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A man cleans an apartment destroyed after Russian shelling in Nikopol, Ukraine, Monday, Aug. 15, 2022. (AP Photo/Kostiantyn Liberov)

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS

365 Tage des großen Leids: Sieben Statements zum Krieg in der Ukraine

Vor einem Jahr fiel Russland in die Ukraine ein – sieben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Freien Universität bewerten die Auswirkungen.

Von Carsten Wette

Am 24. Februar 2023 jährt sich der Überfall Russlands auf die Ukraine. Dieser markiert eine Zäsur in den internationalen Beziehungen: Ungeachtet der diplomatischen Bemühungen zahlreicher Staats- und Regierungschefs und trotz gegenteiliger Beteuerungen der Moskauer Führung griffen russische Truppen den Osten der Ukraine an, unterstützt durch die nichtstaatliche, paramilitärische Gruppe Wagner, die 2014 auch an der Annexion der Halbinsel Krim beteiligt gewesen sein soll.

Die Gefechte zwischen russischen Truppen und ukrainischen Verteidigern sowie der Beschuss der Infrastruktur durch russische Einheiten führte zu unermesslichem Leid. Über die Zahl der seit der Invasion getöteten ukrainischen Zivilpersonen sowie der gefallenen Soldaten auf beiden Seiten und der Söldner gibt es keine unabhängigen Erkenntnisse. Das Hochkommissariat für Menschenrechte der Vereinten Nationen schätzte allein die Zahl der Menschen in der ukrainischen Zivilbevölkerung, die bei den russischen Angriffen auf die Infrastruktur und auf Wohngebiete bis zum 5. Februar 2023 ums Leben kamen, auf 7155, darunter 438 Kinder. Die Zahl der in der Zivilbevölkerung verwundeten Menschen wird mit mehr als 10.000 angegeben.

Bewertungen von Experten der Freien Universität zum Ukraine-Krieg

Infolge des Kriegs flohen nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats rund acht Millionen Menschen, das entspricht etwa einem Fünftel der ukrainischen Bevölkerung. Als Reaktion auf den russischen Angriff unterstützt die internationale Staatengemeinschaft die Ukraine weitreichend politisch, finanziell, militärisch und in humanitärer Hinsicht.

Sieben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Freien Universität Berlin blicken auf die Entwicklungen der vergangenen zwölf Monate, etwa aus Sicht des Völkerrechts und der Außen- und Sicherheitspolitik. Sie bewerten dabei die Möglichkeiten der internationalen Staatengemeinschaft, den Krieg zu beenden, etwa durch die gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen und durch dessen weitgehende politische Isolierung.


„Die Geschlossenheit, mit der die EU handelt, markiert eine Zeitenwende.“

Tanja Börzel, Professorin für Politikwissenschaft und Europäische Integration

Tanja Börzel, Professorin für Politikwissenschaft und Europäische Integration

© Katy Otto

Wissenschaft und Politik sehen in dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine eine Zäsur, mit der sich nicht nur die Politik in Deutschland verändert, sondern auch in der Europäischen Union. Die nach dem Ende des Kalten Krieges errichtete europäische Sicherheitsarchitektur wurde durch Putins Krieg zerstört.

Für die Neuordnung der Sicherheit in Europa muss die Handlungsfähigkeit der EU in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gestärkt werden. Forderungen dazu reichen von der Einführung von Mehrheitsentscheidungen bis zur Aufstellung einer europäischen Armee. Die dafür notwendigen Vertragsverhandlungen wären allerdings kaum geeignet, die EU in der Bewältigung der multiplen Krisen zu stärken.

Auch hat die EU mit ihrer Reaktion auf die von Russland begangenen massiven Völkerrechtsverletzungen eine erstaunliche Handlungsfähigkeit gezeigt. Die Mitgliedstaaten haben sich bisher – einstimmig – auf nicht weniger als neun Sanktionspakete geeinigt, eine militärische Ausbildungsmission für die Ukraine eingerichtet und mehr als 50 Milliarden Euro finan­­­zi­el­ler Hilfe beschlossen.

Zudem haben sie die Ukraine und Moldau zu Beitrittskandidaten gemacht und fast acht Millionen Geflüchtete aufgenommen. Diese Geschlossenheit lässt sich durchaus als Zeitwende in Europa verstehen. Sie hat allerdings nichts mit der von Bundeskanzler Scholz verkündeten Zeitenwende in der deutschen Außenpolitik zu tun. Deutschland muss sich erst noch als europäische Führungsmacht erweisen.


