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Sie revolutionieren das Fahrrad: Peter Hanstein von Geos, Jörg Schindelhauer von Schindelhauer Bikes und Harald Busack von Pedalpower.

© Gestaltung: Tagesspiegel/Anke Dessin/Fotos: Stefan Hähnel, freepik

E-Bikes von der Spree: Wie Berlin die Fahrradszene elektrisiert

Drei Berliner Radschmieden gehen mit ganz eigenen elektrisierten Modellen an den Start. Dass sie sich dafür die Hauptstadt ausgesucht haben, ist kein Zufall.

Von Lars Klaaßen

Das ganze Quartier liegt wie auf einer lebensgroßen Modelleisenbahnplatte, vom Rest der Stadt durch Gleisstränge getrennt, die man an nur fünf Brücken unterqueren kann. Entlang der Kopfsteinpflasterstraßen die Stuckfassaden von Wohnhäusern aus dem späten 19. Jahrhundert, dahinter Höfe mit Remisen samt kleinen Werkstätten. Ein Echo des Dampfzeitalters ist noch vernehmbar in der Victoriastadt, nicht weit vom Ostkreuz, doch davon soll man sich nicht täuschen lassen.

Denn hier auf der Pfarrstraße nimmt die Mobilität der Zukunft bereits Form an: „Wir haben die Uni Magdeburg dabei unterstützt, ein autonom fahrendes Lastenrad zu bauen, das per App gerufen werden kann“, berichtet Pedalpower-Gründer Harald Busack. „Eine Probefahrt hat das Fahrzeug im Sommer 2022 unter Beobachtung von politischer Prominenz erfolgreich absolviert, das war richtiges Ballett in Magdeburg.“

Harald Busack, Gründer von Pedalpower.

© Stefan Hähnel

Ziel des Forschungsprojekts „AuRa – Autonomes Rad“ ist der Prototyp eines Verleihsystems mit dreirädrigen Velos. Die Räder sollen sich selbstständig und rücksichtsvoll auf ausgewiesenen Radwegen und gemäß der Straßenverkehrsordnung bewegen. Einzelhandelsketten könnten sich ganze Flotten davon für ihre Kunden anschaffen. Die Idee: Wer etwas Größeres mitnimmt, radelt die Einkäufe mit elektrischer Unterstützung nach Hause, das Gefährt findet dann von allein wieder zurück.

Vom DJ-Pult bis zur ausklappbaren Theaterbühne

Pedalpower hat das Fahrgestell für AuRa gebaut. Mit Lastenrädern und E-Bikes kennt man sich dort aus. Kurz nach dem Mauerfall hat der Laden samt Werkstatt in der Pfarrstraße eröffnet. „Unser Schwerpunkt lag neben Tandems schnell auch bei Transporträdern, die waren damals noch völlig exotisch“, sagt Busacks Mitgründer Michael Schönstedt. „Erst in den 2000er-Jahren wurden dann E-Antriebe für Fahrräder interessant und wir haben uns zunehmend damit befasst.“

Als erstes E-Bike baute Pedalpower den „Long Harry“, eine Neuinterpretation des „Long John“, ein Klassiker, der Ende der 1920er in Dänemark entwickelt worden ist. Charakteristisch ist die große Ladefläche vor dem Fahrer. Der lange Radstand und die geringe Breite machen das Rad zum perfekten Stadtflitzer.

Insbesondere bei Lastenrädern erweitert der E-Antrieb die Einsatzmöglichkeiten enorm. Das 18-köpfige Pedalpower-Team baut Sonderanfertigungen nach Maß, vom Velo mit DJ-Pult bis hin zur ausklappbaren Theaterbühne. „Solche Spezialaufträge sind bei uns Alltag“, sagt Schönstedt.

Kreative Werkstatt: Kurz nach dem Mauerfall begann Pedalpower als Fahrradladen in Lichtenberg. Heute baut das 18-köpfige Team dort Sonderanfertigungen und Flottenbestellungen.

