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Ein Junge vor einem Wohnhochhaus mit Balkonen und Satellitenschüsseln.

© imago stock&people / imago stock&people

Prinzip Zuhören statt Aufmuntern: Ein Berliner Projekt für suizidgefährdete Jugendliche kämpft ums Überleben

Die Initiative [U25] hilft jungen Berlinern mit Suizidgedanken. Beraten wird von Gleichaltrigen – anonym und per Mail. Doch den Helfern gehen die Mittel aus.

Traurig, verstimmt, lebensmüde? Viele Menschen wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen, wenn ihnen eine nahestehende Person von Suizidgedanken berichtet. Handelt es sich um einen Jugendlichen, gilt das umso mehr: Jugend wird eher mit Vitalität und Lebensfreude assoziiert als mit Schwermut. Oft versuchen Eltern, Lehrer oder Erzieher deshalb, den Jugendlichen mit vermeintlich aufmunternden Floskeln aus seinem Tief zu holen: „Dein Leben ist doch schön, schau was du alles hast“. „Du musst einfach mal wieder rausgehen und was mit Freunden machen“. „Kopf hoch, auf jeden Regen folgt Sonnenschein“.

Gut gemeinten Redensarten, die aber meist alles nur noch schlimmer machen. Dem ohnehin schon niedergeschlagenen Jugendlichen wird vermittelt, dass er sich eigentlich gar nicht schlecht fühlen dürfte. Druck und Selbsthass werden so noch verstärkt. Jenny Winkler kann trotzdem verstehen, dass Menschen mit Floskeln reagieren. „Das Thema Tod macht den Leuten Angst. Mit solchen Sätzen wollen sie das Gespräch schnell wieder ins Positive wenden“, sagt sie. Eine klassische Abwehrreaktion.

Gut zureden bringt nichts

Winkler kennt sich aus, denn lebensmüde junge Menschen zu begleiten ist ihr Job. Seit zwei Jahren arbeitet die studierte Sozialarbeiterin bei [U25] Berlin – einer von der Caritas getragenen Initiative, die Teenager und junge Erwachsene mit psychischen Problemen und Suizidgedanken begleitet. Der Bedarf nach dafür steigt seit Jahren, es gibt immer mehr Anfragen, auch die Pandemie hat noch mal für einen ordentlichen Schub gesorgt. Wie das Projekt langfristig finanziert werden kann, ist allerdings noch offen.

Gegründet wurde die Initiative 2001 in Freiburg, um etwas gegen die hohe Zahl der versuchten oder vollendeten Suizide unter jungen Menschen zu tun. Selbsttötung ist bei unter 25-Jährigen mit rund 500 Fällen pro Jahr die zweithäufigste Todesursache nach Unfällen. „Die Initiatoren haben damals überlegt, wie man diese Zielgruppe gut erreichen könnte“, erzählt Winkler. Denn klassische Hilfsangebote greifen in diesem Alter oft nicht.

Beratung per Mail

Bei [U25] läuft deshalb alles ein bisschen anders als in anderen Beratungsstellen. In den Berliner Räumen der Initiative – zwei Büros nahe dem Hackeschen Markt – tauchen keine Hilfesuchenden auf. Sie rufen dort auch nicht an. Alle Gespräche laufen ausschließlich per Mail, wobei sowohl die Berater als auch die Beratenen anonym bleiben.

Die 29-jährige Winkler und weitere drei Sozialarbeiter sind bei der Caritas angestellt. Die vier arbeiten aber nur im Hintergrund. Den Mailkontakt mit den Hilfesuchenden führen – eine Besonderheit – ehrenamtliche Berliner, die im selben Alter sind wie die Hilfesuchenden selbst, sogenannte Peerberater. Rund 50 Schüler, Azubis und Studenten machen den Job zurzeit. Alle sind zwischen 16 und 25 Jahren alt.

Junge Leute vertrauen sich am ehesten anderen jungen Leuten an.

Jenny Winkler, Sozialarbeiterin und psychosoziale Onlineberaterin

„Unsere Berater sind gut geschult, es gibt regelmäßige Feedbackgespräche und wir lesen jede ihrer Mailantworten vor dem Absenden“, erklärt Winkler. Das Konzept bewährt sich und wird sowohl bundesweit als auch in Berlin sehr gut angenommen. „Junge Leute vertrauen sich anderen jungen Leuten viel eher an als Erwachsenen“, ist sich Winkler sicher.

Viele Ratsuchende nutzten [U25] als erste Hilfe oder ergänzend zu therapeutischen Angeboten, erzählt sie. Die Schwelle, bei einer etablierten Beratungsstelle anzurufen oder zum Facharzt zu gehen, sei in diesem Alter oft zu hoch. „Viele sind schon in Therapie, trauen sich aber nicht, dort über ihre Suizidgedanken zu sprechen.“

Kein Druck, keine Eile

Dahinter stecke oft die Angst, stationär in eine Klinik zu müssen. Das [U25]-Angebot funktioniert deshalb völlig ohne Druck. „Niemand wird gedrängt, sich helfen zu lassen oder muss versprechen, sich heute nichts mehr anzutun“, sagt Winkler. Stattdessen geben sie und ihr Team den Jugendlichen zwei Dinge, die diese sonst kaum bekommen: Ein offenes Ohr und Zeit.

