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Freunde. Der frühere norwegische Verteidigungsminister Thorvald Stoltenberg (links) im Gespräch mit Willy Brandt 1984 über den Konflikt in Nicaragua.

© Fritz Fischer dpa

Zum 100. Geburtstag von Willy Brandt: Offenheit, Dialog und Kompromiss

Thorvald Stoltenberg, ehemals Verteidigungsminister Norwegens, erinnert sich an persönliche und politische Begegnungen und preist Brandts Erbe.

Meinen ersten Kontakt mit Willy Brandt hatte ich im Jahre 1965. Damals war ich politischer Referent des norwegischen Außenministers Halvard Lange und begleitete ihn bei seinem Besuch des Regierenden Bürgermeisters in Berlin. Seitdem traf ich Willy Brandt etwa 50 Mal. Er war ein Staatsmann, dem ich – emotional wie politisch – sehr nahe kam. Beim ersten Treffen beeindruckte mich, dass Willy Brandt als politische Antwort auf den Bau der Mauer weniger Wert auf Militärparaden legte als vielmehr auf eine Politik der kleinen Schritte im Interesse der Menschen, z.B. damit die durch die Mauer getrennten Familien sich wieder treffen konnten. Schon damals befürwortete er eine Entspannung zwischen Ost und West, und wandte sich gegen Denk- und Kontaktverbote: „Ich fürchte keine Kontakte, Angst vor Kontakten haben nur Diktatoren“, sagte er uns. Auch als Bundesaußenminister der Großen Koalition blieb Willy Brandt bescheiden und sagte uns: „Niemand soll als Außenminister so tun als habe er die Weisheit mit Löffeln gegessen“.

Nach seinem Amtsantritt als Bundeskanzler 1969 beeindruckte er mich, dass er in seinen Anstrengungen um Entspannung in Europa nie aufgab – weder gegenüber den skeptischen Reaktionen im Osten noch gegenüber dem erbitterten Widerstand im Westen gegen seine Entspannungspolitik. Anders als in Deutschland gab es in Norwegen, damals unter dem konservativen Außenminister John Lyng, kaum Widerstand gegen Willy Brandts Entspannungspolitik. Norwegen hatte Vertrauen zu ihm, und wegen der gemeinsamen Grenze mit der Sowjetunion hatten wir auch ein Interesse an Entspannung. Gleichwohl gab es innerhalb der Konservativen Partei – Høyre – Widerstand, aber der war klein im Vergleich zum Widerstand der CDU/CSU und der Vertriebenenverbände.

Deshalb bekam die Entscheidung des norwegischen Nobelkomitees, Willy Brandt für seine Politik der Ostverträge Ende 1971 den Friedensnobelpreis zu verleihen, volle Unterstützung aus allen politischen Lagern in Norwegen. Zwar gab es in Norwegen, schon allein wegen des Zweiten Weltkrieges, antideutsche Vorbehalte. Aber mit Willy Brandts persönlicher Glaubwürdigkeit – und seiner demütigen Ehrerbietung durch den Kniefall des Bundeskanzlern am Mahnmal für die im Warschauer Ghetto ermordeten Juden am 7. Dezember 1970 – waren bei uns antideutsche Zweifel verschwunden.

Im Gegenteil, wir alle in Norwegen waren stolz auf den einzigen internationalen Staatsmann, der fließend norwegisch sprach und am 10. Dezember 1971 den Friedensnobelpreis aus der Hand der Vorsitzenden des Nobelkomitees, Aase Lionæs, erhielt, die bereits vor dem Krieg 1938 Willy Brandt kennen gelernt hatte, als sie Mitglied im Osloer Stadtrat war.

In seiner programmatischen Rede in Oslo am 11. Dezember 1971 erläuterte Willy Brandt die Grundlinien seiner Friedenspolitik, die in ungewohnter Klarheit Krieg als Mittel der Politik prinzipiell ausschloss: „Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen. ...Jede Außenpolitik muss dieser Einsicht dienen. ... Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio. Auch wenn das noch nicht allgemeine Einsicht ist: Ich begreife eine Politik für den Frieden als wahre Realpolitik dieser Epoche.“

Darauf aufbauend, erläuterte Willy Brandt die konkreten Prinzipien und Ziele seiner Entspannungspolitik. Seine beruhigende und inspirierende Art, sein Mut und seine Entschlossenheit, über die Ostverträge und die KSZE in Europa ein „Gebäude des Friedens zu errichten“, beeindruckte uns, ebenso wie sein klares Fundament: „Der Gewaltverzicht muss ein Gesetz werden, das jeder Staat respektiert und das Interventionen ausschließt.“ Damals wusste niemand, ob diese friedliche Runderneuerung der europäischen Sicherheit wirklich Erfolg haben konnte. Aber wir hatten mit Willy Brandt Vertrauen in die neue deutsche Außenpolitik gewonnen.

