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Weltweite Symbiose. Sind alle Organismen auf der Erde voneinander abhängig und bilden – in einer Art „Symbiose aus dem Weltraum betrachtet“ – einen größeren, den ganzen Planeten umfassenden Organismus? Davon geht Lovelocks „Gaia“-Hypothese aus.

© AFP/Nasa

Zum 100. Geburtstag von James Lovelock: "Alles ist Wechselwirkung"

Gaia – die Erde als großes Lebewesen. Die Idee hat Charme, doch sie hilft nicht, Gaias Probleme zu lösen. Ein Gastbeitrag.

In diesen Wochen erleben wir neue Hitzerekorde in Belgien, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Schlagzeilen wie „Die Arktis brennt“ prangen auf Titelseiten. Fast möchte man glauben, die Erde schlüge zurück, wehre sich gegen die Spezies Homo sapiens, die die Welt dominiert und die sie – unsere Mutter Erde, auch Gaia genannt – missbraucht. Ein solcher Frevel, in fast biblischem Sinne, darf doch nicht ungesühnt bleiben?

Winzige Bakterien, riesige Sauerstoffmengen: "Alles ist Wechselwirkung"

Seit Urgedenken fragen sich Menschen, warum und wie die Erde funktioniert, wie sie entstanden ist, warum was auf ihr wächst – was für mich als Botaniker natürlich die wichtigste aller Fragen ist –, was auf ihr läuft, kriecht, fliegt oder in den unendlichen Meeren schwimmt. Dabei schweift unsere Imagination, kreisen unsere Gedanken fast immer nur um die Teile des Tier- und Pflanzenreichs, die wir mit bloßem Auge sehen können. Aber am Ende müssen wir als Menschen verstehen, dass es die Mikroorganismen sind, die die Welt beherrschen. 2019 jährt sich zum hundertsten Mal die bislang verheerendste Epidemie der durch unendlich kleine Viren ausgelösten grausamen Grippe. Sie raffte schnell über 30 Millionen Menschen dahin. Die Ausstellung „Koexistenz“, die wir am Berliner Museum für Naturkunde gemeinsam mit dem Wellcome Trust konzipiert haben, erzählt hierzu anschauliche, nachdenklich machende Geschichten über die Kraft des Winzigen. Es ist seltsam, dass wir uns „vor dem Wolf fürchten“ und von Viren nichts wissen wollen.

Ein weiteres Beispiel ist der Sauerstoff, den Sie gerade jetzt einatmen, während Sie diesen Artikel lesen. Er kommt zu einem nicht unerheblichen Teil von photosynthetisch aktivem Plankton. Dieser lebt nahe der Oberfläche der Meere und sinkt dann in die Tiefen. Dort unten wird das Plankton Teil des Sedimentes oder es wird anaerob zersetzt. „Anaerob“ bedeutet, dass es also nicht mit Hilfe des von ihm produzierten Sauerstoffes wieder abgebaut und zu Kohlendioxid umgewandelt wird. Auch dadurch, dass sich hier der Kreislauf eben nicht wieder schließt, haben wir ausreichend Luft, die wir atmen können.

Der Botaniker Johannes Vogel (56) wechselte 2012 als Chefkurator des Natural History Museum London an das Berliner Museum für Naturkunde, das er seitdem leitet. Er promovierte an der Uni Cambridge.
Der Botaniker Johannes Vogel (56) wechselte 2012 als Chefkurator des Natural History Museum London an das Berliner Museum für Naturkunde, das er seitdem leitet. Er promovierte an der Uni Cambridge.

© Doris Spiekermann-Klaas/Tsp

Alles ist Wechselwirkung. Das hat Alexander von Humboldt, dessen 250sten Geburtstag wir im September feiern, gesagt. Die Schicksalsgemeinschaft des Menschen mit den Mikroorganismen ist ein Fakt. Seien es die, die im Darm arbeiten, die, die uns schädigen wollen, oder die, die Sauerstoff auf den Ozeanen produzieren.

