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Die „Demokratielotsen“ beim Mitzwah Day 2019 mit der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Petra Pau, und dem Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster.

© Demokratielotsen e.V. / Enrico Formowitz

Ein Gespräch über Geflüchtete: „Demokratiefördernde Maßnahmen sind dringend notwendig“

Die Denkfrabrik Schalom Aleiku hat das neue Buch „Flucht und Engagement“ vorgestellt. Der Tagesspiegel präsentiert einen Auszug daraus.

| Update:

Die „Denkfabrik Schalom Aleikum“ (www.denkfabrik-schalom-aleikum.de) ist eine Forschungseinrichtung des Zentralrats der Juden in Deutschland. Gefördert von der Integrations- und Antirassismusbeauftragten, Reem Alabali-Radovan, analysiert und erforscht sie gesellschaftlich und politisch relevante Themen, die aus jüdischer, muslimischer und christlicher Perspektive diskutiert werden. Im ersten Buchband der Denkfabrik „Flucht und Engagement. Jüdische und muslimische Perspektiven“ (Verlag Hentrich & Hentrich) beschreiben und analysieren Expertinnen und Experten das Engagement für Geflüchtete wissenschaftlich und in der Praxis. Der Tagesspiegel präsentiert einen Auszug daraus: ein Interview mit Nina Coenen, Hasan Hussein und Sami Alkomi über ihre Arbeit bei Demokratielotsen e.V.

Herr Hussein, könnten Sie sich kurz vorstellen?
Mein Name ist Hassan Hussein. Ich wurde 1967 im kurdischen Teil Iraks in eine muslimische Familie hineingeboren. Im Irak arbeitete ich als Schriftsteller und Journalist. Da meine Frau vom Islam zum Christentum konvertiert war, wurde die gesellschaftliche Situation im Irak problematisch für uns, wir wurden bedroht und mussten unsere Heimat verlassen. 2017 bin ich mit meiner Familie nach Deutschland geflüchtet. Seitdem leben wir in Berlin.

Wie kamen Sie dazu, sich für Geflüchtete zu engagieren?
Ein Grund dafür ist, dass ich im Irak bereits Erfahrungen in der Flüchtlingshilfe gesammelt habe, als ich im Gesundheitsamt der Stadt Al Sulaimaniyah gearbeitet habe. Eines unserer Projekte bestand darin, den Binnenflüchtlingen, darunter auch Jesiden und Christen, die vor dem IS geflohen waren, zu helfen. Wir führten Bildungsprojekte, Gesundheitsprogramme und andere Projekte mit den Flüchtlingen durch. 2017 wurde ich selbst ein Flüchtling und brauchte Hilfe. Das ist schon ziemlich ironisch.

Seit ich nach Deutschland gekommen bin, habe ich mich für einige Vereine engagiert, zum Beispiel für das syrisch- deutsche Projekt „Hiwarat“, das auf Deutsch „Dialog“ bedeutet. Bei einem Expertenkreis für Flüchtlinge, den die Senatsverwaltung für Integration in Berlin veranstaltete, lernte ich 2018 den Verein „Demokratielotsen“ kennen und begann kurze Zeit später, für diesen zu arbeiten. Ziel des Vereins ist es, eine Brücke zwischen der deutschen Gesellschaft und Flüchtlingen zu bauen sowie eine gute Integration der Flüchtlinge in die Gesellschaft zu ermöglichen. Meiner Meinung nach werden viele Projekte dieser Art benötigt, die Flüchtlinge dazu ermutigen und dazu befähigen, als Kulturvermittler und Multiplikatoren in der deutschen Gesellschaft tätig zu werden.

Frau Coenen, Herr Alkomi, Sie beide haben zusammen den Verein „Demokratielotsen e. V.“ gegründet. Könnten Sie kurz erzählen, wie es dazu kam und was Sie dazu motiviert hat?
Der Verein „Demokratielotsen“ entwickelte sich aus dem Projekt „R.future-TV – Flüchtlinge für Demokratie und Menschenrechte“, das 2015 von uns gegründet wurde. Als damals viele Menschen aus Samis alter Heimat Syrien nach Deutschland kamen, gingen wir in Flüchtlingsheime, um mit den BewohnerInnen ins Gespräch zu kommen und zu erfahren, mit welchen Vorstellungen sie nach Deutschland gekommen waren.

