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Gruseln mit dem Grafen. Auch Hitchcocks „The Lodger“ von 1926, eine von Jack the Ripper inspirierte Geschichte, hat Stephan von Bothmer im Programm.

©  Thilo Rückeis

Neue Töne für Opas Kino: Stephan von Bothmer vertont Stummfilme

Alte Kintopp-Musik nur nachklimpern? Niemals. Mit seinen Kompositionen erfindet Stephan von Bothmer zugleich die Filme neu. In dieser Woche beginnt sein Programm im Wintergarten.

Tasten? Warum denn nur Tasten? Ginge doch zur Not sogar ohne. Weit beugt sich Stephan Graf von Bothmer über den geöffneten Klangkörper – C. Bechstein, schwarzglänzend lackiert. Mit der linken Hand, immerhin, hämmert er einen tief dröhnenden Rhythmus in gewohntem Schwarz-Weiß, die rechte aber bearbeitet mit einem kleinen Metallrohr emsig die Saiten. Sie sirren, jammern, fiepen – Sphärenklänge, kurz bevor das Universum auseinanderbricht. Der arme Flügel!

„Keine Sorge, dem passiert nichts.“ Stephan von Bothmer beruhigt, verweist auf seine Erfahrung mit dieser Art, ein Tasteninstrument zu traktieren, und hat sich ohnehin, bevor er die ungewohnte Spieltechnik ausprobierte, von Klavierbauern versichern lassen: Da passiert nichts. Aber jetzt ist er bei der Probe seiner Künste in Fahrt geraten, kramt in der Tasche, in der er weitere Gerätschaften bereithält, um einem Flügel seltsame Töne zu entlocken. Zwei Hölzchen zum Beispiel, dafür an den Seiten mehrfach eingekerbt, um sie an diesen Stellen zwischen zwei Saiten klemmen zu können. Kuhglocke gefällig? Walgesänge? Bitte sehr.

Hat eben auch seine spaßigen Seiten, so ein Leben als Stummfilmmusiker. Der düstere Herr oben auf der Leinwand im Varieté Wintergarten verzieht dennoch keine Miene, kann er ja auch nicht als projizierte Standbildfigur. Ivor Novello hieß er, 1926 Titelheld und Star in „The Lodger. A Story of the London Fog“, einem von Jack the Ripper inspirierten Gruselfilm. Der dritte Hitchcock, aber der erste, der diesen Namen verdient und für den „Master of Suspense“ zugleich „der erste Film, in dem ich das anwenden konnte, was ich in Deutschland gelernt hatte“. Darunter in Babelsberg, wo Hitchcock Murnau über die Schulter gucken konnte.

„The Lodger“ ist so gesehen die vielleicht spannendste Wiederentdeckung, die Stephan von Bothmer in seiner an diesem Dienstag startenden Reihe von Stummfilmkonzerten zu bieten hat, in der er gleich zweifach an Berliner Traditionen anknüpft. Zu den unverzichtbaren Höhepunkten gehören Filme, die durch Stoff und/oder Produktionsort untrennbar mit Berlin und Babelsberg verbunden sind, so Walter Ruttmanns „Berlin. Die Sinfonie der Großstadt“, Fritz Langs „Metropolis“ und Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu“. Und gezeigt werden sie im Wintergarten, der sich auf die Tradition des gleichnamigen Varietés in der Friedrichstraße beruft. Dort hatten die Brüder Skladanowsky 1895 mit ihrem Bioskop die Filmgeschichte eröffnet.

Ansonsten aber hat es der Pianist nicht so mit der Tradition. Einen Stummfilm mit gewohntem Kintopp-Geklimper begleiten, einem Potpourri bekannter Melodien, die halbwegs zur jeweiligen Szene passen? Geht gar nicht. Die berühmten Filmmusiken von damals noch einmal interpretieren, etwa Edmund Meisels großartige Komposition zu Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“, diese „grausame, triumphierende, hämmernde, scheußliche Musik“, wie es Lion Feuchtwanger in „Erfolg“ beschrieben hat – nein, das will Stephan von Bothmer auch nicht. Beruft sich lieber auf Eisenstein selbst, der den Durchbruch seines Films nicht zuletzt Meisels Musik verdankte und dennoch meinte, jede Generation solle sich ihre eigene Musik zu dem Film schaffen.

