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Alltag und Verbrechen. „Es gibt Orte, da passiert jeden Tag irgendwas“, sagt Franziska Giffey. Der S-Bahnhof Neukölln gehört dazu.

© imago/Olaf Selchow

Zukunft der Berliner SPD: Franziska Giffey - die Entschiedene

„Ich will gar nicht den Ruf einer Hardlinerin“, sagt Franziska Giffey. Hat sie aber. Die Neuköllner Bürgermeisterin profiliert sich als Hüterin von Recht und Ordnung – über ihren Bezirk hinaus.

Die Musik ist gewöhnungsbedürftig. Zwei Mitglieder des Musik Collegiums Berlin spielen einige Dutzend Nationalhymnen an, ein paar Takte, dann folgt die nächste. Manchmal gleitet ein Lächeln der Erkenntnis über einzelne Gesichter der etwa 50 Frauen und Männer im Saal der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung. Heute wird hier Einbürgerung gefeiert. Bei der letzten Melodie des Potpourris springen zwei Frauen und ein Mann auf und stehen stramm. Es ist die türkische Nationalhymne.

Franziska Giffey, die Bürgermeisterin, tritt ans Pult, die schwere Amtskette um den Hals. „Ich brauche Sie alle!“, sagt sie frohgemut und offen lächelnd. „Was wäre Berlin arm ohne Menschen, die aus aller Welt gekommen sind?!“

Leute lächeln zurück, Leute klatschen, Frauen mit Kopftuch und auch der Mann, der eben noch strammgestanden hat, als seine Hymne angespielt worden ist. Das Nationale tritt in den Hintergrund – jetzt ist hier Neukölln.

Sie flirtet nicht mit Machtansprüchen

Diese Politikerin kann Menschen gewinnen mit ihrer offenen Art. Manche, die sie kennen aus Neukölln und die den Berliner Politikbetrieb betrachten, schwärmen deshalb ganz offen von der „nächsten Bürgermeisterin“ und meinen: für ganz Berlin. Es sind Leute, die denken, dass zum Amt des Regierenden mehr gehört als Bürokratie und Machttechnik, nämlich Ausstrahlung, Charme und ein Gefühl für die Stadt. Das, was Klaus Wowereit hatte.

Doch Franziska Giffey flirtet nicht mit Machtansprüchen und entgegnet, in Neukölln gebe es noch genug zu tun. Schwer zu sagen, was sie vorhat. Ehrgeizig ist sie jedenfalls und ständig im Gespräch. Sie baut jetzt die Koordinierungsstelle für den Schulbau in ganz Berlin auf. An diesem Donnerstag wirbt sie mit dem Berliner Integrationsbeauftragten im Neuköllner Rathaus für die „interkulturelle Öffnung“ der Ausbildungsbetriebe. Auf der landespolitischen Bühne der SPD hat sie noch keine Ambitionen erkennen lassen. Allerdings ist das auch die Bühne, auf der man sich derzeit vor allem gegenseitig fertigmacht.

Direkt – und politisch unkorrekt

Eindeutig ist: Franziska Giffey arbeitet an ihrem Politprofil. Sie tritt, je nach Anlass, entschieden auf oder herzlich. Und sie hat ein klares Politikverständnis mit in das Bürgermeisterbüro in der ersten Rathausetage gebracht, von dem man die Karl-Marx-Straße im Blick hat mit ihren Migrantinnen in bodenlangen Mänteln, den Bomberjackenträgern und den Barbershop-Hipstern. Kaum im Amt, ließ sie sich auf einen Streit mit einer jungen Rechtsreferentin darüber ein, ob diese mit Kopftuch im Rechtsamt arbeiten dürfe.

Giffey war dagegen, kämpfte für das Neutralitätsgesetz. Ihre Landes-SPD haderte, war unentschieden, wie so oft, wenn es darum geht, Konflikte auszufechten und Positionen zu beziehen. Giffey sagte damals, es wäre gut, wenn auch die SPD-Landesebene mal sagte: Das ist ein Thema für die ganze Stadt.