© Stefan Hähnel

Die Hälfte der Produktion nähmen Bestellungen für den Flottenbetrieb ein, weil das immer gleich größere Stückzahlen seien. Die Nachfrage gleicht manchmal einer Kettenreaktion: „Nachdem eine Baumarktkette uns beauftragt hatte, bestellte kurz darauf eine zweite auch Räder bei uns.“ Über die Erfahrungen damit hatte sich Pedalpower für das Forschungsprojekt AuRa qualifiziert.

Einen gewissen Stolz merkt man dem Gründer auch bei einer anderen Sparte an: Tandems. In den Büroräumen kann man die Fotos von Eigenentwicklungen bestaunen, die bei großen Radsportveranstaltungen Erfolge verzeichnet haben. Zwölf verschiedene Modelle hat Pedalpower im Angebot. „Wir haben den Tandemmarkt aufgerollt.“

Die Einsatzmöglichkeiten sind auch hier breit gefächert: Kinder, Ältere und Blinde können mitradeln. Und dass man zu zweit auf einem Tandem schneller ist als auf zwei einzelnen Velos, macht Tandems als Reisegefährte attraktiv. Es gibt auch ein trennbares Modell, das sich besser im Gepäck unterbringen lässt.

Ordnung muss sein: Die Werkzeuge bei Pedalpower hängen gut sortiert an der Wand.

© Stefan Hähnel

Muskelkraft spielt bei den Lastenrädern und Tandems von Pedalpower trotz des Namens nur noch bedingt eine Rolle. Mittlerweile ist die Produktpalette fast durchgängig elektrifiziert, „zu 90 bis 95 Prozent“, schätzt Schönstedt.

Der Anteil von E-Rädern steigt

Dass insbesondere bei Lastenfahrrädern E-Antrieb gefragt ist, liegt nahe. Beim Verkauf ist der elektrifizierte Anteil von 2021 auf 2022 laut Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) um über ein Drittel angestiegen, von 120.000 auf 165.000 Stück. Damit hängen sie die Cargobikes ohne E-Antrieb ab, denn deren Verkäufe stiegen nach einem rasanten Vorjahr nur leicht um 800 Stück, auf 47.800.

Der Anteil von E-Rädern am Gesamtmarkt kletterte von 43 Prozent auf 48 Prozent, dies jedoch vor allem, weil die Verkäufe von Rädern ohne Motor um rund 300.000 Stück sanken. Von den rund 4,6 Millionen Velos, die 2022 in Deutschland verkauft worden sind, werden 2,2 Millionen elektrisch unterstützt. Der Verband geht davon aus, dass in diesem Jahr erstmals mehr E-Bikes als Fahrräder verkauft werden. Insgesamt, so Schätzungen des ZIV, rollen knapp 83 Millionen Räder auf deutschen Straßen, etwa 9,8 Millionen davon elektrisch unterstützt.

Dieser Artikel stammt aus der neuen Ausgabe von „Tagesspiegel unterwegs Radfahren“ (10,80 Euro). Das Magazin bietet auf 124 Seiten Einblicke in die Fahrradszene und empfiehlt 16 spannende Radtouren in Berlin, Brandenburg und Umgebung.

© Tagesspiegel/Magazin/Tagesspiegel/Magazin

Dem E-Bike wenden sich mittlerweile neue Zielgruppen zu. Diese sind laut ZIV jünger und sportlicher orientiert. Indizien dafür liefern die Verkaufszahlen einzelner E-Bike-Typen: Lange lagen City- und Trekking-Bikes bei den Stückzahlen auf den Spitzenpositionen. In den vergangenen Jahren holten Mountainbikes auf, 2022 landeten sie mit 38 Prozent Anteil auf Rang 1.