Troubleshooter im Auftrag von Willy Brandt

Für deutsche Leser möchte ich das etwas erläutern: Als – von der Bevölkerungszahl – kleines Land musste sich Norwegen außenpolitisch stets anpassen. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges wurde 1945 Großbritannien – wo auch unser König vor der deutschen Besatzung Zuflucht gefunden hatte – unser natürlicher Haltepunkt in Europa. Mit der Gründung des Sekretariats des Commonwealth 1965 schien sich das Britische Königreich wieder stärker an globalen Aufgaben als an seinen europäischen Nachbarn zu orientieren. Deshalb war es für Norwegen von besonderem Wert, Deutschland seit Willy Brandt ohne jede Großmachtarroganz unsere Anliegen als kleine Nation sehr ernst nahm. Zugleich hatte er uns überzeugt, dass die deutsche Politik der Kooperation statt der Konfrontation zur Erhaltung des Friedens in Europa beitragen würde. Willy Brandts Politik trug nicht nur im Verhältnis zwischen West- und Osteuropa dazu bei, Konflikte durch Dialog und Zusammenarbeit zu lösen.

Er inspirierte uns und die anderen nordischen Länder, ihre „Schwäche“ als kleine Länder zur Stärke zu machen: Nordische Blauhelmsoldaten engagierten sich verstärkt bei friedenssichernden UNO-Einsätzen, um Konfliktparteien zu trennen und zwischen ihnen zu vermitteln.

Als Präsident der Sozialistischen Internationale (SI) 1976-1992 unterstützte Willy Brandt auf vielfältige Weise Friedens- und Abrüstungsinitiativen. Persönlich arbeitete ich als Mitglied im Rat der SI (1969-1987) eng mit Willy Brandt zusammen bei Initiativen zur Lösung von Konflikten. Er verstand es immer wieder, die Besonderheiten eines Konfliktes zu berücksichtigen und zugleich Wege zu finden, ihn durch direkten Dialog mit den Beteiligten zu deeskalieren.

Mehrfach setzte er mich als „Trouble Shooter“ ein. Einen Auftrag von Willy Brandt zur Konfliktvermittlung werde ich nie vergessen: Als er mich bat, in Nicaragua zwischen Sandinastas und Kontras zu vermitteln, lehnte ich zunächst ab: „Ich kann kein Spanisch, war nie in Nicaragua und kenne nicht die Konfliktparteien“. Aber Willy Brandt antwortete: „Thorvald, gerade weil Du die Konfliktparteien, ihre Sprache und ihr Land nicht kennst, hast Du beste Chancen, Deinen gesunden Menschenverstand einzusetzen und mit den Parteien einen vernünftigen Kompromiss für ein Friedensabkommen auszuhandeln“. Ich akzeptierte seinen Auftrag – und der Erfolg gab Willy Brandt Recht...

Aus heutiger Sicht erwies sich Willy Brandts Entspannungspolitik als die bestmögliche und erfolgreiche Anwendung der Charta der Vereinten Nationen zur Überwindung der im Kalten Krieg festgefahrenen Spannungen in Europa: Willy Brandts Politik hatte den Boden den friedlichen Fall der Mauer das Ende des Kalten Krieges vorbereitet – bereits nach 20 Jahren! Nach der Herstellung der deutschen Einheit und dem Ende des Kalten Krieges konnte Willy Brandt viele positive Veränderungen in Europa erleben:

Hunderttausende Soldaten wurden aus Mitteleuropa abgezogen, alle Mittelstreckenraketen wurden verboten, zigtausende Panzer und tausende von Atomwaffen aus Europa entfernt und vertraglich vernichtet. 1995 wurde der Atomwaffensperrvertrag (NPT) unbefristet verlängert und von fast allen Staaten der Erde ratifiziert – nachdem sich die Atommächte verpflichtet hatten, das ausgehandelte vollständige Atomtestverbot (CTBT) zu ratifizieren und schrittweise sämtliche Atomwaffen abzurüsten.

Wir Norweger konnten uns für Veränderungen – ganz im Sinne von Willy Brandt –erfolgreich engagieren, z.B. für die Durchsetzung der UN-Konventionen zum Verbot von Landminen und Splitterbomben, in enger Zusammenarbeit mit befreundeten Regierungen und internationalen Gruppen der Zivilgesellschaft. Und Norwegen hat wiederholt geholfen, Dialog und Verhandlungen zur Beendigung von bürgerkriegsähnlichen Konflikten zu organisieren, z.B. derzeit zwischen Kolumbien und der FARC.

