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Etwa viertausend Menschen nahmen an der Demonstration "March for Science" am 22. April 2017 in Berlin teil. Weltweit gingen Forscher, Dozenten und Studenten auf die Straße um eine freie Wissenschaft und faktenbasierte Politik zu fordern.

© Jörg Carstensen/dpa

Wissenschaft in der Verantwortung für Demokratie: Alles schwankt ins Ungewisse

Unser Zusammenleben gründet auf dem Einvernehmen darüber, was wir einander, was wir der Demokratie schulden

Von den besonderen Leistungen der Universität der Künste Berlin habe ich oft und an vielen Stellen berichtet, und ich könnte es hier wieder tun. Auf diese aber nur stolz zu sein, träfe es nicht: Wir empfinden die Arbeit in den Künsten nicht als einen Wettbewerb gegen den Rest der Welt, sondern als Herausforderung anderer Art. Wirksam zu sein und zu bleiben in einer Zeit, in der die Künste mehr und mehr als Beiwerk, als Angebot für wenige, nicht als konstitutiv für die Zivilisation gesehen werden, bindet viel Kraft und Konzentration bei allen, bei Studierenden, Lehrenden und Verwaltenden.

Ähnlich oft, aber da vor allem innerhalb der UdK Berlin, habe ich von „Exzellenz“ gesprochen und wie man dieses Wort je nach Kontext und Perspektive anders definieren muss. Es ist ein heute in Deutschland oft gebrauchtes Wort, auch bei uns in diesem Jahr, in welchem wir uns als erste künstlerische Hochschule an der Exzellenzstrategie des Bundes beteiligen. Aber auch da geht es nicht darum, andere zu schlagen, sondern um den Erfolg eines nach unserer Meinung herausragenden Projektes. Vortrefflichkeit ist jedoch ebenso in der Bestärkung eines jungen Menschen in seiner künstlerischen Entwicklung zu finden, in einem Preis bei einem großen Wettbewerb, in einer intelligenten Reaktion auf Lehrermangel in Schulen, in einem viele Studierende ihr Leben lang begleitenden Austausch mit lehrenden Künstlern und Musikerinnen. Heute aber will ich von einer anderen Aufgabe sprechen, in welcher sich Universitäten und Hochschulen aller Art um Außerordentliches, eben Exzellentes bemühen müssen - nicht nur sie, gemeinsam mit vielen anderen, aber im Dienst der Gesellschaften, die uns tragen.

Das schleichende Gift des Populismus

Schon als viele im „March for Science“ vor über einem Jahr die beklagenswerten Aussagen eines gerade ins Amt gekommenen Präsidenten einer großen Demokratie zum Anlass nahmen, deutlich Position für etwas scheinbar Selbstverständliches zu beziehen, konnte man sich nur mit Mühe einreden, eine kleine Wurzel dessen gepackt zu haben, was längst wie schleichendes Gift viele Nationen dieser Erde befallen hat: grassierende Lügenhaftigkeit, die Unterwerfung politischen Handelns unter vermeintlichen Volkswillen, das Scheitern an der Aufgabe, politische Visionen zu entwerfen und zu kommunizieren, die resignative Akzeptanz der gefühlten Tatsache, dass jeder auf sich gestellt ist, dass solidarisches Verhalten lächerlicher Luxus ist, dass es auf der Welt ein Oben und ein Unten gibt und dass man sich entsprechend zu verhalten habe. Und dazu die gelegentlich zwar in Sachzwänge gekleidete Verharmlosung von Inhumanität, zunehmend aber die blanke, unverstellte Menschenverachtung.

Wer bestimmt die Agenda unserer Tage, wer das Vokabular? Welche Themen erreichen den Küchentisch oder die Kaffeepause im Büro? Und wenn es sie gibt, was ist die Halbwertszeit von Empörung oder wenigstens kurzer Irritation jener, die täglich sich empören müssten?

Martin Rennert ist seit 2006 Präsident der Universität der Künste Berlin.
Martin Rennert ist seit 2006 Präsident der Universität der Künste Berlin.

©  Matthias Heyde

Keiner von uns, jung oder alt, sollte je vergessen, dass wir alle im Glashaus sitzen, wie groß und fragil die Ambiguitäten sind, in welchen wir uns eingerichtet haben. Doch dies zu erkennen ist keine Ausrede für Untätigkeit, sondern Aufforderung zu einem schärferen Blick auf uns selbst. Wesentliche Denker der Aufklärung fanden nur die Muße zu denken, weil ihr Einkommen aus dem Sklavenhandel reichlich floss, die Pracht der wunderbaren Städte der Atlantikküste Europas nährte dieselbe Quelle. Christliche Kirchen verantworten Opfer sonder Zahl, Mönche des Buddhismus, einer Religion des Friedens, wüten in diesen Tagen in Myanmar mit ungeahnter Brutalität, andere tun dies in Syrien und im Irak, nach ihrer Meinung im Namen des Islam und ebenfalls göttlich beseelt. Wie dünn die Firnis unserer schwer erkämpften Zivilisation tatsächlich ist, erfahren wir in diesen Tagen und Monaten gleichsam im Zeitraffer - aber nur wenn wir wollen, denn alles lässt sich leicht auch ausblenden. Zwei Stunden bevor ich dies schreibe, haben weitere einhundert Menschen im Mittelmeer ihr Leben verloren. In Italien erst geplant, wurde in Ungarn und Polen Frauenhäusern bereits alle Unterstützung gestrichen. Kinder werden in Käfige gesperrt. Ein rassistischer Spruch in der Kantine, aber auch beim Abendessen in der Familie fällt nicht wirklich auf. Aber nicht nur in Menschenrechtsfragen packt uns die gedankliche Erschöpfung, auch anderswo, wo aus unerfindlichen Gründen ausgeschlossen scheint, Steuersysteme zu entwerfen, die verhindern, dass alle in diesem reichen, aber auch in armen Ländern, bezogen auf ihr Einkommen um das Vieltausendfache mehr Abgaben für den Erhalt ebendieser Zivilisation bezahlen als ein wohlbekannter Konzern, der nimmermüde vorgibt, eine bessere Welt erschaffen zu wollen.

