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Spielerisch lernen. Auch im Sandkasten mischen sich die Sprachen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Berlin-Lichtenberg: „Ri, ra, rutsch“ beim vietnamesischen Mondfest

Bilinguale Kitas sind in Berlin keine Seltenheit. Deutsch-vietnamesische Angebote schon. Ein Besuch in Lichtenberg.

Die Kontrahenten trennt nur ein halber Meter. Hung lauert links, Duc rechts. Sie fixieren sich aus schmalen Augen wie zwei Revolverhelden auf einer staubigen Straße im Wilden Westen. Dann, wie auf Kommando, preschen beide los. Mit aller Kraft, zu der Dreijährige fähig sind, rammen sie ihre Bobby-Cars.

Drei Sekunden nach dem Knall steht Sylvia Krautwald neben ihnen, das war zu erwarten. Sie ist die Leiterin der Kita „An der alten Kastanie“, sie muss die Regeln festlegen. Also sagt sie mit strengem Blick: „Bitte nicht, die Autos gehen kaputt.“ Duc und Hung sind Vietnamesen, Krautwald spricht deutsch, kein Problem. Sie wird verstanden.

Ein paar Meter weiter, unter den Ästen einer riesigen Kastanie, glättet Thuy, das Mädchen mit den glänzenden schwarzen Haaren, sorgfältig Sand in ihrem Förmchen. Dann streckt sie das Kunstwerk mit stolzen Kommentaren zu Leon. Thuy redet vietnamesisch, Leon, der Dreijährige, ist Deutscher, kein Problem. Er versteht Thuy schon.

Viele Vietnamesen sprechen zu Hause deutsch

Alltagsszenen in einer zweisprachigen Kita. Nur ist die Kita in diesem denkmalgeschützten Backsteinhaus und mit der 100 Jahre alten Kastanie, deren mächtige Äste fast den ganzen Hof überspannen, eine Besonderheit. Es ist die einzige deutsch-vietnamesische Kita, die es in Berlin gibt. Und natürlich liegt sie in Lichtenberg, in dem Bezirk, in dem es eine große vietnamesische Community gibt. Und hier besuchen vietnamesische Eltern die Sprachschule des Trägers „Gemeinnützige Gesellschaft für Arbeit, Bildung und Wohnen“, der eines Tages beschloss, eine deutsch-vietnamesische Kita einzurichten. Als passgenaue Lösung. So etwas gab es ja noch nicht.

Und so verteilen sich in der Kita „An der Alten Kastanie“ zwischen Gemüsegarten, Sandkasten mit der Matschepampe, Schlafzimmern, Spiel- und Essensräumen 48 deutsche und 48 vietnamesische Kinder. Sylvia Krautwald hat sie in fünf Gruppen aufgeteilt, jede hat zwei deutsche Erzieherinnen und eine vietnamesische Betreuerin. Die Vietnamesinnen sind Quereinsteigerinnen, sie qualifizieren sich parallel zur staatlich anerkannten Erzieherin.

„Viele vietnamesische Eltern möchten, dass ihre Kinder wieder Vietnamesisch sprechen und traditionelle Tänze und Gesänge lernen“, sagt Sylvia Krautwald. Vietnamesisch sprechen? Hört sich komisch an: Das könnten sie doch zu Hause. Tun sie aber nicht. „Wir haben eine Generation von Vietnamesen, die sind so gut integriert, dass sie auch zu Hause viel Deutsch reden.“ Andere Eltern, vor allem deutsche, meldeten ihre Kinder an, weil sie überhaupt einen Kitaplatz wollten. Denen muss Sylvia Krautwald erst mal das Kita-Konzept erklären.

Wer in einer Berliner Kita arbeitet, muss ausreichende Deutschkenntnisse nachweisen.
Wer in einer Berliner Kita arbeitet, muss ausreichende Deutschkenntnisse nachweisen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Dabei ist es relativ einfach: „Wir wollen, dass die Kinder beide Sprachen lernen und eine neue Kultur erfahren“,sagt die Kita-Leiterin. Wer zweisprachig aufwächst, der lernt eine dritte Sprache leichter, das ist erwiesen. „An der alten Kastanie“ vermischen sich erst mal zwei Sprachen. Die Erzieherinnen reden in ihrer jeweiligen Muttersprache, die Kinder antworten in der gleichen Sprache. Das bedeutet aber auch, dass die Kinder bei Bedarf in Sekundenschnelle zwischen Deutsch und Vietnamesisch wechseln – so wie in allen bilingualen Kitas.

