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Aber bitte mit Sahne. 1969 gab Bolle seinen Meiereibetrieb in Moabit auf. Den alten Ziegelbau von 1886 nutzen heute die Bolle-Festsäle..

© Franz Süß

Von Bolle bis Borsig: „Ein Nebeneinander von industrieller Originalnutzung, kreativer Umnutzung und Leerstand“

Das Berliner Zentrum Industriekultur erinnert mit einer neuen Publikation an die steinernen Monumente der Wirtschaftsgeschichte in Charlottenburg und Moabit

Bei Bolle kann man sich ganz köstlich amüsieren, keineswegs nur zu Pfingsten und man muss nicht mal nach Pankow reisen. Moabit genügt, genauer: Alt-Moabit 98, die Bolle-Festsäle.

Heute eine imponierende Event-Location, zu buchen für Tagungen, Konferenzen, Messen, Produktpräsentationen, Firmenfeste – oder eben auch für glamouröse Feiern der hiesigen Filmprominenz wie am 16. Dezember 2019, als dort die Weltpremiere der dritten Staffel von „Babylon Berlin“, der TV-Adaption von Volker Kutschers Gereon-Rath-Krimi „Der stumme Tod“, zelebriert wurde, im Anschluss an die Vorführung erster Folgen im Zoo Palast.

Nicht, dass die Staffel in Alt-Moabit auch entstanden wäre, doch hätten sich Ambiente und Geschichte des denkmalgeschützten Backsteinbaus für Dreharbeiten durchaus geeignet: Gebaut wurde er 1890, samt Werkskapelle und Ballsaal der Meierei C. Bolle, die heute das Herzstück der Eventlocation bilden.

Knapp drei Jahrzehnte später mutierte der Sakralraum zum Kino, auch Theater wurde dort gespielt. Die Architektur hat all das und auch die Wirren der Geschichte gut überstanden: „Deckenhöhen von bis zu acht Metern, unverputzte Backsteinwände, hohe Stahlstreben-Fenster, gusseiserne Säulen“, kurz: ein „Paradebeispiel Berliner Industrie-Architektur“, so heißt es auf der Website der Festsäle zu Recht.

Ein Quereinsteiger mit gutem Riecher für Investitionen

Ein spannender Ort, wie die ehemalige Bolle-Meierei überhaupt, gegründet von Carl Bolle 1879 als Milchausschank am Lützowufer 31 in Tiergarten. Der war als Maurermeister Quereinsteiger im Milch-, Butter- und Käsegeschäft – ein Start-up-Unternehmer, würde man heute sagen – mit einem guten Riecher für profitable Investitionen: Schon sieben Jahre nach der Firmengründung konnte er in den Spree-nahen Moabiter Neubau umziehen, der noch 100 Jahre später, als dort längst keine Milch mehr floss, von den Kapitänen vorbeituckernder Ausflugsschiffe als Beispiel einstigen Berliner Unternehmergeistes gepriesen wurde.

Hier gibt es weißes Gold. Seit den frühen siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts wird im Charlottenburger KPM Quartier Porzellan hergestellt.

© Franz Süß

Ein Zeugnis hiesiger Industriekultur, das in einer Heftreihe, die diese Kultur zu feiern und vor dem Vergessen zu bewahren unternimmt, nicht fehlen darf. Zwei Publikationen, Spandau/Siemensstadt und Treptow-Köpenick gewidmet, hat das Berliner Zentrum Industriekultur (bzi), eine gemeinsame Einrichtung der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin und des Deutschen Technikmuseums Berlin, schon herausgebracht.

Das unlängst erschienene dritte Heft nun widmet sich Charlottenburg und Moabit, stellt rund 20 Ikonen der Industriegeschichte in den beiden Stadtteilen vor, auf je einer Doppelseite, mit einem Abriss ihrer Geschichte, aktuellen und historischen Fotos, dem jeweiligen Stadtplanausschnitt und Lesetipps fürs weiterführende Studium.

Beigefügt ist ein Stadtplan mit markierter industriegeschichtlicher Radtour „Innovation und Eleganz“ und den dazugehörenden Kurzinfos. Die Orte decken sich nur teilweise mit den im Buch beschriebenen.