So ist sie, die 39 Jahre alte Sozialdemokratin. Direkt – und politisch unkorrekt wie ihr Vorgänger Heinz Buschkowsky, wenn es um die Schwierigkeiten ihres Bezirks geht. Bloß ein bisschen weniger düster als der, wenn Perspektiven gefragt sind. Buschkowsky hat die Politikwissenschaftlerin, geboren in Frankfurt an der Oder, aufgewachsen auf dem Land an der Grenze zu Polen, 2002 ins Bezirksamt geholt, als Europabeauftragte.

In einem Punkt ist sie ganz Buschkowsky

„Holen Sie Europa-Kohle nach Neukölln“, zitiert sie ihren Vorgänger. 2010 wurde sie Stadträtin für Bildung, Schule, Kultur und Sport, 2015 dann, als Buschkowsky in den Ruhestand ging, Bürgermeisterin. Die Regeln, die besagen, wie man miteinander umgeht, die Regeln, die die Gesellschaft ordnen – Giffeys Politikverständnis dreht sich darum, diese Regeln deutlich zu machen und dafür zu streiten. Da ist sie ganz Buschkowsky.

Derzeit zeigt die Bürgermeisterin mithilfe der Polizei und des Ordnungsamts, mit dem Gewerbeamt, dem Zoll und einer neuen „Staatsanwaltschaft vor Ort“, dass Gesetze für alle gelten. Auch für kriminelle Mitglieder arabischer Großfamilien. Alle paar Wochen gibt es neuerdings Einsätze und Kontrollen, in Schischa- Bars und Wettbüros, in Restaurants und Imbissen. Dann sind Leute von den Behörden zusammen mit einer Menge Polizisten unterwegs, überprüfen Personalausweise und Gewerbescheine und ziehen später Bilanz, neuerdings auch mit einer Staatsanwältin oder einem Staatsanwalt mit Zuständigkeit für Neukölln und einem Arbeitsplatz im Amtsgericht neben dem Rathaus.

Serienweise Anzeigen wegen Falschparkens

Das Projekt geht auf ein Gespräch zwischen der Bürgermeisterin und Generalstaatsanwalt Ralf Rother zurück. Giffey hat es angestoßen, sie will, dass die Strafverfolger die Szene kennen, in der sie ermitteln, nicht bloß die Ermittlungsakten. Und dass sie früh aufmerksam werden auf neue Entwicklungen der Organisierten Kriminalität.

Einer von vielen Anlässen ist die „massive Zunahme von Drogenkonsum im öffentlichen Raum“, wie Franziska Giffey sagt. Aber das ist nicht alles. In Neukölln leben auch acht der zwölf bis vierzehn arabischen Clans in Berlin. Die Clans, sagt die Bürgermeisterin, durchliefen die klassische Mafia-Entwicklung: Sie versuchten, illegal beschafftes Geld legal zu investieren, in Immobilien zum Beispiel. Sie bildeten „Strukturen, die erstarken“. Und sie könnten sich „die besten Anwälte“ leisten.

Bei den Kontrollgängen an beliebigen Abenden oder in Wochenendnächten werden serienweise Anzeigen wegen Falschparkens oder wegen Schwarzarbeit geschrieben, es werden Personalien überprüft, um zu sehen, wer wen wo trifft. Gelegentlich werden auch Kriminelle festgenommen.

