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Zeitgeschichte: Die Teilung überwunden

Wie gehen Jugendliche in Ost- und Westdeutschland mit der Vergangenheit vor 1989/1990 um? Diese Fragen erforscht der Wissenschaftler Martin Kriemann.

Wir können Ihnen eigentlich nichts erzählen!“ Diesen Satz hat Martin Kriemann oft gehört während seines Promotionsprojektes. Und dann haben sie doch erzählt. Manchmal eine Stunde, manchmal vier Stunden. Über den Opa, der in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) war, den Vater beim Ministerium für Staatssicherheit – Nachrichtendienst, Geheimpolizei und zugleich Machtinstrument der SED – und dass die Mutter sich in der Kirche engagiert hat, gegen den Staat. Dass der Vater vergeblich über die ZDF-Fernsehshow „Wetten, dass ...“ Kontakt zu seinen Verwandten jenseits der Mauer suchte.

Kriemann ist viel gereist durch Deutschland: 18 Gruppen hat er getroffen, im Schwarzwald und in Brandenburg, Studierende in Jena, Schüler in Bremen und Sportlerinnen in Stralsund. „Lebenswirklichkeiten nach dem Mauerfall“ lautet der Arbeitstitel der Dissertation, die Martin Kriemann am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität schreibt. Er wird dabei von der Bundesstiftung Aufarbeitung mit einem Stipendium gefördert.

Jugendliche sind auf der Suche nach ihren gemeinsamen Wurzeln

„Das Bild vieler Menschen von der Jugend ist klischeehaft“, sagt er. „Es heißt oft, junge Menschen sind unpolitisch, der Geschichte gegenüber gleichgültig, und der Tag der Deutschen Einheit bedeutet für sie vor allen Dingen eins: schulfrei.“ Das Erstaunliche sei, wie diese Erwartungshaltung die Jugendlichen beschäftige und wie wenig zutreffend diese gleichzeitig sei. Zwar kämen einerseits Antworten wie: „Ich wurde 1991 geboren. Ich bin da raus“, andererseits habe sich in den Gesprächen gezeigt, dass die Jugendlichen aus Ost und West nach gemeinsamen Wurzeln und ihrem Platz in der Gesellschaft suchten.

„Das zeigt, dass man die Jugendlichen sozusagen abholen und den Willen zeigen muss zu verstehen, was sie tatsächlich bewegt, wenn sie sich mit der DDR auseinandersetzen“, sagt Martin Kriemann. Es geht ihm darum herauszufinden, welche Motive sie haben, sich mit Geschichte zu befassen und welche Zugänge sie nutzen. „Ich habe hierbei eine erziehungswissenschaftliche Perspektive: Wie wird ein geschichtliches Thema angenommen? Wie wird es verarbeitet? Und wie wird es weitergegeben?“

Rekonstruktion von Erfahrungswissen

Um diese Fragen wissenschaftlich überprüfbar zu beantworten, bedient Kriemann sich der sogenannten Dokumentarischen Methode der qualitativen Sozialforschung. Anders als etwa bei statistischen Umfragen ist die Zahl der Teilnehmenden an solchen Studien verhältnismäßig gering. Ziel dieser Methode ist es, Handlungen der Studienteilnehmer vor dem Hintergrund eines nicht explizierten Kontextwissens zu beurteilen, das die Mitglieder der Studie als jeweilige Gruppe teilen. Mit anderen Worten: Martin Kriemann rekonstruiert aus dem Verlauf der geführten Gespräche das Erfahrungswissen über die Geschichte der DDR und den spezifischen Umgang mit ihr.

Dabei stand zu Beginn einer jeden Diskussion eine offene Frage im Raum: Wie habt ihr bemerkt, dass Deutschland einmal ein geteiltes Land war? „Im Anschluss an das jeweilige Gespräch bekamen die Teilnehmenden einen Fragebogen zu den biografischen Kerndaten und spezifischen Fragen: ob sie schon einmal eine Gedenkstätte zur deutschen Geschichte besucht haben, in welchen Zusammenhängen sie schon etwas über die DDR gehört haben oder ob sie Menschen kennen, die in der DDR gelebt haben.“

Teilnehmen durften an der Studie Personen der Jahrgänge 1989 bis 2004, also ausschließlich solche, deren Wissen über die DDR sich auf Erzählungen der Eltern, der Lehrerinnen und Lehrer, auf Bücher sowie Informationen aus Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen und Internet stützt. „Diese Gruppe hat ein Expertenwissen über den Umgang mit der deutschen Teilung, denn nur sie kann erzählen, wie es ist, mit einer Vergangenheit konfrontiert zu werden, die sie nicht selbst erlebt hat“, sagt Kriemann.