„Völkerrecht muss entschlossen verteidigt werden.“

Helmut Philipp Aust, Professor für Öffentliches Recht und die Internationalisierung der Rechtsordnung

Helmut Philipp Aust, Professor für Öffentliches Recht und die Internationalisierung der Rechtsordnung

© Michael Fahrig

Was kann das Völkerrecht im Lichte der russischen Aggression leisten? Das Völkerrecht setzt einen Rahmen für die Auseinandersetzung mit dem Kriegsgeschehen. Es hilft, Recht und Unrecht nicht nur intuitiv, sondern auf der Grundlage von allgemein anerkannten Regeln zu benennen. Aber das Völkerrecht wird natürlich durch einen massiven Angriffskrieg herausgefordert – faktisch und in seiner normativen Autorität.

Daher müssen wir immer wieder auch über die völkerrechtlich angemessene Reaktion auf den russischen Angriffskrieg diskutieren. Wirtschaftssanktionen und Waffenlieferungen sind völkerrechtlich zulässig, um die Ukraine in der Ausübung ihres Selbstverteidigungsrechts zu unterstützen. Bei innovativen Vorschlägen, etwa der Beschlagnahme von Zen­tralbankvermögen zum Zwecke des Wiederaufbaus oder der Schaffung eines Sondertribunals für die Verfolgung des Verbrechens der Aggression muss genau abgewogen werden: Was ist eine gleichermaßen völkerrechtlich zulässige und angemessene Reaktion auf den russischen Angriffskrieg? Und welche systemischen Auswirkungen haben solche Initiativen?

Völkerrecht entwickelt sich stetig weiter durch neue Verträge, aber auch durch Praxis, die zur Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht führen kann. Trotz der breiten Verurteilung des russischen Angriffskriegs ist die internationale Staatengemeinschaft hier teilweise stärker gespalten, als wir es uns wünschen mögen. Es sollte ein Ziel deutscher und europäischer Völkerrechtspolitik sein, sowohl entschlossen auf den russischen Angriffskrieg zu reagieren als auch zukünftig so zu agieren, dass Vorwürfe, der Westen messe mit zweierlei Maß, nicht mehr so leicht erhoben werden können.


„Die Sanktionen haben massive Folgen für die russische Wirtschaft.“

Theocharis Grigoriadis, Professor für Volkswirtschaftslehre in Osteuropa

Theocharis Grigoriadis, Professor für Volkswirtschaftslehre in Osteuropa

© Bernd Wannenmacher

Die Sanktionen der Europäischen Union sowohl gegen führende Entscheidungsträger aus Wirtschaft und Politik als auch gegen die russische Zentralbank (CBR) haben massive Auswirkungen auf die russische Wirtschaft. Die Flucht mehrerer multinationaler, US-amerikanischer und europäischer Unternehmen sowie der Ausschluss der russischen Zentralbank von ihren Anlagen in US-Dollar und Euro in den Vereinigten Staaten und der Eurozone haben ein negatives Geschäfts- und Investitionsklima in Russland geschaffen, hauptsächlich aufgrund der Destabilisierung des Rubels. Trotz der erfolgreichen kurzfristigen Maßnahmen der CBR zur Unterstützung der Binnennachfrage seit Kriegsbeginn erscheinen die Aussichten für die Wechselkurse des russischen Rubels in US-Dollar und in Euro düster.

Die kurz nach dem Krieg ergriffenen Maßnahmen der russischen Regierung, die Unternehmensinsolvenzen verhindert haben, konnten den massiven Verlust an Humankapital nicht stoppen: Seit Beginn des Krieges sind zahlreiche hochqualifizierte Fachkräfte abgewandert in andere Länder des postsowjetischen Raums wie Georgien und Armenien sowie in die Türkei, das Baltikum, nach Polen, Westeuropa und Nordamerika. Doch verschafft das Zögern der Europäischen Union, sich von russischem Erdgas unabhängig zu machen, der russischen Wirtschaft einen finanziellen Hebel; die russische Aggression in der Ukraine wird damit fortgesetzt. Gleichzeitig nährt die Einführung eines Yuan-Liquiditätsinstruments für russische Banken die wirtschaftliche und finanzielle Annäherung zwischen Russland und China.


„Durch den Krieg hat sich die Rivalität zwischen den USA und China verschärft.“

Lora Anne Viola, Professorin für Außen- und Sicherheitspolitik Nordamerikas

Lora Anne Viola, Professorin für Außen- und Sicherheitspolitik Nordamerikas

© Arne Sattler

Der Krieg in der Ukraine hat deutlich gemacht, dass die Führungsrolle der USA für die Sicherheit Europas nach wie vor unverzichtbar ist. Unter der Regierung Biden sind die USA der wichtigste Akteur, wenn es darum geht, auf russische Aggressionen in Europa zu reagieren und Chinas Ambitionen in Asien auszugleichen. Aber die langfristige Stabilität in beiden Regionen kann nicht von den USA allein garantiert werden.