Junge Menschheit hinterlässt schon jetzt für alle Ewigkeit Spuren

Was bedeutet all das? Halten wir fest: Der Mensch ist Teil eines hochkomplexen Wechselspiels von Organismen auf dieser Erde, seien sie groß oder klitzeklein. Und die Größe der beteiligten Individuen hat keinen Einfluss darauf, welche Einflüsse eine Organismengruppe auf die Welt oder uns Menschen ausübt. Gleichzeitig aber sehen und verstehen wir uns als Homo sapiens. Diesen Namen haben wir uns gegeben, weil wir gerüstet sind mit Denkfähigkeit, Freiheit und Willen. Wir sind angetreten, die Welt zu beherrschen, und ich glaube, das haben wir nun auch geschafft. Die Diskussion um das neu auszurufende Erdzeitalter des sogenannten Anthropozäns zeigt es. Wir haben bereits jetzt, als Art, die vielleicht gerade einmal zwei Millionen Jahre alt ist, für alle Ewigkeit geologische Spuren unserer Existenz hinterlassen. Wir haben der Erde ein klares geologisches Signal eingraviert, ähnlich wie der Meteoriteneinschlag vor circa 65 Millionen Jahren, der den Dinosauriern, inklusive der Nachfahren des Tyrannosaurus rex „Tristan“, der Gallionsfigur unseres Museums, den Garaus gemacht hat. Die Menschheit hat sich beispielsweise in einer klaren globalen Signatur bestimmter radioaktiver Elemente aus den oberirdischen Atombombenabwürfen und -versuchen der 40er bis 60iger Jahre des letzten Jahrhunderts verewigt. Und sie tut es immer noch – etwa, indem unendlich viele Hühnerknochen tagtäglich auf Abfallhalden landen.

Wir beherrschen die Welt. Doch immerhin sind wir uns irgendwie unserer Abhängigkeit von der Natur bewusst. Aber was das bedeutet, können wir nur verstehen, wenn wir uns die Welt auch erklären können. Lange half uns die Religion. Und abstrakt betrachtet ist die biblische Genesis, was die Abfolge bei der Weltentstehung angeht, gar nicht schlecht: Zuerst Himmel und Erde, dann die Pflanzen, dann Tiere, dann der Mensch. Doch egal, ob wir als Menschen nun dreieinhalb oder zwei Millionen Jahre alt sind: Es ist ein kleiner Zeitraum in der circa 3,8 Milliarden Jahre alten Geschichte des Lebens auf der Erde.

Die Aufklärung hilft uns bis heute, die Welt anders zu sehen. Der Geist wird frei, die Wissenschaft triumphiert. Wir erforschen systematisch und regelbasiert seit gut 300 Jahren, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und wir überziehen diese Welt in einem Triumphzug für unsere Art! 600 Millionen Menschen waren wir auf diesem Planeten im Jahr 1700, zu jener Zeitenwende also, die heute in etwa als Beginn des Zeitalters der Aufklärung gilt. Heute sind es schon mehr als zwölfmal so viele. Wir wissen, was in einem Baum vor sich geht, kennen das Higgs-Boson, verstehen Vulkanismus, die Evolution von Sprache. Und wir können uns sogar gegen Viren und Retroviren wehren.

"Nichts ergibt Sinn, außer im Licht der Evolution"

Wer, oder was, hat uns letztlich freigemacht? Zu großen Teilen war es die Theorie der Evolution. Sie ist die Erklärung, wie Leben in einer sich ständig verändernden Umwelt sich selbst verändert, differenziert und auch wieder die Umwelt prägt. In der Wissenschaft des Lebens ergibt nichts Sinn, außer im Licht der Evolution, sagte der Biologe Theodosius Dobzhansky. Es ist ein seit Milliarden Jahren laufender dynamisch-adaptiver Prozess, der auch den Menschen hervorgebracht hat.

Ein gutes Beispiel ist die Evolution der Photosynthese. Damit wurde das hochreaktive – und damit eigentlich giftige – Gas Sauerstoff in immer größeren Mengen in die Erdatmosphäre entlassen. Für diese hatte das nachhaltige Folgen: Zum Beispiel durch das Entstehen und ständige Erneuern der Ozonschicht, die das Leben auf der Erde vor zu viel UV-Strahlung schützt. Das Leben an Land musste sich an das aggressive Gas Sauerstoff anpassen. Es war aber nicht mehr den Mutationen auslösenden Sonnenstrahlen im gleichen Maße ausgesetzt.