Damals lag Samis eigene Flucht Jahrzehnte zurück. Als Neunjähriger war er 1990 mit seiner Familie aus der Stadt Al-Hasaka in Syrien nach Westfalen in Westdeutschland geflohen, wo er lernen musste, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Die Menschen waren freundlich, aber niemand erklärte ihm, wie die deutsche Gesellschaft funktioniert. Mit der Orientierungshilfe, die er sich damals gewünscht hätte, wollten wir 2015 gemeinsam den Start der Neuankömmlinge erleichtern.

Hassan Hussein engagiert sich bei den „Demokratielotsen“ für Wertevermittlung.

© Demokratielotsen e.V. / Enrico Formowitz

Die Bereitschaft zum Dialog in den Notunterkünften war groß, genauso groß wie die Probleme, die dort herrschten: Gewalt, religiöse Konflikte, arrangierte Frühehen, sozialer Druck, besonders auf Mädchen und Frauen. Häufig mussten wir eingreifen, indem wir uns an Sozialarbeiter oder die Heimleitung wandten und an Beratungsangebote wie das „Bundesweite Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen“ oder Frauenhäuser vermittelten.

Schnell wurde uns klar, dass demokratiefördernde Maßnahmen hier dringend notwendig waren und so versuchten wir, zuerst mit Gesprächsrunden, dann sehr schnell auch mit mehrsprachigen Videos, in denen wir Themen wie Frauenrechte, Gewaltvermeidung, Antisemitismus und religiöse Radikalisierung behandelten, möglichst viele arabischstämmige Geflüchtete zu erreichen. Die Nachfrage war so groß, dass schließlich 2018 der Verein „Demokratielotsen, Gesellschaft für Wertedialog und interkulturelle Bildung e.V.“ gegründet wurde. Nach und nach wuchs der Umfang und die Reichweite der Aktivitäten weiter an.

Könnten Sie die Organisation und Strukturen des Vereins „Demokratielotsen“ näher beschreiben?
Entsprechend der Entstehungsgeschichte des Vereins sind seine Strukturen fließend: Es gibt einen großen Pool an Geflüchteten, die sich durch die Vereinsaktivitäten angesprochen fühlen und diese regelmäßig besuchen. Seit 2015 führen wir jede Woche offene Dialogrunden in Flüchtlingsheimen durch, zu denen jeder willkommen ist. Viele Geflüchtete kommen regelmäßig zu diesen Gesprächsrunden, oft über Jahre hinweg. Wer sich aus diesem Kreis so weit entwickelt hat, dass er sich glaubwürdig zur Demokratie bekennt und die Vereinsziele teilt, wird ermutig, seinerseits Multiplikatoren-Tätigkeiten zu übernehmen, zum Beispiel kleinere Aufgaben in Workshops, Filmen und anderen Projekten. Dazu schließen diese Geflüchteten dann Freiwilligenvereinbarungen mit uns ab.

Zu den unterschiedlichen Themenschwerpunkten wie Frauenrechte, Antisemitismus, religiöse Radikalisierung und Gewaltvermeidung laden wir VertreterInnen jüdischer Vereine, Mitarbeiterinnen von Frauenrechtsorganisationen, ExtremismusexpertInnen, Aussteiger aus extremistischen Strukturen, MitarbeiterInnen der Berliner Polizei und PolitikerInnen ein, die Einblicke in ihre Arbeitsfelder geben und in Austausch mit den Neuankömmlingen treten.

Herr Hussein, wie sieht das Engagement der „Demokratielotsen“ genau aus?
Die Arbeit der „Demokratielotsen“ ist sehr vielfältig. Wir gehen unter anderem in Flüchtlingsunterkünfte. Hier führen wir Workshops, Seminare und Treffen mit Flüchtlingen durch und sprechen über viele Themen wie Menschenrechte, interreligiösen Dialog, Rassismus und Gewalt. Wenn wir zum Beispiel einen Workshop über Antisemitismus veranstalten, laden wir Vertreter einer Organisation ein, die im Bereich der Bekämpfung von Antisemitismus tätig ist, wie etwa das „Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus“ (JFDA). Für das Format „R.future-TV“ führen wir unter anderem Interviews mit Menschen auf der Straße, darunter auch Flüchtlinge, zu Themen wie Gewalt gegen Kinder, Gleichstellung von Männern und Frauen und Antisemitismus durch.

Hassan Hussein befragt Passanten am Hermannplatz in Berlin zum Thema Antisemitismus. 

