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In Dahlem angekommen: Die Juristin Esra Demir-Gürsel und der Mathematiker Kivanç Ersoy.

© Bernd Wannenmacher

Wissenschaftler im Exil: Die Universität als sicherer Hafen

Erstmals ist die Freie Universität Gastgeberin für den Weltkongress von „Scholars at Risk“. Das internationale Netzwerk ermöglicht bedrohten Wissenschaftlern einen Neustart im Exil.

Es war so wenig, was wir tun konnten. Aber selbst für dieses Wenige wurden viele Menschen bestraft“, sagt Esra Demir-Gürsel. Damals, im Januar 2016, wurde eine große Zahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Türkei nach der Veröffentlichung eines Friedensaufrufs Ziel von heftigen Attacken. In dem offenen Brief hatten mehr als 2000 von ihnen ihre Regierung aufgefordert, die Militäreinsätze in den kurdischen Gebieten zu stoppen und den Friedensprozess mit Vertretern der kurdischen Bevölkerungsgruppe wieder aufzunehmen. Auch Esra Demir-Gürsel hatte die Petition damals ohne Zögern unterzeichnet. Angesichts der drohenden Strafverfolgung und der Entlassung durch ihre Universität verließ sie neun Monate nach Veröffentlichung des Aufrufs die Türkei. Später kam sie dann über das Netzwerk „Scholars at Risk“ (SAR) an die Freie Universität Berlin.

„Scholars at Risk“ ist ein internationales Programm, in dem mehr als 500 Hochschulen und Forschungseinrichtungen in etwa 40 Staaten zum Schutz der wissenschaftlichen Freiheit zusammenarbeiten. Gemeinsam setzen sie sich für die Menschenrechte von Forschenden und Lehrenden ein, die in ihren Heimatländern bedroht sind. Die Freie Universität trat dem Netzwerk 2011 als erste deutsche Hochschule bei und ist seit 2013 förderndes Mitglied. Die Hilfe für bedrohte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler setzt auf vielen Ebenen an: „Scholars at Risk“ organisiert Solidaritätskampagnen, berät Betroffene und dokumentiert Menschenrechtsverletzungen. Vor allem aber hilft das Netzwerk bei einem Neuanfang im Exil, indem es Gastaufenthalte an den Mitgliedseinrichtungen vermittelt.

Das sei ein komplizierter Prozess, sagt Stefan Rummel, der die Geförderten an der Freien Universität betreut. „SAR-Aufenthalte sind keine Praktikumsplätze. Es sind Forschungsstellen, die das Profil der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schärfen und eine sinnvolle Stufe ihrer akademischen Laufbahn bilden sollen.“ Die Freie Universität wurde bereits zum sicheren Hafen für mehr als zehn bedrohte Personen, vor allem aus dem Nahen Osten. Esra Demir-Gürsel arbeitet seit vergangenem Herbst mit einem Stipendium der Philipp Schwartz-Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung zum Thema Öffentliches Recht am Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin. In ihrem Forschungsprojekt beschäftigt sie sich mit den beschränkten Einflussmöglichkeiten von Menschenrechtsnormen angesichts der Zunahme von Autoritarismus und Populismus. Ungefähr zur gleichen Zeit hat auch Kivanç Ersoy seine Forschungen an der Freien Universität aufgenommen. Der 38-jährige Mathematiker führt als „Scholars at Risk“-Stipendiat seine Arbeiten zu Problemen algebraischer und endlicher einfacher Gruppen weiter, die er wegen der Repressionen des türkischen Staates hatte unterbrechen müssen.

Der Mathematiker saß in der Türkei in Haft

Esra Demir-Gürsel und Kivanç Ersoy sind immer noch spürbar aufgebracht, wenn sie vom Vorgehen des türkischen Militärs in den kurdischen Gebieten seit 2015 erzählen und von ihrer eigenen Hilflosigkeit angesichts der Gewalt. Esra Demir-Gürsel sagt: „Wir hatten einen kurzen Traum, dass Türken und Kurden friedlich zusammenleben können. Aus diesem Traum wurden wir brutal geweckt.“ Sie habe Angst, dass die Türkei eine historische Gelegenheit verpasst habe. Und Kivanç Ersoy fügt hinzu: „Als Türke schäme ich mich dafür, dass nicht alle Menschen in unserem Land die gleichen Rechte haben. So wurde ich beispielsweise in meiner Muttersprache unterrichtet – kurdische Kinder haben dieses Recht nicht. Damit sich etwas ändert, muss ich meinen Staat kritisieren.“

Die Reaktion von Präsident Recep Tayyip Erdogan auf die Petition „Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein!“ folgte in einer Fernsehansprache. Eine halbe Stunde lang beschimpfte er die Unterzeichner der Petition als Landesverräter und als Terroristen. Seitdem wurden Hunderte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fristlos entlassen; viele wurden bedroht, Reisepässe für ungültig erklärt. Kivanç Ersoy hatte nicht nur die Petition unterschrieben, sondern auch öffentlich Stellung zu den Entlassungen genommen. Gemeinsam mit drei anderen Wissenschaftlern saß er deswegen 40 Tage lang in Untersuchungshaft.

