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Der Appell von Ernst Reuter blieb nicht ungehört.

© picture-alliance / akg-images

„Schaut auf diese Stadt“: Als Ernst Reuter die „Völker der Welt“ beschwor

Ernst Reuter erfand den Einheitsfahrschein im Berliner Nahverkehr. Aber es war ein anderer historischer Moment, der den SPD-Politiker unvergesslich machte.

Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

Es ist diese Stimme, die im Gedächtnis bleibt. Laut, trotzig, krächzend, überdreht, als müsste sie jeden der 300.000 Menschen vor dem Berliner Reichstagsgebäude auch ohne Mikrofon erreichen. „Ihr Völker der Welt“, schleuderte Ernst Reuter an diesem Septembertag 1948 heraus, „ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien, schaut auf diese Stadt! Und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt!“

75 Jahre später hallen die Worte des SPD-Politikers und damaligen Berliner Oberbürgermeisters nach. Als im vergangenen Jahr russische Truppen in die Ukraine einmarschierten, nutzte ein Spendenaufruf Reuters historische Rede aus dem Kalten Krieg.

Auch der Journalist Joachim Jauer, der Reuters Rede als Knirps im Nachkriegs-Berlin erlebt hatte, schlug diesen gedanklichen Bogen. „Damals Berlin – heute Kiew? Charkiw? Mariupol!?“, schrieb Jauer nach Beginn des Ukraine-Kriegs. Wieder diese schreckliche Angst vor Bomben und Soldaten. „Welch' Wahnsinn anno 2022 mitten in Europa.“

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Dabei wirkt der 9. September 1948 ziemlich weit weg. Deutschland hatte nach der NS-Diktatur und einem verbrecherischen Weltkrieg drei Jahre zuvor kapituliert. Berlin zerbombt, die Menschen ohne Perspektive – und schon wieder eine neue Krise. Im Frühsommer 1948 hatte die Sowjetunion den von USA, Großbritannien und Frankreich verwalteten Westteil Berlins abgeriegelt.

Die Westmächte reagierten mit einer Luftbrücke. Nahrung, Verbrauchsgüter und Kohle für zwei Millionen Menschen, alles per Flugzeug nach Westberlin, das als Insel mitten in der sowjetisch besetzten Zone lag. Was für eine Idee.

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Dem trauten offenbar auch Reuter und die Berliner nicht ganz. Lasst uns jetzt bloß nicht hängen, so lässt sich sein Appell übersetzen: „Völker der Welt! Tut auch ihr eure Pflicht und helft uns in der Zeit, die vor uns steht, nicht nur mit dem Dröhnen eurer Flugzeuge, nicht nur mit den Transportmöglichkeiten, die ihr hierherschafft, sondern mit dem standhaften und unzerstörbaren Einstehen für die gemeinsamen Ideale, die allein unsere Zukunft und die auch allein eure Zukunft sichern können.“

Die Appelle Richtung Westen spickte Reuter mit Attacken Richtung Osten – gegen den „russischen Bären“ mit seinen „lügenhaften Parolen“ und gegen die „erbärmlichen Kümmerlinge“ der im Osten gegründeten Einheitspartei SED.

Dabei war Reuter als junger Mann selbst Kommunist gewesen. Er kam als Kriegsgefangener im Ersten Weltkrieg nach Russland und stellte sich dort in den Dienst der Revolutionäre, als Volkskommissar an der Wolga. Sein Vorgesetzter: der spätere sowjetische Diktator Josef Stalin. So berichtet es der Historiker Erik Schneeweis, der gerade an der Universität Rostock über Reuter promoviert.

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland war Reuter zunächst in der KPD, wechselte aber letztlich mit einer Station in der USPD wieder in die SPD. Schon in den 1920er Jahren übernahm er in Berlin eine zentrale Rolle: Als Stadtrat für das Verkehrswesen baute den öffentlichen Nahverkehr aus, integrierte Bahnen und Busse zu einem riesigen Netz.

Reuter hätte auch als Erfinder des Einheitsfahrscheins und der Berliner Verkehrsbetriebe BVG in die Geschichte eingehen können. Oder als widerständiger Linker, den die Nazis ins Konzentrationslager brachten und der Jahre im Exil in der Türkei zubringen musste. Stattdessen schlug dann an jenem Septembertag 1948 seine große Stunde als gewählter, aber von den Sowjets nicht anerkannter Oberbürgermeister Berlins.

Wer sich Reuters Rede heute anhört und vielleicht an die aktuelle Vertrauenskrise der Demokratie denkt, hat sofort viele Fragen. Wie hat dieser 59-jährige Mann mit Halbglatze 300.000 Menschen vor dem halb zerstörten Reichstagsgebäude begeistert? Woher dieser enorme Rückhalt? Hätte nicht drei Jahre nach dem Untergang des NS-Propagandastaats erst recht alles Vertrauen dahin sein müssen?

„Dieses Freiheitspathos, das Reuter verkörpert hat, hat die Menschen natürlich damals sprachlich mehr angesprochen als heute“, sagt Matthias Oppermann, Leiter der Abteilung Zeitgeschichte bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. Der Sozialdemokrat wirkte nicht nur wegen seines Abstands zum NS-Regime glaubwürdig, sondern als Politikertypus. „Er gehörte zu den Persönlichkeiten, die Prinzipien haben und sie vertreten“, meint Oppermann. Dazu kamen die äußeren Umstände, diese extrem bedrohliche politische Krise.

Es sei „ein sehr einfaches, aber sehr tief sitzendes Vertrauen“ der Menschen in Reuter gewesen, sagte später einer seiner Nachfolger im Amt des Regierenden Bürgermeisters, der SPD-Politiker Klaus Schütz. Ein weiterer Amtsnachfolger, der SPD-Politiker Michael Müller, meinte 2018: „Ernst Reuter spricht nicht zu den Menschen. Ernst Reuter spricht für sein Publikum – er spricht den Menschen aus der Seele.“

Das machte Reuter zum Star. 1950 war der Kommunalpolitiker auf dem Titel des US-Magazins „Time“. Nach seinem Tod am 29. September 1953 stellten viele für ihn Kerzen ins Fenster.

Schon zwei Tage später wurde ein zentraler Platz nach ihm benannt, der Ernst-Reuter-Platz in Charlottenburg. Ein Jahr darauf bekam er eine eigene Gedenkbriefmarke. Auch all das ist für seine heutigen Nachfolger in der Politik schwer vorstellbar.

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