Fahrräder statt Sportwagen: Schindelhauer Bikes aus Kreuzberg

Aus der sportlichen Ecke kommen auch Schindelhauer Bikes zum E-Antrieb. Die ersten Modelle waren klassische Fixies. Späteren Entwürfen sieht man den minimalistischen Anspruch ebenfalls an, schlankes Retro-Design aus einem Guss verbindet ihre Formensprache. „Am Anfang war der Zahnriemenantrieb“, erzählt Firmengründer Jörg Schindelhauer. „Um den herum haben wir alle unsere Räder entwickelt.“

Jörg Schindelhauer, Gründer von Schindelhauer Bikes.

© Stefan Hähnel

Schon während des Maschinenbaustudiums in Magdeburg habe ihn dieses Bauteil fasziniert. „Doch ursprünglich wollten wir als Team von vier Kommilitonen einen Sportwagen entwickeln.“ Aus dem Projekt wurde vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 nichts. Stattdessen machten die vier sich daran, Zahnriemen an „Bio-Bikes“ zu bringen – wie Schindelhauer die Ausführungen ohne E-Antrieb nennt.

Den Schritt zur Elektrifizierung haben wir vor einigen Jahren intensiv diskutiert.

Jörg Schindelhauer, Gründer von Schindelhauer Bikes.

So wurde aus der GmbH des Teams in Magdeburg statt einer Auto- eine Fahrrad-Manufaktur. Wegen privater Kontakte zog es die Jungs 2013 nach Berlin. „Wir sind hier in der Stadt mittlerweile gut vernetzt“, sagt Schindelhauer, „auch dank unserer 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.“ Man tausche sich mit anderen Akteuren eng aus, sei offen untereinander. „Jede Marke besetzt eine bestimmte Nische und kann eine spezifische Kundschaft bedienen.“

„Am Anfang war der Zahnriemenantrieb“, sagt Jörg Schindelhauer. „Um den herum haben wir alle unsere Räder entwickelt.“

© Stefan Hähnel

Auch das politische Leben weiß man zu schätzen, die Firma engagiert sich beim ADFC als Business-Club-Mitglied: „Changing Cities, Radentscheid, es ist toll, da dran zu sein.“ Schindelhauer Bikes sitzt im alten Kreuzberger Bezirk SO 36. Im dritten Stock des Gewerbehofs werden die neuen Modelle entworfen, im Erdgeschoss befinden sich Werkstatt und Materiallager. Dort an der Decke hängt das Chassis des Sportwagen-Prototyps.

Wie es sich für Maschinenbauer gehört, steht technische Innovation im Mittelpunkt der Velo-Entwürfe. Der Zahnriemenantrieb hat gegenüber einer Kette den Vorteil, dass er wartungsfrei ist. Der Riemen muss zugleich zugsteif und geschmeidig sein. Dafür sorgt eine Verstärkung mit Kohlefaser, so wie es auch Harley Davidson macht.

Anders als eine Kette lässt der Riemen sich nicht öffnen. Ein erstes Patent, um den Riemen ein- und ausbauen zu können, haben Schindelhauer Bikes mit einer speziellen Art der Öffnung im Rahmen angemeldet. Ein zweites Patent, um den Zahnriemen zu spannen. Den Spaß am Entwurf neuer Lösungen erkennt man oben im dritten Stock: Dort stehen Fahrradrahmen aus Modelliermasse und 3D-Drucke, Entwürfe für künftige Modelle.

Schindelhauer setzt auf schlankes Retro-Design: die Vorderleuchte ist im Lenker integriert.

© Stefan Hähnel

Die E-Bikes bestreiten beim Umsatz mittlerweile fast die Hälfte, mit Blick auf die Stückzahl sind sie bei Schindelhauer noch in der Minderheit. „Den Schritt zur Elektrifizierung haben wir vor einigen Jahren intensiv diskutiert“, sagt Schindelhauer. „Die Kunst bestand darin, unsere minimalistische Designlinie mit der Motorisierung harmonisch zusammenzubringen.“ Die 35 Kilometer von seiner Wohnung in Potsdam bis Kreuzberg radelt er mal mit und mal ohne E-Antrieb.