Die eigene Familiengeschichte verstehen

Derzeit wertet der Erziehungswissenschaftler die Ergebnisse der Gruppendiskussionen aus, aber erste Rückschlüsse darauf, wie die befragte Alterskohorte mit der Vergangenheit umgeht, ließen sich schon erkennen. Diese Generation habe verinnerlicht, nichts Falsches sagen zu wollen, sagt Kriemann. Sie erlebe den gesellschaftlichen Druck, sich mit etwas befassen zu müssen, das zum Teil weit weg, abstrakt und schwer begreifbar sei. Dennoch werde deutlich, dass die nationale Geschichte auch persönlich wichtig sei, um die eigene und die Familiengeschichte besser verstehen und einordnen zu können.

Dabei werde die Erinnerungskultur als eine Norm an sie herangetragen, an der sie sich abarbeite. „Zum Beispiel habe ich in Jena in einer Gruppe von Studierenden beobachten können, wie alte Stereotype aufgegriffen und ironisch gebrochen werden“, sagt Kriemann: „Da sagte einer aus der Runde zu einem anderen: ,Na, hast du heute keine Bananen bei Aldi bekommen?‘ – und dann wurde gefrotzelt und gelacht.“ Das Thema Mangelwirtschaft im Osten und Konsum im Westen, das die Gesellschaften während der Teilung und in den ersten Jahren nach der Vereinigung stark geprägt hat, bestehe als Motiv also fort, obwohl die Jugendlichen selbst diese Zeit nie erlebt haben und sie nur aus Erzählungen kennen.

Der Ballast vorheriger Generationen

„Die jungen Menschen greifen diese alten Sprüche auf und machen sich darüber lustig. Sie stellen als Gruppe damit eine Gemeinschaft her und grenzen sich ab von den Menschen, die die Teilung erlebt haben.“ Sie hätten die Sozialisation und Erfahrungen der Eltern eher als „generationalen Ballast“ erlebt, weil über diese vor allem eine Orientierung an Differenz tradiert werde. „Davon wollen sie sich lösen", erläutert Martin Kriemann.

Die Zugehörigkeit zu einer Generation und Nation sei zwar ein gemeinsam geteilter Horizont der Jugendlichen. Gleichzeitig beeinflussten jedoch die Erfahrungen der Eltern auch ihren Umgang mit der Teilungsgeschichte. „Sie befinden sich sozusagen in einem Dilemma, sie wollen sich lösen und benötigen gleichzeitig den Bezug auf die Erfahrungen der Elterngeneration“, sagt Kriemann.

Dies zeige, dass sich die Jugendlichen nicht mehr hauptsächlich den Kategorien Ost und West zuordneten, sondern es überregional und durch alle Gesellschaftsschichten um eine Abgrenzung von den älteren Generationen gehe. „In dieser Hinsicht ist die Teilung unseres Landes mittlerweile überwunden“,

Der Wissenschaftler vermutet, dass dabei besonders der Erziehungsstil in den Familien prägend ist für den Umgang mit der eigenen Geschichte: Vorurteile und Stereotype würden dort eingesetzt zur Abgrenzung und zur Sicherung des eigenen Milieus. „Wie die Vergangenheit in der Familie erlebt wird, kann entweder ein Interesse an Diversität fördern oder die Perpetuierung des eigenen eingegrenzten Weltbildes zur Folge haben“, sagt er.

Das Dilemma der Vergangenheitsbewältigung im Osten

Einen interessanten Nebenbefund brachte die zu Kontrollzwecken der Studie erhobene Befragung älterer Generationen: „Vor der Wende Geborene aus dem Osten erleben bei der Vergangenheitsbewältigung ein Dilemma: Sie grenzen sich zwar von ihren in der Nachkriegszeit geborenen Eltern ab, sind aber mit ihren Erfahrungen einer Kindheit in der untergehenden DDR alleine.

Sie können sich nicht mit den Nachwendegeborenen über ihre Erlebnisse austauschen und nicht mit den Vorwendegeborenen aus der alten Bundesrepublik“, konstatiert Martin Kriemann. „Für diese Gruppe ist der Abgleich zwischen Familiengeschichte und nationaler Geschichte unglaublich schwierig, weil die Wende hier noch immer einen großen Bruch darstellt.“

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