zum Hauptinhalt
20 Jahre hat die IG Metall im Osten gebraucht für den Weg zur 35-Stunden-Woche, die im Westen seit 1995 gilt.

© Sebastian Gabsch PNN/Sebastian Gabsch PNN

Langer Weg in Richtung Westen: Die Arbeitszeit in Ostdeutschland gleicht sich an

Die großen Industriebetriebe im Osten führen die 35-Stunden-Woche ein. Die Wirtschaftsstruktur ist aber noch immer deutlich schwächer als im Westen: Der Mittelstand fehlt.

Bei Siemens Energy geht es im Oktober runter. Für die ostdeutschen Beschäftigten des in Berlin ansässigen Konzerns wird die 35-Stunden-Woche in drei Schritten eingeführt. Die Arbeitszeit sinkt von 2023 bis 2025 jeweils im Oktober um eine Stunde. Ähnlich läuft es bei Rolls-Royce in Dahlewitz. Anfang 2024 reduziert der Triebwerkhersteller die Arbeitszeit von 38 auf 37 Stunden, 2026 werden die berühmt-berüchtigten 35 erreicht.

Spät, aber immerhin. In der westdeutschen Metallindustrie hat die IG Metall in den 1980er Jahren die sukzessive Arbeitszeitverkürzung in einem siebenwöchigen Streik in Baden-Württemberg und Hessen durchgesetzt, seit 1995 gilt im Westen die 35-Stunden-Woche. Das bedeutet aber auch, dass seitdem die Metaller im Osten drei Stunden länger arbeiten als die Kollegen im Westen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

In den neuen Ländern mit einer schwach ausgeprägten Sozialpartnerschaft verlor die IG Metall den Arbeitskampf um die Arbeitszeit im Sommer 2003. Es gab zu wenige streikbereite Metaller. Nach der historischen Niederlage der größten deutschen Gewerkschaft gingen fast 20 Jahre ins vereinte Land, bis die IG Metall 2021 einen Rahmentarifvertrag für Ostdeutschland abschließen konnte, den einzelne Betriebe nun umsetzen.

„Inzwischen haben wir für vier von fünf Mitgliedern in den verbandsgebundenen Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie die schrittweise Absenkung der Arbeitszeit auf 35 Stunden durchgesetzt“, freut sich die Gewerkschaft. Und damit „eine große Ungerechtigkeit zwischen Ost und West beendet“, meint Dirk Schulze, der IG Metall-Chef von Berlin, Brandenburg und Sachsen.

Die großen Ableger der im Westen ansässigen Konzerne reduzieren schrittweise die Arbeitszeit: VW (Zwickau, Chemnitz und Dresden), BMW und Porsche in Leipzig, ZF in Brandenburg, Mahle im Vogtland, MTU (Ludwigsfelde), Koenig & Bauer (Radebeul), ferner Siemens, Otis und Schindler. Das ist auch deshalb an der Zeit, weil die Produktivität der ostdeutschen Standorte mindestens auf Westniveau liegt. Für die Industrie insgesamt lässt sich das nicht sagen.

Insbesondere in Sachsen und Thüringen ist die Industrie ähnlich stark wie im deutschen Durchschnitt.

Institut der Deutschen Wirtschaft

„Es ist bislang nicht gelungen, die Wertschöpfungslücke in Relation zu Westdeutschland in Höhe von etwa 27 Prozent (bezogen auf das BIP je Einwohner) beziehungsweise 16 Prozent (bezogen auf die Produktivität je Beschäftigten) zu schließen“, schreibt das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in einer Studie aus dem Juni. Es fehlen Firmenzentralen und größere Mittelständler, doch der Mittelstand sei entscheidend für die Schließung der Wertschöpfungslücke.

Kaum Hidden Champions

„Insbesondere in Sachsen und Thüringen ist die Industrie ähnlich stark wie im deutschen Durchschnitt“, konstatiert das IW. Das gelte teilweise für „den Besatz mit industriellen Familienunternehmen“, wo Sachsen halbwegs auf Westniveau liegt. Auch mit Hidden Champions, den eher unbekannten Marktführern unterhalb von Konzerngrößen, ist Ostdeutschland schwach ausgestattet. Sachsen liegt mit 4,9 Hidden Champions pro eine Million Einwohner in den neuen Ländern an der Spitze, in Baden-Württemberg sind es nach IW-Angaben aber 35.

Auch deshalb sind 33 Jahre nach der Vereinigung die Löhne in Ostdeutschland deutlich geringer als in den alten Bundesländern. Insgesamt beträgt der Abstand fast 14 Prozent, wenn man Beschäftigte gleichen Geschlechts, im identischen Beruf und mit vergleichbarer Berufserfahrung betrachtet. Je nach Beruf kann die Lücke monatlich bis zu 1000 Euro betragen, hat 2022 eine Auswertung des Portals Lohnspiegel.de der Böckler-Stiftung ergeben, die auf Angaben von 188.000 Beschäftigten in ganz Deutschland basiert.

Große Gehaltsunterschiede

Besonders deutliche Gehaltsunterschiede gibt es demnach in vielen technischen Berufen. Maschinenbautechnikerinnen mit zehn Jahren Berufserfahrung etwa verdienen im Osten durchschnittlich 3480 Euro und im Westen 4170 Euro. Auch zwischen den Bundesändern gibt es Unterschiede. In Brandenburg ist aufgrund des prosperierenden Berliner Umlandes der durchschnittliche Gehaltsrückstand gegenüber dem Westen mit 10,6 Prozent am geringsten, in Sachsen mit 14,8 Prozent am höchsten. 

Anders als bei den tatsächlich gezahlten Gehältern gibt es bei den Tariflöhnen keine wesentlichen Ost-West-Unterschiede: Das Entgelt­niveau in Ostdeutschland lag 2021 bei 98 Prozent des Westniveaus, verglichen mit 60 Prozent im Jahr 1991. Diese Zahlen sind indes begrenzt aussagekräftig, da nur ein Bruchteil der Beschäftigten nach Tarif bezahlt wird.

Bei der Arbeitszeit verläuft die Angleichung schneller als beim Einkommen. In Banken und Versicherungen, bei Post und Bahn sowie der Telekom gibt es keinen Unterschied mehr, auf dem Bau und im öffentlichen Dienst auch nicht. Im Einzelhandel dagegen arbeiten Verkäuferinnen und Verkäufer eine Stunde länger als im Westen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false