„Die jungen Leute erzählen uns, wie gut es tut, dass wir einfach zuverlässig da sind und zuhören. Statt Tipps zu geben, was sie alles tun könnten, damit es ihnen schnell wieder besser geht. Denn das muss es nicht. Für uns ist es okay, wenn es jemandem schlecht geht“, erzählt Winkler. „Wir fragen auch ganz konkret nach Suizidgedanken, denn dass man damit Menschen erst auf die Idee bringt, sich umzubringen, ist ein Mythos“.

Zuhören, ganz ohne Ansprüche: Mit Flyern und Aufklebern versucht das Team von  [U25] Berlin junge suizidale Menschen zu erreichen. Sie liegen in Berufsschulen, Universitäten und Jugendfreizeiteinrichtungen aus.

© [U25] Berlin

Die Peerberater antworten nicht sofort auf die Anfragen, sondern besprechen sich immer erst im Team. Aber sie antworten – zuverlässig. „Diese Zuverlässigkeit ist etwas, was viele der Hilfesuchenden sonst nicht haben in ihrem Leben“. Meist begleitet ein Ehrenamtlicher denselben Hilfesuchenden über Monate oder Jahre, wobei zwischen den einzelnen E-Mails auch mal mehrere Wochen liegen können.

Unsere Peerberater antworten zuverlässig. Das ist etwas, was die Hilfesuchenden sonst oft gar nicht kennen.

Jenny Winkler, Sozialarbeiterin und psychosoziale Onlineberaterin

Können suizidgefährdete Menschen denn so lange warten? „Natürlich verweisen wir auch auf Akuthilfen, wenn jemand dringend sofort Hilfe braucht“, sagt Winkler. Meist helfe es den Ratsuchenden aber schon, ihre Gedanken und Sorgen zu formulieren und abzusenden.

Mit welchen Sorgen kommen die Jugendlichen denn zu [U25]? „Da ist wirklich alles dabei von Leistungsdruck über Mobbing bis hin zu Missbrauch und Essstörungen“, sagt Winkler. Gemein hätten die Ratsuchenden oft, dass sie von keinem sozialen Netz aufgefangen werden. „Es gibt niemandem, mit dem ich reden kann, niemanden, der mich versteht – sowas hören wir oft. Und dass die Leute sich nur bei uns so zeigen können, wie sie wirklich sind“.

Zu wenige Kapazitäten

Dass es ein Angebot wie [U25] braucht, merken Winkler und ihre Kollegen auch daran, dass sie längst nicht alle Hilfesuchenden annehmen können, die sich bei ihnen melden. „Wir haben ein Ampelsystem auf der Website. Steht sie auf grün, hat ein Berater Kapazitäten. Steht sie auf rot, nicht“.

Seit Jahren steht sie bei 70 bis 80 Prozent der Anfragenden auf rot. Das Team berät rund 200 Menschen pro Jahr – mehr geht nicht. „Wir würden uns wünschen, allen ein offenes Ohr anzubieten, die es brauchen“, sagt Winkler.

Der Bedarf steigt, aber die Finanzierung nicht

Die derzeitige Finanzierung durch den Berliner Senat, das Bundesfamilienministerium, eine Stiftung und Spenden – sie reicht dafür nicht. Außerdem läuft sie 2024 aus, wie es dann weitergeht, ist offen. Dabei steige der Bedarf, nicht zuletzt infolge von Pandemie und Krieg, erzählt Winkler. Fehlende Psychotherapieplätze kommen noch dazu. „Wir bräuchten dringend mehr Geld für Hauptamtliche, damit die mehr Ehrenamtliche betreuen können“. Schließlich muss jeder Peerberater muss sorgfältig geschult werden, auch gibt es regelmäßig Supervisionen für deren eigene Psychohygiene.

Denn natürlich macht es etwas mit einem Berater, wenn der anonyme Kontakt zu einem suizidalen jungen Menschen plötzlich abbricht. Das komme zwar nicht häufig, aber ab und zu vor, sagt Winkler. „Einfach ist das nie. Aber wir versuchen dann, eine positive Haltung zu entwickeln. Dankbar zu sein, dass wir einen Menschen, dem es nicht gut ging, wenigstens eine Zeitlang begleiten und ihm vielleicht helfen konnten.

Der unsicheren Zukunft zum Trotz wird [U25] im Frühjahr neue Peerberater ausbilden. Interessierte können sich schon jetzt melden. „Das Projekt ist so wichtig, es muss unbedingt weiterlaufen“, findet Winkler. Und erzählt, dass die anonyme Beratung per Mail manchmal der einzige Weg ist, suizidgefährdete Jugendliche überhaupt noch zu erreichen. „Der Mailkontakt holt sie quasi zurück in den Real Life-Kontakt zu anderen Menschen. Wenn wir ihnen zuhören, sind sie nach einer Weile oft so weit, sich auch anderen anzuvertrauen.“

Hinweis: Nach Veröffentlichung des Beitrags wurde die Redaktion darüber informiert, dass die Senatsverwaltung die Weiterführung des Projekts inzwischen zugesichert hat. Die auslaufende Bundesfinanzierung stelle es jedoch weiterhin vor große Herausforderungen, teilten die Verantwortlichen mit.

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