Es ist jetzt elf Uhr, im Essensraum sitzen 20 Kinder vor ihren Tellern. Sie haben sich an den Händen gefasst und starren auf Gaing. Die vietnamesische Erzieherin sagt in ihrer Sprache rhythmisch einen Tischspruch. Drei Meter weiter hebt Moira Voßloh eine Schüssel hoch. Dann verkündet Gaings Kollegin auf Deutsch: „Heute gibt es Kuskus.“

Essen ist natürlich ein Thema. Vietnamesen essen zum Frühstück gerne Suppen. Geht hier aber nicht, weil die Kita nicht selbst kocht, sondern das Essen geliefert bekommt. Die vietnamesische Essens-Note wird dann zumindest am Donnerstag gesetzt. Da gibt’s exotische Früchte und Klebereis, zubereitet von einer vietnamesischen Küchenkraft.

Die Eltern haben hohe Erwartungen

Später sitzt Sylvia Krautwald auf einer Bank im Hof, beobachtet das Gewusel unter der Kastanie und zeigt auf vier Kinder. „Ich freue mich immer, wenn Kinder in einer gemischten Gruppe zusammenstehen und Deutsch reden. Sind die deutschen Kinder dann weg, reden die vietnamesischen Kinder weiter Deutsch.“

Dieser Punkt ist den vietnamesischen Eltern besonders wichtig, weil sie wollen, dass ihre Kinder sich gut integrieren und später in der Schule keine Probleme haben: Vietnamesische Schüler sind bekannt für ihren Fleiß, oft haben sie die besten Noten und von allen Migrantengruppen die mit Abstand höchste Abiturientenquote – womit sie die hohen Erwartungen ihrer Eltern erfüllen.

Mitunter muss Krautwald diese Erwartungen aber auch dämpfen – etwa wenn sie mit zu schnellen Fortschritten in der Sprache ihrer zwei- oder dreijährigen Kinder rechnen. „Sie sind etwas ungeduldig“, sagt Krautwald. Sie muss ihnen dann erklären, dass die Kinder zwar gut Deutsch verstehen, aber dass sie halt erst mal lieber Vietnamesisch reden, das ist normal. Erst beim Sommer-, Tee- oder Mondfest, wenn die Kinder begeistert deutsche Lieder singen, erkennen die Eltern, wie gut ihre Kinders schon in der Zweitsprache sind. „Dann sind die Mütter und Väter mächtig stolz“.

„Das Sprachfenster ist bis zum dritten Lebensjahr weit offen“

Die Kita funktioniert immer besser. Man muss ja nur die Tür eines Ruheraums aufmachen, dann hat man den Beweis dafür. Die Kleinsten liegen und schlafen hier, während viele Zwei- und Dreijährige auf dem Hof spielen. Dass schon die Kleinsten angemeldet werden, ist ein Erfolg. Es ist das Zeichen: Die Eltern haben Vertrauen in die Einrichtung. In der Anfangsphase der Kita waren die Kinder bei der Anmeldung nämlich noch vergleichsweise alt. Jetzt kommen schon kleine Geschwisterkinder.

Und weil die Kinder so früh in der Kita auftauchen, lernen sie problemlos beide Sprachen. „Das Sprachfenster ist bis zum dritten Lebensjahr weit offen“, sagt Sylvia Krautwald. Wenn sie die Kita verlassen, können sich die Kinder zumindest in der deutschen und vietnamesischen Alltagssprache unterhalten. „Sie lernen auch vietnamesische Buchstaben und können sehr gut vietnamesisch zählen“, sagt die 58-Jährige. Und gleichzeitig sind sie eben so vertraut mit dem Deutschen, dass sie ohne nachzudenken losplappern.

Irgendwann gibt’ wieder einen Knall, und dann heult Duc los. Hung hat wieder seinen Boby-Car gerammt, diesmal unabsichtlich. Duc fliegt in den Sand, und Hung sagt sofort schuldbewusst: „Entschuldigung.“ Auf deutsch.

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