Stephan von Bothmer hat das beherzigt und zum Prinzip seiner Arbeit gemacht und schreibt sich die Musik daher lieber selbst. Ein kurzes Zitat, gewiss, das geht, etwa die Marseillaise in einem Film über die Pariser Kommune kurz angespielt und dann weiter zu neuen Klangwelten. „Das neue Babylon“ hieß der Film, entstanden 1929, immerhin mit der Musik von Schostakowitsch. Ein Filmclub der Humboldt-Universität hatte einst um musikalischen Beistand gebeten, und den gab er, ersann eine eigene Musik, interpretierte so den Film neu, dämpfte das Politische der Geschichte, deutete sie um zur Ballade. Nun wurde weniger von der Revolution erzählt, sondern von der Tragik der Liebenden, hier die Kommunardin, dort der Soldat, der den Aufstand niederschlagen muss.

Saitenexperimente. Seinem Flügel entlockt Stephan von Bothmer mittels allerlei Gerätschaften die ungewöhnlichsten Klänge. Die Palette reicht von Kuhglocken bis Walgesängen.

© Thilo Rückeis

„Die Filme verändern sich mit der Musik“, hat Stephan von Bothmer erkannt und sieht in seiner Arbeit, der neuen Interpretation alter Stoffe, auch eine Möglichkeit, die Filme von damals heutigem Publikum wieder nahezubringen, ihnen eine verdiente Renaissance zu bescheren. „Stummfilme sollten wieder einen normalen Platz unter den Dingen erhalten, die einem einfallen, wenn man abends was unternehmen will“, beschreibt es der Stummfilmmissionar.

Damit hat er sich nicht allein das Wohlwollen von Willy Sommerfeld erspielt, dem meisterhaften, 2007 gestorbenen Stummfilmpianisten, der ihn sogar zum Nachfolger erklärt hatte. Stephan von Bothmer hat auch immer mehr Menschen in seine Konzerte gelockt, seit er 2004 seine eigene Agentur und die Veranstaltungsreihe „Stummfilmkonzerte“ ins Leben rief. Rund 80 000 Besucher hat er seitdem in die Stummfilme gelockt, von denen – er weiß das durch verteilte Umfragezettel – gut die Hälfte jünger als 35 war. Um die halbe Welt ist er mit seinem Programm gereist, hat dabei keineswegs nur die berühmten Klassiker gezeigt, sondern auch Unbekanntes.

„Der Stummfilm hat wieder eine Präsenz, die er vorher nicht hatte“, freut sich Stephan von Bothmer und rechnet das auch seiner Arbeit an. Wie diese begonnen hat? Mit einem Klavier, gewiss, einem besonderen. Die Großmutter, die lange in Afrika lebte, hatte es von dort mitgebracht, ein Spielzeug, das den kleinen Stephan magisch anzog, immer wieder zu Klimpereien verlockte. „Geistermusik“, so nannte er das. Eine Spielerei mit nachhaltiger Wirkung: „Diese Geistermusik mache ich eigentlich immer noch.“

Stephan von Bothmers „Stummfilmkonzerte“ im Wintergarten, Potsdamer Straße 96, Tiergarten, beginnen an diesem Dienstag, 20 Uhr, mit einem „Stummfilm-Slam“. Gezeigt werden Filme von Stan & Olli, Harold Lloyd und Charley Chase sowie „Mysterien eines Frisiersalons“ mit Karl Valentin und Liesl Karlstadt (in der Regie von Erich Engel und Bertolt Brecht). Das Programm läuft bis 1. April, Hitchcocks „The Lodger“ ist am 7. Januar zu sehen. Infos: www.wintergarten-berlin.de, www.stummfilmkonzerte.de und Tel. 588 433.

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