sie sieht ja nicht, was Tyler dann macht. Tyler wollte in Gatow schon mal ins Wasser hüpfen, weil er eine Ente gesehen hatte. Und in der eigenen Wohnung? Andere Vierjährige müssen auch beaufsichtigt werden, stimmt schon, aber Tyler ist ein Sonderfall.

Er ist Autist.

Tyler geht jetzt in eine Kita in Westend. Die hat spezielle Erzieher für Kinder mit Behinderung, vor allem mit Autismus. Und Tylers Mutter kann endlich durchatmen. Ein Jahr lang hatte sie Tyler zu Hause betreut, sie hatte ihre Elternzeit verlängert, sie hatte monatelang keine Kita gefunden, die Tyler annähernd so betreuen konnte, wie sie sich das vorstellte.

Und jetzt? Tja, jetzt ist das Problem nicht wirklich gelöst. Tyler sollte in eine Gruppe mit sieben Kindern. Aber seine Kita hat zu wenig Erzieher, Tylers Gruppe ist jetzt 15 Kinder groß. Zu groß, Lärm macht Autisten fast irre. Sie brauchen einen Rückzugsraum. Die Kita hatte aber keinen. „Also wurde eine Kammer ausgeräumt“, sagt Mandy-Mae Ercan. „Jetzt können sich Kinder zurückziehen.“

Tyler Ercan steht für ein berlinweites Problem. Es geht um die Frage: Können alle behinderten Kinder in der Stadt angemessen betreut werden? Und die Antwort lautet: offensichtlich nicht.

Mehr Plätze für Kinder mit schweren Behinderungen geplant

7771 Kinder mit erhöhtem Förderbedarf werden in Berlin in Kitas betreut (Stichtag 31.12.2016). Dazu kommen schwerstbehinderte Kinder, zum Beispiel Autisten, Spastiker oder Mehrfachbehinderte. Und für diese Gruppe wird es besonders schwierig. 79 speziell für sie eingerichtete Plätze stehen in Berlin bereit. „Das Kontingent soll 2018 um 20 und 2019 um zwölf Plätze aufgestockt werden, damit dann 110 Plätze zur Verfügung stehen“, teilt Iris Brennberger, Pressesprecherin der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, mit.

Mehr als diese 110 Plätze sind, theoretisch, auch gar nicht nötig. „Alle Kitas sollen so ausgerüstet sein, dass sie Kinder mit verschiedensten Behinderungen aufnehmen können“, sagt Iris Brennberger. Sollte in einer Kita aber keine bedarfsgerechte Förderung möglich sein, könne mit den betroffenen Eltern eine alternative Kita gesucht werden.

So weit die Theorie.

Dorothee Thielen, die Referentin für Kinder und Kita beim Paritätischen Wohlfahrtsverband, erlebt im Alltag die Praxis. „Es gibt zu wenig ausgebildete Fachkräfte für schwerstbehinderte Kinder, und es fehlt in vielen Kitas auch an entsprechenden Räumen.“ Der Paritätische Wohlfahrtsverband ist der Dachverband für 120 Kita-Träger, diese bieten insgesamt 45 000 Plätze an. 166 000 Kita-Plätze gibt es derzeit in ganz Berlin. Auch jene Träger, welche die 79 Sonderplätze anbieten, gehören zum Paritätischen Wohlfahrtsverband.

Erzieher fehlen

Dorothee Thielen schätzt, dass insgesamt in Berlin 1500 Erzieher fehlen. „Wir bilden in Berlin sehr gut und sehr viel aus“, sagt sie. Nur: „Wir haben zu spät damit angefangen. So eine Ausbildung dauert ja drei Jahre.“ Und deshalb haben jetzt viele Eltern von schwerbehinderten Kindern ein Problem.