„Charlottenburg ist Industriekultur. Moabit erst recht“ ist programmatisch eine von Joseph Hoppe (bzi-Leitung) und Marion Steiner (Pontificia Universidad Católica de Valparaíso) verfasste Einführung überschrieben. Diese Industriekultur – „ein vielschichtiges Nebeneinander von industrieller Originalnutzung, kreativer Umnutzung und teils auch Leerstand“ – habe auch für die Kultur- und Tourismuswirtschaft Potenzial.

Wer zum zweiten oder dritten Mal Berlin besuche, setze andere Prioritäten, jenseits von Siegessäule und Brandenburger Tor. So ist die Schriftenreihe auch eine Einladung, eine zuvor übersehene oder ignorierte Seite Berlins zu entdecken, mit oft selbst Einheimischen unbekannten Orten. Die sind oft nicht weniger spektakulär als die an den üblichen touristischen Trampelpfaden gelegenen Sehenswürdigkeiten.

Eine Turbinenhalle als Ikone der hiesigen Industriekultur

Zum Beispiel die von Architekt Peter Behrens entworfene Turbinenhalle, zwischen Sickingen-, Berlichingen- und Huttenstraße in Moabit gelegen, freilich kein vergessenes Monument früher Energietechnologie, vielmehr weltbekannt als Ikone der hiesigen Industriekultur. Ihre Front wurde als „ein einziges riesiges Glasfenster“, der Gesamtbau als „eiserne Kirche“, „Kathedrale der Arbeit“ oder auch „Maschinendom“ gerühmt.

Noch prangt an der Stirnseite groß der Name AEG, in Stein gehauenes Erbe des Bauherrn. 1977 hatte die Siemens AG das knapp 130 Meter lange, heute von Siemens Energy genutzte Bauwerk übernommen, das 1956 als erster Industriebau Berlins unter Denkmalschutz gestellt worden war.

Ein Zeugnis alter Industrieherrlichkeit in Berlin: die Turbinenhalle von Siemens in der Moabiter Huttenstraße.
Ein Zeugnis alter Berliner Industrieherrlichkeit: die AEG-Turbinenhalle in der Moabiter Huttenstraße.

© imago/Jürgen Ritter

2004 wurde dort groß gefeiert, 100 Jahre lag da die Übernahme der in der Huttenstraße ansässigen Union Elektricitäts-Gesellschaft (UEG) durch die AEG zurück, die Fusion gilt als die Geburtsstunde des Projekts Turbinenhalle.

2000
Beschäftige haben sich für ein Jubiläumsfoto versammelt.

Die rund 2000 Beschäftigen hatten sich eigens vor ihrer Arbeitsstätte versammelt und für ein Jubiläumsfoto eine riesige 100 gebildet – oben drüber mit einem Querbalken. Anders hätte man die gesamte Belegschaft trotz der imposanten Zahl nicht unterbringen können, und es sollte sich schließlich niemand ausgeschlossen fühlen.

Kaiser Wilhelm II. selbst legte als Standort der Versuchsanstalt für Wasserbau und Schiffbau die künstliche Schleuseninsel im Landwehrkanal fest.

© Franz Süß

Darf man ein Wissen um diese Ikone der Industriearchitektur selbst bei bauhistorischen Laien voraussetzen, so gilt dies für die Müllverladestation an der Charlottenburger Helmhotzstraße 42 nicht unbedingt. Berlin wurde „aus dem Kahn gebaut“, heißt es, schließlich stammten viele Baumaterialien aus Brandenburg und wurden in Schiffen in die Stadt gebracht.

Oft geschah das in sogenannten Kaffenkähnen wie dem im Deutschen Technikmuseum in Kreuzberg ausgestellten, der um 1840 mit einer Ladung Dachziegel in der Havel untergegangen war.

Doch Berlin wurde auch in Kähnen vom Müll befreit, und dazu diente eben die am Zusammenfluss von Spree und Landwehrkanal gelegene, in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts von Paul Baumgarten im schnörkellosen Stil des Neuen Bauens entworfene Müllverladestation.