Wem verdanken wir dieses Denken von der Erde als System? Der Geologe Charles Lyell brachte dieses Konzept in die Geologie, Alexander von Humboldt in die Biologie und Charles Darwin formte um 1859 die Synthese aus systemischem Denken in Geo- und Biowissenschaft, die Evolutionstheorie. Dann, vor etwa 50 Jahren, kam jemand mit dem noch weiter führenden Gedanken, dass das System Erde in sich geschlossen und selbstregulierend funktioniert. Er nannte dieses System „Gaia“ nach der personifizierten Erde aus der griechischen Mythologie. Und er sprach von Wechselwirkungen zwischen geologischen und biologischen Systemen, die fast schon teleologisch anmuteten, also, als ob das resultierende globale Gleichgewicht ein höherer Zeck in sich selbst wäre.

Hilft die Idee eines "Superorganismus" weiter, um "Gaia" zu retten?

Der Mann hieß, und heißt, James Lovelock. Seine Gedanken trafen vielleicht einen Zeitgeist. Gaia ist definiert als das globale Ökosystem, welches wir als einen sich selbst regulierenden Superorganismus zu verstehen haben und in dem alle Lebewesen zusammen die Bedingungen für Leben auf der Erde erhalten. Das sind Gedanken, die uns bei großen Fragen des Selbst und auch unserer Zeit, wie zum Beispiel „Wer bin ich?“, „Was ist mein Sinn und Zweck?“ und dergleichen durchaus Trost spenden können. Es sind Gedanken, die auch Glauben an das Göttliche, an das Gerichtete, an einen sicheren und nützlichen Platz im Großen und Ganzen zulassen.

Aber machen solche Gedanken und Konstrukte frei? Sicher, sie führen weg von der kalten Evolution, die keinen Zweck hat und kein Ziel verfolgt. Aber es ist sie, die in klar messbaren, prüfbaren Prozessen seit Milliarden Jahren Leben, Diversität und Tod bringt – Tod für jeden Organismus, für jedes Individuum. James Lovelock ist ein großer Denker und wissenschaftlicher Geschichtenerzähler. Er entwickelt immer noch Ideen und Theorien und erregt damit Aufmerksamkeit. Gut so, denn all das befruchtet die Debatten um Biologie, Erdsystemforschung, Anthropozän und jetzt auch die Zukunft des Menschen in Zeiten der künstlichen Intelligenz.

Wir brauchen Menschen wie ihn, die uns inspirieren, uns mit wissenschaftlichen Fragestellungen und dem Prozess von Wissenschaft an sich auseinanderzusetzen: Hypothese, Experiment – und dann Verifikation oder Falsifikation. Damit können wir als Homo sapiens unserem Namen gerecht werden: zu denken und zu urteilen. Es impft uns auch dagegen, oberflächlich einsichtigen, vielleicht auch unseren Sehnsüchten entsprechenden, aber eben nur pseudowissenschaftlichen Ideen nachzulaufen, sei es der genfreie Salat oder die längst widerlegte Hypothese, Impfungen könnten Autismus auslösen.

Als wissenschaftlicher Geschichtenerzähler fordert und inspiriert mich Lovelock bis heute. Philosophisch. Aber ich bin Evolutionsbiologe. Und es sind eben die Evolution und die aus ihr folgenden Konsequenzen, die uns frei machen. Diese Freiheit gibt uns die Kraft, die Zukunft zu gestalten, die Kraft, die wichtigste aller Fragen anzugehen: wie wir uns schnell der größten Herausforderung annehmen, unsere Wirtschaft und Gesellschaft umzubauen. Ein „Weiter so, nur ein bisschen besser aber eigentlich nichts verändern“, wird dabei nicht helfen. Wir müssen – und können – disruptiv denken und handeln lernen und wissenschaftliche und soziale Innovationen stimulieren und nutzen. So können wir den Klimawandel und die Zerstörung der biologischen Vielfalt vielleicht noch abwenden.

Denn es geht um uns Menschen, um unsere schiere Existenz und die Möglichkeit, auch in Zukunft in Würde leben zu können. Der Zweck ist jedenfalls keine Gaia, die zu retten wäre. Sie kommt gut zurecht, zweckfrei und sicher gern – beziehungsweise völlig gleichgültig – auch ohne uns.

Johannes Vogel

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