Regellosigkeit als Voraussetzung der Berliner Freiheit

Die Staatsanwaltschaft ist dabei, um die Strukturen kennenzulernen und Verbindungen herzustellen, zum Beispiel zur Abteilung für Organisierte Kriminalität. Es sei ein Versuch, sagt ein leitender Ermittler. In Behörden versickerten viele Informationen, weil Mitarbeiter nicht wüssten, an wen man sie am besten weitergeben oder wen man ansprechen solle, wenn Clanmitglieder ständig dem Ordnungsamt oder dem Polizeiabschnitt auffielen. Ach, der Soundso hat zum achten Mal eine Polizistin angespuckt? Dann werde das jetzt angeklagt. Oder wenn Bürger sich beschwerten, weil nachts im Hof ständig Lkws ausgeladen würden – dann könnte das Kollegen von der OK-Abteilung interessieren. Giffey sagt: „Wir müssen besser organisiert sein als die organisierte Kriminalität.“

Sicherheitspolitisch kann man in Berlin vier verschiedene Methoden erkennen: Die Polizei nimmt sich Brennpunkte vor – oder brennende Themen wie beispielsweise die Raser. Dann werden Schwerpunkteinsätze organisiert. Giffeys Parteifreund, Innensenator Andreas Geisel, setzt Zeichen, doch es dauert, bis etwas passiert – siehe Gewalt am Alexanderplatz. Repression? Im Görlitzer Park verwarf er die Null-Toleranz-Politik gegenüber Kiffern und Dealern von seinem Vorgänger Frank Henkel.

Dann gibt es die Methode Monika Herrmann. Die Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg vermittelt, dass Regellosigkeit zu den Voraussetzungen der Berliner Freiheit gehört, Freiheit zum Kiffen, zum Feiern, zum Rebellieren. Ist eben so – so ist Berlin.

„Frau Giffey, machen Sie was!“

Und schließlich sind da Politiker wie der grüne Bürgermeister von Mitte, Stephan von Dassel, oder wie Franziska Giffey, die gegen Zustände vorgehen, die sie für indiskutabel halten. Wenn Menschen aus Südosteuropa in Parks übernachteten und der Sandkasten auf dem Spielplatz als Toilette benutzt würde, höre sie von den Bürgern: „Frau Giffey, machen Sie was!“ Sie sagt: „Wir müssen vor Ort reagieren. Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass sie Parks und Grünanlagen für ihren vorgesehenen Zweck nutzen können und wir für geordnete Verhältnisse sorgen. Gleichzeitig müssen wir Menschen, die im Elend leben, auch helfen.“

Das ist ein Vorteil der oft so klein wirkenden Bezirkspolitik: Man sieht, wie alles mit allem zusammenhängt.

Aus ihrer Stadträtinnenzeit weiß Giffey, was es an sozialem Elend gibt im Bezirk. Viele Kinder hätten schlechte Startbedingungen. „Wie schaffen wir es, dass sie doch eine Chance haben?“14 Prozent der Schüler in Neukölln schafften den Schulabschluss nicht. „Mein Hauptwunsch: dass mehr Leute auf ihren eigenen Beinen stehen und ihren Weg gehen können“ – in der Legalität.

Giffey betont, dass sie „mit Leib und Seele Sozialdemokratin“ und für Solidarität, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit sei. „Aber ich bin auch dafür, dass sich Menschen an Regeln halten.“ Das ist für sie eine Voraussetzung dafür, das Leben hinzubekommen.

Eine Neuköllner Version des früheren New Yorker Bürgermeisters?

Da hängt alles mit allem zusammen. Soziale Herkunft, Schulbildung, Entwicklung, Chancen – und am Ende auch die Kriminalität. In Neukölln gab es im Schuljahr 2015/16 insgesamt 990 Verfahren gegen Schulschwänzer, 2016/17 waren es mehr als tausend. Auch in Mitte oder Spandau werden Schulversäumnisse in beträchtlichen Größenordnungen angezeigt. Doch während in anderen Bezirken Bußgeldverfahren allenfalls im zweistelligen Bereich verzeichnet werden – und in Friedrichshain-Kreuzberg gar keine –, wurden in Neukölln 2015/16 exakt 542 Bußgeldverfahren angestrengt, im Schuljahr darauf 447.

