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 Lichter am Tatort Kurt-Schumacher-Platz.

© imago images/Patrick Scheiber/Moritz Goebel via www.imago-images.de

Aus dem Terror von Hanau lernen: Zwei Hinterbliebene wehren sich mit Büchern gegen das Vergessen

Said Etris Hashemi und Cetin Gültekin haben bei den rassistischen Anschlägen von Hanau ihre Brüder verloren. Nun haben sie darüber geschrieben.

Die Autobahn A45 Dortmund-Aschaffenburg gäbe es nicht ohne die türkischen Gastarbeiter, die sie bauten. Çetin Gültekins Vater war einer von ihnen. Die nächste Generation der Gültekins, fuhr bereits mit ihren Speditions- und Umzugswägen darüber.

Said Etris Hashemis Vater kämpfte einst im afghanischen Bürgerkrieg gegen die Sowjetarmee und begriff bald, dass viele höhere Militärs seines Landes ihre Kinder ins Ausland, in Sicherheit, schickten. Schließlich ging auch er nach Deutschland. Im Interesse seiner Familie.

Am 19. Februar 2020 gab es ein böses Erwachen. Ein Rechtsextremer erschoss in Hanau neun Menschen. Ihre Namen sind: Gökhan Gültekin, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Vili Viorel Păun, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov, Hamza Kurtović, Gökhan, Sedat Gürbüz, und Fatih Saraçoğlu. Çetin Gültekin und Said Etris Hashemi verloren beide ihre Brüder an diesem Abend.. Nun haben sie die Bücher „Geboren, aufgewachsen und gestorben in Deutschland“ und „Der Tag, an dem ich sterben sollte“ geschrieben.

Said Etris Hashemi
Said Etris Hashemi

© Johannes Tewelde

Rassismus muss als ein strukturelles Problem begriffen werden, das fordern Betroffene und Wissenschaftler:innen schon lange. Was „strukturell“ im Kontext von Hanau bedeutet, das führen uns die Autoren vor Augen. Hashemi ordnet sein Aufwachsen stets in den Kontext der deutschen Gesellschaft ein, zitiert Studien über Armut und Rassismus.

Hashemi war gut in der Schule, trotzdem wurde er auf die Hauptschule versetzt, auf der die Lehrer die Schüler:innen dazu verdonnerten, das Gebäude auszubessern, statt am Unterricht teilzunehmen.

Cetin Gültekin
Cetin Gültekin

© Penguin Random House/Thomas Pirot

Çetin Gültekins Bruder Gökhan, von allen in Hanau liebevoll Gogo genannt, wurde seine Chancenlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt, „ohne Abschluss und mit einem türkischen Namen im Briefkopf“ schmerzlich bewusst. Er dealte ein wenig, war verwickelt in weitere Straftaten. Doch nach dem Absitzen seiner Strafen beschloss er, sein Leben in die Hand zu nehmen, gründete ein Umzugsunternehmen. Es lief gut, er wollte heiraten, seine Frau erwartete das erste Kind.

Oft werden wir von den Umständen rumgeschubst. Oder andere greifen uns in die Tastatur, und der Weg, der da theoretisch vor uns liegt, wird immer verschwommener und unerreichbarer.

Said Etris Hashemi

Den Strukturen zum Trotz

Said Etris Hashemi arbeitete sich mühsam aus der Armut heraus und studierte Informatik. Doch er betont: „Ich bin wegen meines Werdegangs nicht besser als meine Jungs im Knast“. Denn unsere Lebensgeschichten gehörten nicht uns allein. „Oft werden wir von den Umständen rumgeschubst. Oder andere greifen uns in die Tastatur, und der Weg, der da theoretisch vor uns liegt, wird immer verschwommener und unerreichbarer.“

Außerdem gibt Hashemi Einblicke in den Untersuchungsausschuss des Landtags Hessen. Auch hier geht es immer wieder um Strukturen, in der Polizei und in der Politik. Strukturen, die mutmaßlich einen Anteil daran hatten, dass diese neun Menschen ermordet wurden. Und die später, so die Autoren, zu einem unwürdigen Umgang mit den Angehörigen führten.

Unfreiwillige Politisierung

Hanau hat Hashemi und Gültekin unfreiwillig politisiert. Die beiden mussten nach den Ursachen der Anschläge forschen, um wenigstens im Ansatz zu verstehen, warum ihre Liebsten ermordet wurden.

Der rechte Terror verschwindet nach jedem Anschlag wieder aus dem Blick der Öffentlichkeit.

Said Etris Hashemi

Es hat ihren Blick auf die deutsche Innenpolitik geschärft. „Der rechte Terror verschwindet nach jedem Anschlag wieder aus dem Blick der Öffentlichkeit“, klagt Said Etris Hashemi. Und stellt die berechtigte Frage: Wie kann es sein, dass gewaltfreie linke Klimaaktivist:innen „in Präventivhaft eingebunkert“ werden und vom Verfassungsschutz überwacht werden, während „bewaffnete rechte Extremisten wie der Mann, der meinen Bruder und meine Freunde umgebracht und mir in Hals und Schulter geschossen hat, rassistische Pamphlete ins Internet stellen, direkt an Polizisten schicken und legal Waffen kaufen können?“

Said Etris Hashemi überlebte den Anschlag und trägt bis heute Munitionssplitter in seinem Körper. Çetin Gültekin wartete eingepfercht in einer Sporthalle mit anderen Angehörigen darauf, dass man Ihnen sagte, wo die Leichen ihrer Angehörigen zu finden seien.

„Der NSU lässt grüßen“

Etris Hashemi spricht in diesem Zusammenhang von sekundärer Viktimisierung. Die Polizei habe sie für potenzielle Täter anstatt für Opfer gehalten und sie nachhaltig traumatisiert. Man müsse ja in alle Richtungen ermitteln, Beamtendeutsch für „vielleicht ist es ja Clankriminalität“ sei das. „Der NSU lässt grüßen“, bemerkt Hashemi. Auch hier wurde jahrelang nicht von Rechtsterrorismus ausgegangen.

Fünf Tage lang wartete Çetin Gültekin auf die Leiche seines Bruders. Der Islam besagt jedoch, dass man Tote innerhalb von vier Tagen bestatten soll. Als die Leiche schließlich kam, waren noch Nadeln von der Obduktion im Körper. Einige Leichen, so berichten beide Autoren, wurden von Frischhaltefolie und Klebeband zusammenhalten, da sie durch die Obduktion so zerstückelt worden waren. Die Autoren sind sich einig: Mit ihren Angehörigen wurde achtlos umgegangen.

„Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst“, das ist ein Satz von Ferhat Unvar. Er war Hashemis Grundschulsitznachbar. Umso wichtiger ist es, dass die beiden mit ihren Büchern gegen das Vergessen anschreiben.

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