Bekannte und unbekannte Landmarken der Industriekultur

Durch die politische Teilung der Stadt gingen die von der West-Berliner Stadtreinigung (BSR) genutzten Deponien im Umland verloren. Anfang der fünfziger Jahre verlor die Station daher ihre Funktion, die heute, nach einem Umbau durch Josef Paul Kleihues und seine Kollegen, unter anderem als Architekturbüro genutzt wird.

Berlin wurde „aus dem Kahn“ gebaut und auf diesem Wege auch von seinem Abfall befreit: die Müllverladestation in der Charlottenburger Helmholtzstraße.

© Franz Süß

Gerade diese Mischung aus allgemein bekannten und eher unbekannten Landmarken der Industriekultur zeichnet das Heft aus. Das nicht nur Porzellan-Liebhabern vertraute KPM Quartier, die vom Aufstieg Berlins zur „Elektropolis“ zeugenden Kraftwerke Moabit und Charlottenburg, der Hamburger und der Hauptbahnhof oder das zur Classic Remise umgewandelte Moabiter Straßenbahndepot, heute ein Hotspot für Oldtimer-Fans, gehören ebenso dazu wie die Gebauer Höfe in Charlottenburg oder die Ludwig-Loewe-Höfe in Moabit.

Und selbstverständlich werden auch die Technische Universität, die Physikalisch-Technische Bundesanstalt, das Robert-Koch-Institut und die Versuchsanstalt für Wasserbau und Schiffbau vorgestellt – Stätten der Forschung und Lehre, ohne die Berlin kaum zu einem Zentrum der Industriekultur aufgestiegen wäre.

Seit dem Jahr 1900 hat das heutige Robert-Koch-Institut seinen Hauptsitz am Nordufer in Wedding.

© Franz Süß

Der TU sind sogar zwei Doppelseiten gewidmet. Es ist eine Institution mit bewegter, meist glänzender, doch zeitweise auch dunkler Geschichte, zu deren Baubestand weit mehr gehört als der 1965 vor den Resten des monumentalen Altbaus gesetzte Gebäuderiegel, der vor allem den in Bussen vorbeigleitenden Touristenscharen als TU Berlin in Erinnerung bleibt.

Zeugnis der Berliner Industriearchitektur und Sozialgeschichte

Doch gehört zu der Universität hinter dem Hauptkomplex an der Straße des 17. Juni auch ein Garten, der seit über 100 Jahren nicht allein der Erholung von Lehrkörper und Studentenschaft dient, sondern ebenso der praxisorientierten Lehre. Es ist das Refugium einiger vor der restlosen Zerstörung bewahrter Zeugnisse der Berliner Vergangenheit.

Borsigs Maschinenbau-Anstalt an der Chausseestraße zum Beispiel, deren qualmende Schlote Mitte des 19. Jahrhunderts viel zum Ruf der Gegend jenseits des Oranienburger Tores als „Feuerland“ beitrugen, von Karl Eduard Biermann verewigt in einem berühmten, dem Stadtmuseum Berlin gehörenden Gemälde, wurde bereits 1887 abgerissen.

Nur der Kopfbau der Maschinenhalle blieb von dem alten Kraftwerk Moabit übrig, als die Bewag zwischen 1987 und 1989 die heute von Vattenfall genutzte Anlage erneuerte.

© Franz Süß

Erhalten und 1901 im Garten der TU aufgestellt wurde immerhin auch die Ruine einer Bogenhalle, die seit 1860 den Eingangsbereich der Fabrik schmückte. Ein dekoratives Zeugnis der Berliner Industriearchitektur, mehr noch aber der Sozialgeschichte, dienten die Arkaden doch, wie im bzi-Heft erläutert wird, einem die Kluft zwischen arm und reich, proletarisch und gut bürgerlich widerspiegelnden Zweck: „den Eingang der Borsigwerke abschirmen und der feinen Berliner Gesellschaft den Anblick der Arbeiterschaft ersparen“. „Treptow/Köpenick“ erschienen.

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