Eine Mehrheit wird herbeigeredet

Parlamente, gewählte Gremien, auch universitäre Senate, sind keine Veranstaltungen zur Durchsetzung einer außerparlamentarisch lautstarken Meinung. Für Wählende wie Gewählte ist das Verhalten solcher Versammlungen geradezu der Lackmus-Test für das, von dem viele meinten, sie wäre endgültig errungen: die Demokratie. Diese lebt ebenso vom Einvernehmen darüber, was sie uns schuldet, als auch von einem Konsens über das, was wir ihr schulden. Es gibt eine Bringschuld, aber auch eine Holschuld. Über Interessen informiert, aber nicht durch sie fremdbestimmt, so die Theorie, ist eine Regierung dann gut, wenn sie im Sinne aller arbeitet, nicht nur ihrer Wähler; diese wiederum agieren nur dann als Demokraten, wenn sie in kritischer Betrachtung von Information und Quellen, aufmerksam gegenüber anderen Positionen, aus Überzeugung, vor allem aber aus Gemeinsinn verantwortlich handeln und wählen.

Gerade deshalb ist es schändlich, wenn man jederzeit hinterrücks vereinnahmt werden soll, mit dem gewichtig vorgetragenen Hinweis auf „die Menschen draußen“, auf „das Volk“, welches dieses oder jenes denkt oder fühlt. Eine Mehrheit wird herbeigeredet, von welcher man postuliert, sie verspüre ein unartikuliertes, aber dumpfes Grummeln. Man möchte etwa nicht neben Jérôme Boateng wohnen, so die Vermutung einer der traurigen Gestalten, die auf das „Volksempfinden“ spekulieren. Ranschmeißen kann man sich aber auch anderswo: Wenn man schon befürchtet, neben Schurken in der Schlange beim Bäcker zu stehen, mögen sie doch bitte weiß sein, des Hochdeutschen mächtig, möglichst im Anzug. Wortwahl und Thema der nächsten globalen Kurzerregung kann man täglich aus Sprechblasen geifernder Zeitgenossen herleiten, man sieht das Koordinatensystem unserer Gemeinwesen täglich eine kleine Distanz in Bewegung. Aus einem täglichen Millimeter wird übers Jahr eine große Strecke.

So gerne verstünde man, was da passiert, würde man den Augenblick erkennen, an welchem die Aufmerksamkeit nicht groß genug war. Aber eine Suche nach Ursachen dieses vielfältigen Elends führt zu tausend Ergebnissen, in die oft lähmende Verwirrung. Einen Schuldigen jedoch sollten wir alle in der Lage sein zu benennen: uns selbst.

Denn warum packt uns nicht das kalte Entsetzen, wenn wir, in Frieden und Freiheit, in einem Sommer in Europa, sehen, wie uns ohne Mühe die zivilen, zugewandten, toleranten und fürsorglichen Grundlagen unseres Gemeinwesens gestohlen werden und wir dies willfährig zulassen? Anstand, Mitgefühl, auch Sprache und Vernunft – all das und viel mehr sind hohe Einsätze in einem üblen Spiel, in dem viele erschöpft, resigniert in den kurzen Spannen unserer Aufmerksamkeit freiwillig mitspielen oder sich dazu nötigen lassen.

Widerstand muss man in jedem Gepäck erkennen lassen

Widerstand muss man in jedem Gespräch erkennen lassen, ihn lehren, in Schulen, Universitäten und Kindergärten, in Familien und im Freundeskreis, auf der Straße. Diese Haltung muss sich äußern in friedvollem, aber standhaftem Verhalten, im mutigen Gespräch, in gedanklichem Anspruch und Klarheit, in Verständnis für Angst, die unsere Seele so leicht auffressen kann. Denn tatsächlich gibt es viele offene Fragen, dies zu leugnen wäre dumm; auch eine gute Absicht darf nicht blind machen. Aber diese Fragen nicht anzugehen im Geist der Aufklärung, im Geist der Humanität und auch der Weltreligionen, angstvoll zu hoffen, dass alle Probleme sich von selbst, ohne unser Zutun, lösen und danach das uns umgebende Elend mitsamt seiner Proponenten und Profiteure verschwindet, hieße, alles, was in jahrhundertelangen, schrecklichen Kämpfen erreicht wurde, zu verraten, zu verhökern um wenige Silbermünzen, nur um anschließend zu erkennen, dass es für diesen unermesslichen Wert keinen Preis je hätte geben dürfen.

Unsere Stadt, unser Land erhält Orte wie den unseren, Orte der Künste, des Lernens, Lehrens, Forschens, der Reflektion. Dies müssen wir unseren Mitmenschen danken, indem wir an diesen Orten Kraft und Wissen schöpfen, um mit diesen ausgestattet aus den Häusern, Ateliers und Hörsälen auf die Straße zu treten, mitten in die Gesellschaft, die wir mitgestalten wollen und müssen, um uns allen Demagogen und der Welle aus Lügen, Hass und Xenophobie entgegenzustellen.

Der Autor ist Präsident der Universität der Künste Berlin.

Martin Rennert

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