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Der Komponist und Stummfilmpianist Stephan Graf von Bothmer.

© Mike Wolff

Kiezspaziergang: Vor dem Stadtrand geht’s weiter

Der Stummfilmpianist Stephan Graf von Bothmer findet in seinem Kiez die versteckten, ungezähmten Orte, die die wilde Aura Berlins ausmachen.

Der Balkon hängt wie ein Krähennest über dem Gehweg, winzig und kaum nutzbar. Aber er ist eine Rarität in der Lützowstraße, und Stephan Graf von Bothmer kann mit seiner Hilfe leicht zeigen, wo er wohnt: Schräg gegenüber vom legendären „Kumpelnest“, dritter Stock.

Sein Haus, das älteste in der Straße, hat nicht nur einen feudal verspiegelten Eingang, sondern eben auch eine asymmetrisch platzierte Reihe von kleinen Erkern, auf deren Spitze jener Balkon sitzt. Bothmer, international bekannt als Stummfilmpianist, wohnt hier aber nicht in der Erwartung aufkeimender Hipness, sondern ist schon um das Jahr 2000 hergezogen, als die Wohnung heruntergekommen und die Gegend billig war.

Die Eckdaten des 46-jährigen gebürtigen Niedersachsen weisen schon darauf hin, dass er an dieser Gegend nicht in erster Linie die Absturzmöglichkeiten schätzt, die das Bar- und Partyleben bietet. Er hat Familie, zwei Kinder, und verbringt fast 100 Abende im Jahr auf Auftritten und Tourneen. Freunde – „die wohnen alle schick am Hackeschen Markt und wundern sich“ – haben ihn schon öfter gefragt, weshalb er genau dort lebt, in einer wegen des nahen Drogenstrichs ziemlich verrufenen Gegend.

Hinterhofoase statt Drogenstrich

Aber er schätzt die zentrale Lage, zumal er um die Ecke über dem „Wintergarten“ auch gleich noch ein Büro gemietet hat, von dem aus er mit einer Mitarbeiterin seine Programme steuert. Auch die lässige „Brasserie Lumières“ nebenan, einen der vielen gastronomischen Neuzugänge hier, schätzt er.

Damit ist sein Blick auf den Kiez rund um die nördliche Potsdamer Straße auch schon klar. Für Bothmer reicht er von der Potsdamer Brücke im Norden bis zur U-Bahn an der Bülowstraße, und wer mit ihm um die Häuser zieht, der bemerkt auch seinen Drall zum grünen Gleisdreieck, weg von den Niederungen des nahen Drogenstrichs.

Eine kleine Hinterhofoase an der an der Potsdamer Straße.
Eine kleine Hinterhofoase an der an der Potsdamer Straße.

© Mike Wolff

Dennoch setzt er eine erste Zäsur gleich neben dem Wintergarten, dort, wo der Unterhaltungspalast sich gerade eine ehemalige Backstube einverleibt hat. Gleich daneben geht es durch eine Toreinfahrt auf einen stilgerecht restaurierten Hinterhof mit Wasserbecken und Quellnymphe, eine von mehreren grünen Inseln, die sich hinter den geschäftigen Fassaden verbergen. Als Stummfilmexperte mit einem Fundus von rund 950 Filmen hat Bothmer die Gegend kulturell gescannt, erzählt zum Beispiels vom Schicksal des Ufa-Stars Harry Piel, der hier gearbeitet hat, und biegt dann auch schon nach Osten in die Pohlstraße ein.

Dort nämlich hat er in den Nuller Jahren seine Open-Air-Konzerte mit Film abgehalten. Bothmers Büro lag unter der Rampe, die die U-Bahngleise aus dem Tunnel nach oben und mitten durch ein Wohnhaus führt, „die spielte ja auch im Film ,Sinfonie der Großstadt’ eine wichtige Rolle.“

Auf einem damals noch brachliegenden Grundstück zur Straße hin saßen die Zuschauer, projiziert wurde auf die Seitenwand der Rampe. Noch heute ist der Umriss der Leinwand gut zu erkennen, aber auf dem Gelände vorn steht längst ein Wohnhaus, dessen seltsame Metallgitter an der Fassade an eine wohl nie begonnene Begrünung erinnern. Unter der Rampe wohnen immer noch Künstler, dies ist einer der versteckten, ungezähmten Orte, die die wilde Aura Berlins ausmachen.

Zwischen Gentrifizierung und Geheimtipp

Auch ein Spielplatz steht hier – Anlass für den Pianisten, in die Rolle des Familienmenschen zu schlüpfen. Hier hat er als Beiratsmitglied zusammen mit anderen Eltern für die Gestaltung des Geländes gekämpft. Damals lag die Ecke am Rande des Nichts, denn dahinter lag nur noch die Dennewitzstraße mit ihren Gewerbebrachen, die heute, frisch bebaut, je nach Blickwinkel als Vorzeigestück oder Menetekel der Gentrifizierung gilt. Bothmer freut sich über die neue Nachbarschaft, denn er beobachtet, dass die neuen Mieter das Abrutschen der Gegend gestoppt haben, was nun auch der sozialen Durchmischung der Kitas und Schulen zugute komme.

Ein Glück ist für ihn aber vor allem die Erschließung und Begrünung des früher unzugänglichen Bahngeländes. Denn hier beginnt der neu angelegte Park mit seinem fröhlichen Gewusel, und es sind nur ein paar Schritte bis zum Bahnhof Gleisdreick, wo das „Brlo Brwhouse“ in seine Schiffscontainern unzählige Gäste anzieht.

Aber Bothmer hat noch einen Geheimtipp: Inmitten der letzten Schrebergärten liegt das „Café Eule“, eigentlich nur eine Bude mit einem improvisierten Vorgarten, rauer Berliner Charme à la Neunziger, der sich hier auf Dauer eingerichtet hat. Hier, sagt Bothmer, würde er, wärmeres Wetter vorausgesetzt, Gäste hinführen, um ihnen zu zeigen, was seinen Kiez ausmacht: Oben das pausenlose Rumpeln der Züge auf sich kreuzenden Brücken, unten entspannte Lebenskunst im Grünen - und nicht weit ist auch noch das große Beachvolleyball-Gelände. Wer die Gegend nur von oben aus der U-Bahn kennt, der kennt sie nicht.

Zurück. Verblüffend, wie ruhig die so verrufene Kurfürstenstraße an ihrem östlichen Ende ist, in Sichtweite der verkehrsumtosten Potsdamer mit dem XXL–Sexshop und doch weit weg davon. Hier liegen Wohnungen, Gewerbe, viele Räume im Souterrain, meist verrammelt, als Lager genutzt. Die städtische Boheme alter West-Berliner Zeiten hat sich längst verzogen, hier wohnt oder arbeitet man, ohne viel Aufhebens drum zu machen.

Wir kehren zurück zur Lützowstraße und zu Bothmers Wohnhaus. Ja, sagt er, die Kinder werden größer, die Wohnung ist zu klein, es wird wohl bald mal ein Umzug fällig sein. Andere Gegend? „Nein, uns gefällt es hier sehr gut.“ Und ein Leben draußen am Stadtrand kann er sich sowieso nicht vorstellen.

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