© Demokratielotsen e.V. / Enrico Formowitz

Vergangenes Jahr habe ich in Neukölln arabisch sprechende Flüchtlinge auf der Straße über die Lebensbedingungen von Juden in den Ländern, aus denen die Flüchtlinge kommen, befragt. Wir drehen auch Filme über unter anderem Antisemitismus und Extremismus, die wir in den sozialen Medien veröffentlichen. Manchmal begleiten uns Journalisten vom Fernsehen oder der Presse und ich stelle mich für Interviews zur Verfügung, in denen ich von unserer Arbeit erzähle und meinen Standpunkt zu diesen Themen erläutere. Wir teilen diese Videos, die wir auf Arabisch produzieren, in den sozialen Medien mit den Menschen, die Arabisch verstehen oder sprechen.

Herr Hussein, Ihr Engagement ist werteorientiert. Können Sie uns erzählen, warum Sie sich im Bereich der Vermittlung von Werten engagieren?
Die Arbeit, die wir machen, entspricht den Werten, die mir selbst wichtig sind, wie Freiheit und Gerechtigkeit, gegenseitige Akzeptanz. Wenn ich also möchte, dass sich jemand mir gegenüber gerecht verhält, muss auch ich mich dieser Person gegenüber gerecht und tolerant verhalten. Menschlichkeit ist für mich sehr wichtig, um die Sensibilität und Akzeptanz füreinander zu erhöhen. Mein Ideal ist es, ohne große Konflikte zusammenzuleben und unsere Unterschiede zu akzeptieren.

Unsere Arbeit braucht viel Zeit, bevor Auswirkungen und Ergebnisse sichtbar werden

Hassan Hussein

Deshalb engagiere ich mich in diesem Bereich. Jedoch ist der Erfolg oder der Fortschritt bei der Vermittlung von Werten und der Schaffung eines demokratischen Bewusstseins schwer messbar. Die Arbeit in diesem Bereich geht sehr langsam voran. Es ist wie Wasser, das auf einen Stein tropft. Unsere Arbeit braucht viel Zeit, bevor Auswirkungen und Ergebnisse sichtbar werden.

Frau Coenen, Herr Alkomi, worin bestehen Herausforderungen bei Ihrem Engagement für Geflüchtete?
Ein Ziel der Arbeit ist, dass die Neuankömmlinge die Gleichwertigkeit aller Menschen anerkennen, damit sie einen Zugang zu der pluralistischen Gesellschaft finden, in der sie jetzt leben. Dieses Ziel bei Geflüchteten zu erreichen, ist besonders schwer, wenn sie ein konservatives bis islamistisches Religionsverständnis mitbringen, das der Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Menschen im Wege steht. Denn wenn man von einem Islamverständnis ausgeht, bei dem nur Muslime exklusiven Zugang zum Paradies haben und alle Nicht-Muslime, oder solche, die sich nicht an die strengen Religionsvorschriften halten, in die Hölle kommen, dann hat das Konsequenzen für das Miteinander, dann kann man nicht von einer echten Gleichwertigkeit ausgehen.

Ein solches Religionsverständnis ist bei vielen Geflüchteten leider nicht nur Mitbringsel aus ihrer Heimat, sondern es existiert auch in Flüchtlingsunterkünften in Deutschland und wird in einschlägigen Moscheen verbreitet. Deshalb ist die Bekämpfung von Islamismus die wichtigste Unterstützung, die wir im Integrationsbereich von Seiten der Politik und Zivilgesellschaft erfahren können. Und an dieser Unterstützung mangelt es! So wurde zum Beispiel der „Expertenkreis politischer Islamismus“ nicht verlängert. Viele Politiker und Vereine akzeptieren Dialogpartner mit Kontakten ins legalistisch-islamistische Milieu und stellen ihnen damit eine Unbedenklichkeitsbescheinigung aus. Das stellt nicht nur eine erhebliche Herausforderung für unsere Arbeit dar, sondern ist ein großes Problem für die Gesamtgesellschaft.

Herr Hussein, wie begegnen Sie diesen Herausforderungen bei Ihrem Engagement?

Ich sehe viele Probleme in der Arbeit mit Flüchtlingen, die einen konservativen oder islamistischem Hintergrund haben. Die Arbeit mit diesen Menschen ist hochsensibel und fühlt sich manchmal so an wie die Arbeit mit Landminen; man muss sehr aufmerksam sein und mit Begriffen und Wörtern bewusst umgehen. Es ist nicht ungefährlich, über religiöse Themen zu sprechen, wie den Propheten, den Koran, über Gott oder über den muslimischen Antisemitismus. Viele trauen sich nicht, aber ich gehe das Risiko ein. Es ist wichtig, mit diesen Themen vertraut zu sein und ein entsprechendes Hintergrundwissen zu haben, um damit umgehen zu können. Aufgrund des kulturellen Unterschieds gibt es oft eine Kluft zwischen Flüchtlingen und der deutschen Gesellschaft. Unser Hauptziel ist es also, diese Gräben so weit wie möglich zu verringern.