Der Aufbau von Bündnissen ist schwierig, da sowohl in Europa als auch in Asien tiefe Meinungsverschiedenheiten darüber bestehen, wie mit Russland und China umzugehen sei. Für die USA wird es eine politische Herausforderung bleiben, Moskau und Peking daran zu hindern, diese Spaltungen auszunutzen. Damit hat der Krieg in Europa die Rivalität zwischen den USA und China verschärft und bestätigt, dass das strategische Hauptaugenmerk der USA derzeit auf dem Wettbewerb mit China liegt, vor allem im Technologiebereich. Die Bewältigung dieser strategischen Herausforderung wird durch den Konflikt in Europa erschwert.

Mit Blick auf die US-Präsidentschaftswahl 2024 wird sich Europa schließlich damit befassen müssen, dass eine republikanisch geführte Regierung die umfangreiche Hilfe der Vereinigten Staaten reduzieren könnte. Zwar konzentriert sich ein Großteil der Debatte in Deutschland auf die Lieferung von Waffen und andere militärische Unterstützung. Dennoch werden die USA und Europa von Deutschland künftig größere und langfristige wirtschaftliche Investitionen verlangen, um die aktuelle Krise zu überwinden, den Wiederaufbau der Ukraine zu fördern und die nächste Eskalation in Europa zu verhindern.


„China nutzt den Krieg für eigene Propaganda.“

Genia Kostka, Professorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt auf der Politik Chinas

Genia Kostka, Professorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt auf der Politik Chinas

© Hertie School of Governance

Der Krieg in der Ukraine hat den Kampf verschiedener Machtblöcke mit unterschiedlichen politischen Systemen und Ideologien in den Vordergrund gerückt. China ist schon seit Langem Russlands größter Handelspartner. Russland wiederum ist der wichtigste Energielieferant Chinas. Im Zuge des Krieges haben sich die Handelsbeziehungen zwischen Russland und China noch einmal verstärkt. Darüber hinaus bekräftigte der chinesische Präsident Xi wiederholt, dass China bereit sei, die Kooperation mit Russland zu vertiefen.

China unterhält sowohl mit Russland als auch der Ukraine weiterhin normale wirtschaftliche Beziehungen und unterstützt keine Seite militärisch. China hat selbst in großem Umfang in der Ukraine investiert und muss Schäden bei Schiffsbauprojekten, Eisen- und Stahl-Schmieden, Autobahnen und anderer Infrastruktur verkraften. Durch den Krieg wurden chinesische Investitionsprojekte in Milliardenhöhe zerstört. Durch die Ukraine verlief ein wichtiger Transitweg für die neue Seidenstraße, der nun zerstört ist. Auch für Chinas Nahrungsmittelsicherheit ist die Ukraine relevant, vor allem durch Getreidelieferungen. Hier werden nun andere Länder wie Kasachstan, Russland, Belarus und Polen für China an Bedeutung gewinnen.

Chinas Verweigerung, Russland offen zu kritisieren, muss vor dem Hintergrund der Spannungen mit den USA eingeordnet werden. Angesichts des Handelskrieges mit den USA möchte sich China schlicht nicht von Russland distanzieren. Wenn sich China an den internationalen Sanktionen gegen Russland beteiligte, würde das einer Unterwerfung gegenüber den USA gleichkommen. So nutzt Peking den Krieg für eigene Propaganda und betont immer wieder eine Mitverantwortung und Mitschuld Washingtons an dem Krieg. Der geopolitische Spagat, den China hier versucht, um wirtschaftliche und politische Eigeninteressen zu sichern, verstärkt eine Spirale des gegenseitigen Beschuldigens, die wir momentan auf globaler Ebene erleben.

„Prowestliche Gruppen in Russland leiden am meisten unter den Sanktionen.“

Alexander Libman, Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Osteuropa und Russland

Alexander Libman, Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Osteuropa und Russland

© privat

Der Westen hat auf den russischen Einmarsch in die Ukraine mit einer beispiellosen Welle an Wirtschaftssanktionen gegen Russland reagiert. Nach einem Jahr kann man fragen: Wie wirken sie sich aus?