Zweigeteilter Akku, schlanker Rahmen: Geos

Bauchentscheidung: E-Antrieb oder nicht? Diese Frage hat sich Peter Hanstein nie gestellt: „E-Bikes haben mich beim Fahren begeistert. Als Quereinsteiger merkte ich, was sich anders und besser machen ließe.“ So gründete der Geologe 2015 sein Start-up Geos, um ein E-Bike ganz nach seinem Gusto zu entwickeln. „Mein Ziel war ein Allrounder, ich wollte mich auf ein einziges Modell konzentrieren.“

Peter Hanstein, Gründer von Geos.

© Stefan Hähnel

Während Hanstein die Finanzierung in Angriff nahm, holte er sich das nötige Know-how mit den passenden Kompagnons. Der Berliner Fahrraddesigner Florian Häußler konstruierte den Rahmen und die Komponenten. Michael Ruffer, ein alter Freund und Ingenieur an der Universität Würzburg, entwickelte die elektronischen Komponenten wie Motorsteuerung, Akku und Batteriemanagementsystem. Dort in Bayern war bis Ende 2022 auch die Produktion beheimatet.

Kunden kommen zu einer Probefahrt zu uns, hier hat Berlin einen Standortvorteil, weil viele ohnehin ab und zu privat oder beruflich in Berlin sind.

Peter Hanstein, Geos

Zum Jahreswechsel bezog Geos eine Halle im Econopark in Marzahn. Mit Blick auf fast alle Lieferanten nehme man damit zwar einen kleinen Standortnachteil in Kauf, denn die säßen weitenteils in Süddeutschland, so Hanstein: „Aber in Berlin ist es viel einfacher Mitarbeiter zu finden, hier gibt es viele Interessenten.“

Und falls der Einstieg mit einem Ortswechsel verbunden wäre, sei es viel einfacher, jemanden nach Berlin zu holen als beispielsweise nach Würzburg. „Kunden kommen zu einer Probefahrt zu uns, auch hier hat Berlin einen Standortvorteil, weil viele ohnehin ab und zu privat oder beruflich in Berlin sind oder einen Besuch gerne mit einer Sightseeingtour verbinden.“

Besondere Konstruktion: Bei Geos ist der Akku zweigeteilt im Rahmen integriert.

© Stefan Hähnel

Technisch geht Geos mit seinen selbst entwickelten elektronischen Komponenten einen eigenen Weg. E-Bike-Hersteller kaufen die elektronischen Komponenten in der Regel bei Großanbietern von der Stange. „Wir nutzen auch Standardzellen, aber das gesamte Akku-Modul mit Zellhaltern, Platinen und Software ist hausgemacht“, betont Hanstein. „Das hat eine einzigartige Konstruktion ermöglicht, wir konnten den Akku zweigeteilt im Unter- und Oberrohr des Stahlrahmens integrieren.“

Das schlanke Rahmendesign brachte Geos auf der Eurobike 2018 die Auszeichnung „Gold Winner“ ein. Auch bei anderen Details sollte die Optik einem klassischen, zeitlosen Fahrrad entsprechen. Auf ein Display hat Hanstein verzichtet. Die Bedienung beschränkt sich auf einen einzigen Knopf am Lenker. Alles weitere wurde in eine App auslagert.

Vom elektrisch unterstützten Cargobike über das minimalistische City-Rad bis zum Allrounder – die Berliner E-Bike-Schmieden machen es Fahrradfans leicht, ganz selbstverständlich längere Strecken zu fahren, Kisten und Kinder zu transportieren und dabei auch noch Spaß zu haben. Dass sie sich Berlin als Standort ausgesucht haben, ist kein Zufall.

Hier kommen alle zusammen: die fahrradbegeisterten Schrauber, die einfach mal etwas ausprobieren wollen, ein dankbares Publikum, das sich autofrei bewegen will, und die Straßen und Radwege selbst, die nicht nur Verkehrswege sind, sondern auch eine Bühne für die Neuerungen, die hier in der Stadt geplant, gebaut und schließlich genutzt werden.

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