Viele Flüchtlinge sind in einer Gesellschaft und in einer Kultur aufgewachsen, in der sie gelernt haben, das herrschende Gesetz als eine politische Verpflichtung zu sehen, die von einem tyrannischen Regime oder einer despotischen Behörde ausgeht. Hier in Deutschland muss man seine Meinung darüber völlig ändern und lernen, dass die Gesetzgebung nicht automatisch negativ und nachteilig für die Bevölkerung ist. Ein zentraler Aspekt, den ich versuche in meiner Arbeit zu vermitteln, ist, dass die Akzeptanz anderer Sichtweisen und Meinungen wichtig für das Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft ist. Einige Teilnehmer ändern nach den von uns durchgeführten Workshops ihre Ansichten. Aber es gibt auch Menschen, die unsere Ideen ablehnen oder bei denen wir mehr Zeit investieren und intensive Gespräche führen müssen, damit sie ihre Meinung reflektieren und überdenken, vor allem, wenn sie starke Vorurteile zu zentralen Themen wie Religion, Antisemitismus und Frauenrechten haben.

Wenn Geflüchtete nicht über Menschenrechte oder Demokratie sprechen wollen, hat das auch mit den Bedingungen zu tun, unter denen sie in Deutschland leben.

Hassan Husein

Wir haben zudem in den Flüchtlingsunterkünften mitunter Schwierigkeiten, Menschen zu finden, die sich für diese Themen interessieren. Ein Grund dafür ist, dass sie andere Probleme haben, wie zum Beispiel schlechte Bedingungen in den Heimen, die dazu führen, dass sie sich für das Thema Menschenrechte nicht interessieren. Sie sagen: „Oh, ich lebe hier in einer schlechten Situation. Die behandeln mich hier nicht wie einen Menschen. Also lasst mich mit diesem Unsinn in Ruhe.“ So ist vielfach auch das Desinteresse, mit uns über Themen wie Menschenrechte oder demokratische Werte zu sprechen, auf die schlechten Bedingungen zurückzuführen, unter denen Geflüchtete in Deutschland leben und in ihren Herkunftsländern gelebt haben.

Herr Hussein, – speziell zum Thema Antisemitismus – wie begegnen Sie diesem Thema in den Workshops und Programmen der „Demokratielotsen“?
Wir haben einige Aktivitäten und Veranstaltungen über Themen wie Antisemitismus, jüdische Kultur und interreligiöse Beziehungen. Die Auseinandersetzung mit der jüdischen Religion umfasst dabei auch politische und historische Themenbereiche. Wenn wir innerhalb der arabischen Community nach Menschen suchen, die sich gegen Antisemitismus engagieren und in unseren Filmen mitmachen wollen, finden wir nur wenige, die sich dafür interessieren und bereit sind, diese Aktivitäten durchzuführen, weil es ihnen heikel oder schlicht inakzeptabel erscheint.

Ihre Ansichten über Juden oder über Israel sind der Hauptgrund dafür, dass sie nicht an diesen Aktivitäten teilnehmen. Wenn man zum Beispiel über die Akzeptanz von Juden spricht oder den Antisemitismus kritisiert, kommt dies für viele von ihnen einer Aufforderung gleich, mit dem Staat Israel zu sympathisieren. Die Gründe, die sie daran hindern, sich an diesen Aktivitäten zu beteiligen, sind sowohl historisch als auch religiös und politisch motiviert. Zum Teil dämonisieren sie alles, was jüdisch ist. Es ist schwierig, diese Ideen, diese Meinungen oder Ansichten zu verändern, es ist eine Aufgabe, die Zeit und Geduld braucht.

Herr Hussein, welche Vorteile sehen Sie in Ihrem Engagement für die Geflüchteten und die deutsche Gesellschaft?
In meiner Arbeit versuche ich, Flüchtlinge und Menschen aus der deutschen Gesellschaft zusammenzubringen und dabei zu helfen, dass sich beide kennenlernen und besser verstehen. Als Flüchtlinge aus Syrien 2015 und 2016 nach Deutschland kamen, wurden sie von einem Großteil der deutschen Gesellschaft herzlich empfangen und aufgenommen. Als Flüchtling muss man sich aber darüber bewusst sein, in welche Gesellschaft man kommt. Man muss also die Regeln akzeptieren, man muss eine Verbindung mit dieser Gesellschaft entwickeln, sich nicht gegen ihre Werte stellen, sich nicht isolieren.