Aus der innenwirtschaftlichen Perspektive haben Sanktionen viele Lieferketten unterbrochen und russische Unternehmen vor die Notwendigkeit gestellt, neue Partner zu suchen. Russland ist allerdings als Marktwirtschaft durchaus anpassungsfähig. Russische Unternehmer haben Produktionsverfahren modifiziert, neue Lieferanten gefunden oder Nischen übernommen, die nach dem Rückzug westlicher Firmen frei wurden. Wirtschaftlich schädliche Gegenmaßnahmen – etwa Preiskontrollen, Enteignungen von ausländischen Unternehmen oder Verstaatlichungen von inländischen Unternehmen zur Unterstützung der Kriegsproduktion – haben die russische Regierung nicht getroffen.

Die russische Zentralbank hat die russischen Banken durch Kapitalkontrollen im März 2022 stabilisiert. Sanktionen beeinträchtigen die wirtschaftliche Entwicklung Russlands, aber wirklich verheerend wären sie nur dann, wenn der russische Staat darauf wirtschaftspolitisch falsch reagiert und die Anpassung der Märkte blockiert hätte. Aus außenwirtschaftlicher Perspektive hat Russland trotz Exportrückgängen fast das ganze Jahr 2022 hindurch von den gestiegenen Energiepreisen für Öl und Gas massiv profitiert. Die Effektivität des seit Dezember 2022 geltenden westlichen Öl-Embargos ist zumindest zweifelhaft, weil die Umgehung über asiatische Häfen möglich ist.

Es ist deshalb sehr wohl möglich, dass der russische Staat zumindest kurz- bis mittelfristig mit Sanktionen durchaus leben und den Krieg weiterführen kann. Bereits jetzt leidet eine ganz andere Gruppe – die prowestlichen Schichten in Russland, deren Kontakt zu Europa gekappt wurde und die sich unter einem doppelten Druck des Regimes und der Sanktionen befinden.


„Soziale Medien bringen den Krieg näher.“

Anna Litvinenko, Kommunikationswissenschaftlerin mit Schwerpunkt Digitalisierung und Partizipation in Osteuropa

Anna Litvinenko, Kommunikationswissenschaftlerin mit Schwerpunkt Digitalisierung und Partizipation in Osteuropa

© Bernd Wannenmacher

Der Krieg in der Ukraine hat ein neues Ausmaß der Rolle von sozialen Medien sichtbar gemacht. Teilweise ist sogar die Rede vom ersten „TikTok-Krieg“. Gemeint damit ist, dass so viele Kriegserfahrungen aus erster Hand über soziale Netzwerke – etwa über TikTok – verbreitet werden wie nie zuvor. Die Forschenden Florian Primig, Hanna Szabó und Pilar Lacasa analysierten an der Freien Universität derartige Videos. Sie sprechen von einem sogenannten Fern-Leiden auf sozialen Netzwerken: Mit ihren emotionalen Inhalten bringen TikTok-Nutzende persönliche Kriegserfahrungen anderen Menschen näher.

Dank der sozialen Medien konnten im Ausland viele bewegt werden, Menschen in der Ukraine zu helfen. Benachrichtigungen auf dem Handybildschirm über Luftalarm in der eigenen Stadt können Menschenleben retten. Über die sozialen Medien kommt auch moralische Unterstützung: Unter dem populären Hashtag NAFO werden humorvolle Memes verbreitet und Desinformationen entlarvt; die Abkürzung steht in Anspielung auf die NATO für „North Atlantic Fella Organization“. Für Vertreterinnen und Vertreter von russischen unabhängigen Medien, die fast alle aus dem Land fliehen mussten, sind die sozialen Netzwerke der letzte Draht zu ihrem Publikum in Russland.

Eine andere wichtige Funktion von sozialen Medien in diesem Krieg ist die sogenannte OSINT, die „Open Source Intelligence“. Darunter versteht man die Nutzung von offenen Quellen im Internet für Informationssuche. Sie werden nicht nur vom Militär, sondern auch von Medienschaffenden und der Bevölkerung genutzt. Zum Beispiel suchen russische Soldatenmütter ihre gefangenen Söhne über Telegramkanäle, die von der ukrainischen Seite betrieben werden.

Soziale Medien im Krieg haben allerdings auch ihre Schattenseiten. Das Netz ist überflutet mit Falschinformationen. So betreibt der Kreml unzählige Telegram-Kanäle, über die er Propaganda verbreitet, auch in Deutschland. Deswegen brauchen wir mehr Medienbildung, um kritischen Medienkonsum, der gerade in Krisenzeiten essenziell ist, zu fördern.

Für den Inhalt dieses Beitrags ist die Freie Universität Berlin verantwortlich.

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