„Ich kann Eltern verstehen, die eine Sonder-Kita für ihr schwerbehindertes Kind möchten“, sagt Dorothee Thielen. „Die wollen, dass ihre Kinder bestens betreut werden.“ Nur: „Es gibt definitiv eine größere Nachfrage nach solchen Plätzen als Angebote bestehen.“ Das führt dazu, dass die Sonder-Kitas überlaufen sind. Und die normalen Inklusions-Kitas, die ein gutes Betreuungsangebot für schwerbehinderte Kinder anbieten, sind überlaufen, „weil die Eltern sich Tipps geben, welche Kitas gut sind“.

Kitas, die Kinder mit der Förderstufe B, das heißt, besonders förderungswürdig, haben, erhalten zwar je nach Bedarf mehr Geld für Fachpersonal, aber das ist nicht ausreichend vorhanden. Zudem reicht das Geld oft nur für Halbtagsstellen. „Aber die sind natürlich nicht attraktiv“, sagt Dorothee Thielen. Doch gerade kleinere Träger könnten oft nur solche Halbtagsstellen anbieten. „Die haben dann große Mühe, Leute zu finden.“

Aber auch größere Kitas, die Erzieher für Ganztagsstellen suchen, bekommen schnell Probleme. Dorothee Thielen kennt einen Fall, in dem plötzlich eine speziell ausgebildete Facherzieherin fehlte. „Da waren die Eltern, die besonders behinderte Kinder hatten, völlig durcheinander.“ Erst nach sechs Monaten kam Ersatz. Aber keine speziell geschulte Fachkraft, sondern ein Erzieher, der eine entsprechende Fortbildung absolviert hatte.

Manche Eltern nehmen weite Wege in Kauf

Dann gebe es ja aber auch behinderte Kinder, sagt Dorothee Thielen, „die schwierig in ihrem emotionalen Verhalten sind“. Das nächste Problem. „Denn bei denen stoßen Kitas an ihre Grenzen.“ Diese Kinder bräuchten eigentlich eine 1:1-Betreuung, aber das ist mit dem vorhandenen Personal oft einfach nicht zu stemmen. Dorothee Thielen schätzt, dass es rund 1700 solcher Kinder gibt. Die bleiben dann zwar in den Kitas, nur: „Entweder werden sie verspätet eingeschult oder sie kommen in die Schule, und die Probleme gehen dort weiter“.

Auch Siglinde Spitzer kennt das Betreuungsproblem. Sie leitet in Lichterfelde die Kita der Spastikerhilfe. Dort gibt es neben der normalen Inklusions-Kita noch eine Sonder-Kita mit 16 Plätzen. Sechs speziell geschulte Erzieher arbeiten in dieser Kita für schwerstbehinderte Kinder, Geld für zwei weitere Halbtagskräfte ist da. Siglinde Spitzer sucht Personal, aber selbst wenn sie die Stellen besetzen kann, „reicht das nicht für eine optimale Betreuung“. Die Kinder in ihrer Inklusions-Kita, „die den Förderstatus B haben, würden dann immer noch besser betreut als die Kinder in der Sonder-Kita“.

Aber immerhin, es gibt diese Sonder-Kita im Süden von Berlin. Im Nordosten gibt es keine. Deshalb hat Siglinde Spitzer Anfragen aus der ganzen Stadt. „Viele muss ich ablehnen, weil die Fahrzeit für die Kinder sonst zu lange wäre.“ Sonder-Kitas gibt es bis jetzt vor allem in Charlottenburg und in Lichterfelde.

Deshalb baut die Spastikerhilfe nun in Karow eine Kita mit 100 Plätzen, darunter acht Plätze für schwerstbehinderte Kinder. Damit löst sich zumindest für einige Eltern ein erhebliches Problem. Die wenigsten haben ja so ein Glück wie diese Familie aus Hellersdorf, die ihr schwerstbehindertes Kind jeden Tag 90 bis 120 Minuten pro Weg nach Lichterfelde zur Spastikerhilfe gefahren hatte. „Dem Kind hatte das Autofahren Spaß gemacht“, sagt Siglinde Spitzer, „da war das kein Problem.“ 18 Monate lang absolvierten die Eltern die zeitraubenden Fahrten. Dann kam ihr Kind regulär in die Schule.

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