Ich denke, dass aufgrund unserer Herkunft, unserer unterschiedlichen Denkweise oder unserer unterschiedlichen Werte, die Gesellschaft uns Flüchtlinge braucht, um eine Brücke zwischen der deutschen Gesellschaft und anderen Flüchtlingen zu bauen. Es braucht solche Brücken, um einen Dialog zu beginnen, einen Weg der Zusammenarbeit zu finden und den neu ankommenden Flüchtlingen zu ermöglichen, in die Zukunft zu gehen. Wenn zum Beispiel ein Flüchtling, der einzelne Prinzipien der deutschen Gesellschaft in Frage stellt, an einem Workshop teilnimmt, der von einem deutschen Experten gegeben wird, dann ist das anders, als wenn ich oder ein anderer Flüchtling mit demselben kulturellen Hintergrund das Thema unterrichten würde.

Herr Hussein, wo sehen Sie die Rolle der deutschen Gesellschaft bei der Integration von Geflüchteten?
Nicht-Integration bedeutet Isolation. Integration ist der erste und einzige Weg, um anzukommen. Ansonsten steht man außerhalb der Gesellschaft und klopft an eine verschlossene Tür. Aber Integration ist keine Einbahnstraße. Auch die deutsche Gesellschaft muss Möglichkeiten der Partizipation für Flüchtlinge schaffen. Ein erster Schritt ist die Kommunikation konkreter Vorstellungen von Integration durch die Regierung und die Behörden. Was bedeutet Integration genau? Besteht Integration zum Beispiel nur darin, einen Job zu haben? Bedeutet Integration, Deutsch zu lernen? Oder sind damit andere Dinge gemeint? Es hängt also von der Regierung ab, einen Rahmen und einen Weg zur Integration vorzugeben.

Meiner Meinung nach gibt es eine Distanz zwischen der deutschen Gesellschaft und den Flüchtlingen. Ich spreche nicht nur von Berlin, sondern auch von vielen anderen Teilen Deutschlands. Ich weiß, dass viele Flüchtlinge unter Einsamkeit leiden, weil sie isoliert sind in der Gesellschaft, in der sie leben. Auch die deutsche Gesellschaft muss lernen, das Fremde oder die Anderen zu akzeptieren und sich zu öffnen. Das sind die beiden Richtungen, die notwendig zu gehen sind.

Frau Coenen, Herr Alkomi, haben Sie im Laufe des Bestehens der „Demokratielotsen“ strukturelle oder politische Veränderungen wahrgenommen? Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?
Die strukturellen Voraussetzungen für die Integration Geflüchteter haben mittlerweile einen sehr hohen Standard. Als ich nach Deutschland kam, gab es noch keine Integrationskurse und auch die soziale Beratung und Vermittlung von Arbeitsplätzen oder Wohnraum hat sich deutlich verbessert. Was immer noch fehlt, ist die Einsicht, dass Integration auch eine inhaltliche Aufgabe ist und dass es ohne demokratiefördernde Arbeit nicht funktioniert. Dieses Tätigkeitsfeld wird immer dann beachtet, wenn die Probleme nicht mehr übersehen werden können wie bei einem Terroranschlag, der Kölner Silvesternacht 2015/2016 oder antisemitischen Übergriffen.

Aber die Probleme existieren bereits lange vorher, dort wo sie sich der Wahrnehmung der deutschen Mehrheitsgesellschaft entziehen, wie etwa auf arabischsprachigen Internetseiten oder bei häuslichen Konflikten, wo geflüchtete Frauen keinen Zugang zu ihren Rechten haben. Daher braucht es Aufklärungs- und Bildungsarbeit, schnelle und deutliche Sanktionen bei Regelverstößen und ein klares Bekenntnis von Politik und Zivilgesellschaft, auf Seiten derjenigen Geflüchteten und Migranten zu stehen, die Missstände in ihrer eigenen Community benennen und sich dagegen engagieren. Ihre Tätigkeit ist unbequem und mit einem großen persönlichen Risiko verbunden. Daher brauchen sie den Rückhalt der Gesellschaft.

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