Wenn die betroffenen Eltern nicht gleich zahlen könnten, werde Ratenzahlung vereinbart, sagt Franziska Giffey. „Es ist noch keiner in Erzwingungshaft gegangen. Wir treten dafür ein, dass im Interesse der Kinder Regeln durchgesetzt werden. Auf der anderen Seite reichen wir auch an vielen Stellen die Hand: mit Schulsozialarbeit, Elternarbeit, Hausaufgabenhilfe, Sprachmittlern, Lesepaten und Mentoringprogrammen.“

Aber sie sieht sich nicht als Neuköllner Version des früheren New Yorker Bürgermeisters Rudy Giuliani, der die berühmt-berüchtigte „Zero Tolerance“-Politik durchzog. „Ich mag Berlin sehr“, sagt sie, „es gibt viele tolle Leute. Die sagen: Wir müssen uns was einfallen lassen und selbst was tun.“

Grizzly Bar, MLPD-Geschäftsstelle, Töpferkurs in der Kunstgalerie

Ihr Rathaus liegt im Neuköllner Norden. Da, wo die neuen Neuköllner auf die alten treffen. Die Reuterstraße, die Weserstraße, das sind die Altbaugegenden, die groß in Mode sind. Ein junger Mann in Camouflage-Jacke, Glatze und Gesicht komplett tätowiert, geht seines Weges. Grizzly Bar, MLPD-Geschäftsstelle, Töpferkurs in der Kunstgalerie, Babbo Bar, ein Ladenlokal ist zur Galerie geworden, in der eine junge Frau senkrechte Striche, drei, vier Zentimeter lang, auf ein Papierblatt zeichnet, einen nach dem anderen, von links nach rechts, immer blockweise.

Die Gegend ist doppelt attraktiv: für die, die ein Großstadtleben leben wollen, mit oder ohne Vollbart, jedenfalls mit Fahrrad. Und für die Clans, die erkannt haben, wie man illegales Geld legalisiert: in „Spielcasinos“, in denen nichts los ist. In Friseursalons ohne Kunden.

Und in Mietshäusern. Nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft und des Neuköllner Bezirksamts ist das das neue Clan-Geschäftsmodell. Kaufe ein altes Haus. Vermiete es an die Hipster. Oder vermiete es bettenweise an Leute, die sonst nirgendwo unterkommen. Da ist die Präsenz der ordnenden Behörden mitsamt der Staatsanwaltschaft vor Ort so etwas wie eine Erinnerung des Staates an die Existenz von Recht und Ordnung. Und die Staatsanwaltschaft vor Ort, so sieht es die Bürgermeisterin, sei ein Beweis dafür, dass „endlich mehr geschieht, um denen, die Recht und Gesetz missachten, die Rote Karte zu zeigen“.

„Videoüberwachung kann Beweise liefern“

Bei ihrer Partei vermisst sie Entschiedenheit. Auf dem jüngsten Parteitag wurde ein sicherheitspolitischer Leitantrag zum „Impulspapier“ degradiert. „Ich will für diese Stadt was machen: pragmatische Politik! Ich will gar nicht den Ruf einer Hardlinerin. Wieso ist man Hardliner, wenn man will, dass Regeln durchgesetzt werden?“

Zum Streit um die Videoüberwachung des öffentlichen Raums, die der Innensenator nur ausnahmsweise und unter speziellen Bedingungen zulassen will, sagt sie: „Temporär und anlassbezogen, ich denke, das reicht an einigen Stellen nicht. Es gibt Orte, da passiert jeden Tag irgendwas. Allein am S- und U-Bahnhof Hermannstraße haben wir 3000 Straftaten im Jahr. Videoüberwachung kann Beweise liefern, etwa gegen Dealer, sodass Recht vollzogen werden kann. Wenn ich mit Bürgern im Bezirk ins Gespräch komme, sagt mir keiner: Ich bin dagegen.“

Franziska Giffey lässt keine Frage ohne Antwort.

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