Esra Demir-Gürsels geplante Berufung zur Professorin wurde plötzlich gestoppt. Sie erzählt, dass sie sich bei ihren letzten Vorlesungen unwohl gefühlt habe, bestimmte Themen anzusprechen, da „das Reden über Frieden oder die Rechte bestimmter Leute von den staatlichen Behörden mit Terrorismus gleichgesetzt und somit kriminalisiert wurde“. Durch die Notstandgesetze nach dem gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016 verschärfte sich die Situation. Das Netzwerk der „Academics for Peace“ schreibt, viele türkische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler befänden sich in einer Situation, die als „sozialer Tod“ bezeichnet werden könne, da sie infolge ihrer Entlassung aufgrund der Notstandsverordnung nie mehr im öffentlichen Dienst arbeiten dürften, ihre Pässe ungültig gemacht worden und sie selbst stigmatisiert seien.

"Den Universitäten kommt eine immer wichtigere Aufgabe zu"

Von den Stipendiaten der Philipp Schwartz-Initiative, die Fördermittel für die Beschäftigung bedrohter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an deutschen Forschungseinrichtungen vergibt, kommen mittlerweile die meisten aus der Türkei. Kivanç Ersoy erzählt, dass die türkische akademische Exil-Community mit dem SAR-Netzwerk in engem Kontakt stehe. Außerdem hätten die Betroffenen die „Academics for Peace Germany“ gegründet, um sich innerhalb der Bundesrepublik zu vernetzen und gleichzeitig die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Türkei zu unterstützen.

Ende April werden sie den Weltkongress von „Scholars at Risk“ an der Freien Universität nutzen, um die Kontakte zu intensivieren. Erstmals findet der Kongress in Deutschland statt. Thema ist „Die Universität und die Zukunft der Demokratie“. Denn nicht nur in der Türkei ist die Freiheit der Wissenschaft bedroht. „Angesichts der Zunahme autoritärer Regime und der weltweit stattfindenden Angriffe auf die akademische Freiheit“, sagt Stefan Rummel, „kommt den Universitäten eine immer wichtigere Aufgabe zu: als Beschützer bedrohter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und als Verteidiger der Freiheit, Gedanken zu äußern, zu teilen und in Frage zu stellen.“

AKADEMISCHE FREIHEIT IN GEFAHR

Der Weltkongress zum Thema „Die Universitäten und die Zukunft der Demokratie“ findet vom 24. bis 26. April 2018 an der Freien Universität Berlin statt. Auf der internationalen Tagung berichten und diskutieren die Teilnehmer über die Bedrohung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die Gefährdung akademischer Freiheit weltweit und die Rolle von Hochschulen bei der Verteidigung demokratischer Werte. Auf dem Kongress wird auch die Philosophin und Philologin Judith Butler von der University of California, Berkeley, einen Vortrag halten. Die Konferenz des Scholars-at-Risk-Netzwerks, der Alexander von Humboldt-Stiftung und der Freien Universität ist zugleich der „Scholars at Risk Network Global Congress“, der erstmals in Deutschland stattfindet. Die Veranstaltung ist offen für Mitglieder des Netzwerks.

Das Scholars at Risk Network ist eine mit dem Institute for International Education verbundene und in New York ansässige Organisation. Das Netzwerk ermöglicht es Forscherinnen und Forschern aus Krisengebieten oder repressiven Staaten, ihre Arbeit im Ausland fortzusetzen. Es hat derzeit 511 Mitgliedsorganisationen weltweit, davon 34 in Deutschland. Die Freie Universität Berlin wurde 2011 erstes deutsches Mitglied bei Scholars at Risk und beim Scholars Rescue Fund. Mit der Philipp Schwartz-Initiative erhalten Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Deutschland die Möglichkeit, gefährdete Forscherinnen und Forscher im Rahmen eines Vollstipendiums für 24 Monate aufzunehmen. Zusätzlich besteht die Möglichkeit einer Verlängerung im Rahmen einer Kofinanzierung.

Stefanie Hardick

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