Willy Brandts Vermächtnis heute

Seit dem Ende des Kalten Krieges leben wir in Europa freier und offener als je zuvor. Die Anzahl der Kriege und Konflikte insgesamt nahm ab, aber einige rückten uns auch sehr nahe – der Jugoslawien-Krieg, der 11. September, Afghanistan, Irak, der Krieg gegen den Terror oder die Konflikte im Nahen Osten.

Auch die Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle stagnieren: Das 1996 ausgehandelte umfassende Atomtestverbot (CTBT) ist noch immer nicht in Kraft, Atomwaffen der USA und Russlands wurden zwar reduziert, werden aber weiter modernisiert und befinden sich weiterhin im „High Alert“-Zustand. Unilateralismus prägt mehr das internationale Krisenmanagement als das Gebot der Zusammenarbeit.

Deshalb haben sich in den USA und anderen Ländern u.a. 4er-Gruppen von „Elder Statesmen“ gegründet, um die Verpflichtung zur Zusammenarbeit bei der atomaren Abrüstung anzumahnen. Weil aus ihrer Sicht mehr Miteinander statt Gegeneinander beim Umgang mit Krisen und Konflikten dringend erforderlich ist, erinnerte die deutsche Gruppe der „Elder Statesmen“ – Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Egon Bahr und Hans-Dietrich Genscher – aus Anlass des 40. Jahrestags der Verleihung des Friedensnobelpreises an Willy Brandt am 11.12.2011 daran, dass die in seiner Osloer Rede entwickelten Prinzipien auch zur Bewältigung der Konflikte des 21. Jahrhundert genutzt werden sollten.

Ich persönlich stimme dieser Mahnung durchaus zu und möchte drei Ergänzungen zur Verwirklichung von Willy Brandts Vermächtnis nach dem Ende des Kalten Krieges formulieren.

Erstens: Mehr Offenheit und Demokratie! Man sollte dem Terror mit mehr Offenheit und Demokratie (d.h. nicht „Naivität“!) begegnen, und nicht mit mehr Verschlossenheit und weniger Demokratie! Als wir in Norwegen am 22. Juli 2012 dem Terror und Massenmord durch eine Person ausgesetzt waren, haben wir zu Tausenden mit mehr Offenheit und mehr Demokratie geantwortet. Das Ergebnis war breiteste Solidarität und Unterstützung aus allen Strömungen unserer Gesellschaft. Und der vom Gericht verurteilte Terrorist und seine Ideologie waren grenzenlos isoliert, trotz oder gar wegen aller Offenheit. Diese Reaktion war anders als die Reaktion von Präsident Bush auf den 11. September 2001.

Zweitens: Dynamik von Konflikten nur durch Dialog zu lösen! Wir können KRIEG nicht „weg“erfinden, und alle Konflikte sind verschieden. Aber wir müssen lernen, anders mit der Dynamik von Konflikten umzugehen! – Auch das ist eine Lehre von Willy Brandt! Und die liegt mir persönlich sehr am Herzen: Man kann die Dynamik von Konflikten nur dann deeskalieren, wenn man mit ALLEN spricht, die im Konflikt Macht haben. Wenn man nicht direkt mit einer Konfliktpartei redet, kann man auch keine Vereinbarung erzielen! Das heißt Kommunikation zwischen und mit Konfliktparteien ist Voraussetzung für jede tragfähige Konfliktlösung.

Drittens: Den Kompromiss aufwerten, denn ohne Kompromisse keine Problemlösung! Kompromisse und Kompromissbereitschaft sind Voraussetzung für JEDE Problemlösung – ob in der Familie, in der Gesellschaft, lokal oder international. Das heißt, dass wir unsere Herangehensweise an Konfliktlösungen ändern müssen: Wir sollten aufhören, den Kompromiss nur als „notwendiges Übel“ oder als etwas darzustellen, was wir unter „anderen“ Bedingungen wieder in Frage stellen. Nur die Bereitschaft zum Kompromiss, zum Interessenausgleich und zur Respektierung des Anderen und seiner Andersartigkeit kann in der globalisierten Welt den Weg zum Zusammenleben und zur friedlichen Veränderung eröffnen. Gerade dies war das Geheimnis des Erfolges der Politik Willy Brandts, die zur friedlichen Öffnung und Vereinigung Europas geführt hatte. Die Alternative, die Kompromisslosigkeit bei der Durchsetzung der eigenen Interessen und Werte, hat in der Regel nur eine Konsequenz: Erzwingung, Gewalt und Krieg. Lasst uns daher den Kompromiss als Prinzip wieder höher bewerten: Der Kompromiss ist die Voraussetzung für Frieden und Entwicklung.

Aufgezeichnet und aus dem Norwegischen übersetzt von Wolfgang Biermann

Thorvald Stoltenberg

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