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Berliner Schülerinnen und Schüler bei einer Friday for Future-Demo in Berlin.

© Christoph Soeder/picture alliance/dpa

Smartphone, Klimaschutz, Geschlechterrollen: Welche Wünsche Grundschüler vor 20 Jahren in Aufsätze schrieben – und was daraus wurde

Utopien für 2020 von Viertklässlern aus dem Jahr 2000: Pandemien besiegt, Roboter als Lehrkräfte – und Wohlstand durch Rasenmähen. Ein Gastbeitrag.

Renate Valtin ist Professorin i. R. für Grundschulpädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin und war Mitglied im deutschen Team der Iglu-Studie 2001 bis 2016.

Kinder sehen mit Optimismus und Zuversicht in die Zukunft, und zwar nicht nur in Hinblick auf ihr persönliches Leben, sondern auch auf das Weltgeschehen. Die Welt ist schön, ohne Kriege, kein Hass auf Minderheiten, keine tödlichen Krankheiten. „Es gäbe gegen jede Krankheit, die Menschen oder Tiere kriegen könnten, eine Medizin“, heißt es in einem von rund 300 Aufsätzen von Viertklässlern.

Nach ihrem Weltbild gefragt wurden die Kinder nicht etwa aktuell während der coronabedingten Schulschließungen, sondern im Jahr 2000. „So stelle ich mir mein Leben in 20 Jahren vor“, lautete das Aufsatzthema im Rahmen einer Vorstudie zur Internationalen Grundschul- Lese-Untersuchung (Iglu).

Es ist schon erstaunlich, wie weitgehend die Viertklässler vor 20 Jahren etwa die Träume – und Forderungen – der Klimaaktivisten von „Fridays for Future“ vorweggenommen haben: Es gibt umweltfreundlichere Autos, sie fahren mit Wasserbenzin, alle Menschen bewegen sich mit Bahnen oder Bussen fort, Ozonloch und Umweltverschmutzung sind verschwunden, es gibt ein Mittel gegen Müll und im Labor macht man keine Tierversuche mehr.

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Als technische Errungenschaften werden genannt: „Handys, wo man den Menschen sehen kann“, Telefone mit Bildschirm und kostenloses Internet. „Im Kinderzimmer gibt es einen Computer (mit eigenem Gehirn und Sinn für Humor), der dir bei den Hausaufgaben hilft und den ganzen Tag mit dir spielt, malt, bastelt usw.“

Digitales Lernen und Homeoffice vorhergesehen

Doch nicht nur das Smartphone und den Wunschtraum eines Heimroboters als Freund und Helfer sehen die Kinder voraus. Sie träumen sich auch in den digitalisierten Klassenraum – und gleich wieder aus ihm heraus: „In der Schule gibt es fast nur Roboter, die dir Aufgaben geben und helfen. In der fünften, sechsten und siebten Stunde wandert die ganze Klasse mit einem Lehrer aus Fleisch und Blut.“

Ein Junge hat sogar schon das Homeoffice im Blick: „Dass man zu Hause die Arbeit macht und nicht immer auf die Arbeit fahren muss.“

[Lesen Sie auch unseren Bericht über eine aktuelle Umfrage unter Eltern zur Realität des Homeschoolings in der Coronakrise: Nur noch halb so viel Zeit fürs Lernen]

Die Grundschüler von einst sind heute Ende 20, Anfang 30, junge Berufstätige. Eine allumfassende Pandemie wie die Coronakrise konnten sie nicht vorausahnen, einige dürften sich während des Lockdowns aber an ihre Aufsätze von einst erinnert haben. Und auch an ihre Vorstellungen für ihr privates und berufliches Leben?

Die waren schon vor 20 Jahren überraschend traditionell. Aber auch hier erweisen sich Neun- bis Zehnjährigen überraschend hellsichtig, was die gerade in der Coronakrise beklagten Rückschritte in der Geschlechtergerechtigkeit angeht.

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Zum eigenen Leben gehören für die Viertklässler ein Haus (zumeist mit Garten, oder aber mit „Zwimingpul“), ein Auto, ein Beruf, Freunde und eine Familie. Die bevorzugte Familienform ist das Zwei-Kinder-Modell. Während viele Mädchen darüber schreiben, wie sie ihre Kinder erziehen wollen, erwähnen nur wenige Jungen, dass sie zumindest einen Teil ihrer Zeit mit ihren Kindern verbringen: „Und möchte mir viel Zeit für meine Familie nehmen. Und nebenbei viele Abenteuer erleben.“ – „Ich möchte aber keinen Beruf haben, wo man keine Freizeit mehr hat, genug Zeit für mich und auch vielleicht für meine Familie.“

Mädchen stellen sich auf Hausarbeit und Kindererziehung ein

Gedanken über die Rollen von Frau und Mann innerhalb der Familie machen sich vorwiegend die Mädchen. Sie schildern oder sie befürchten, dass sie für Kindererziehung und die anstehenden Hausarbeiten zuständig sind. Ganz selten wird die reine Hausfrauenehe genannt: „Irgendwann treffe ich auch mein Glück und heirate! Dann möchte ich Kinder haben. Dazu kommt dann auch der Haushalt, und mein Mann muss Geld verdienen. Hoffentlich werden wir glücklich.“ Nur ein Mädchen stellt sich vor, dass der Mann zu Hause bleibt, während sie arbeitet: „Die Kinder sind beim Vater. Er ist der Hausmann zu Hause.“

[Renate Valtin ist Professorin i. R. für Grundschulpädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin und war Mitglied im deutschen Team der Iglu-Studie 2001 bis 2016.]

Die meisten Mädchen gehen wie selbstverständlich davon aus, dass sie die Kindererziehung und Haushaltsarbeit übernehmen. Drei Lösungen werden dabei genannt: persönliches Glück mit dem Partner („Vielleicht habe ich einen guten Fang gemacht. Und mein Mann hilft mir dabei“), die Mithilfe ihrer Mutter und Teilzeitarbeit. So wollen zwei Mädchen, als Tierärztin und Ärztin, nur morgens arbeiten, damit sie sich am Nachmittag um Kinder und Haushalt kümmern können.

Ein Roboter kocht das Essen, übernimmt das Staubsaugen

Eine schreibt: „Ich bin in 20 Jahren 29. Ich habe 2 Kinder und arbeite als Tierärztin. Und wenn ich mittags nach Haus komme, wartet schon auf mich mein Hund. Danach koche ich, und ich helfe meinen Kindern bei den Schulaufgaben. Und gehe mit dem Hund. Abends, wenn mein Mann von der Arbeit kommt, mache ich ihm Abendbrot und rede mit ihm.“

Nur ganz wenige Jungen haben überhaupt die Hausarbeit im Blick und sind zumindest bereit, zu kochen. Andere lösen das Problem durch Technisierung. Roboter übernehmen alle erforderlichen Dienstleistungen. „Dann kocht ein Roboter das Essen. So wird das auch mit Staubsaugen, Putzen, Aufräumen und Einkaufen sein“ – „Das Bett wird automatisch (durch einen Computer) aufgeräumt, wenn du aufstehst.“

Im Einklang mit vielen anderen Studien zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen in Bezug auf die Berufe. Von Jungen werden überwiegend drei Bereiche angesprochen, sie wünschen sich Berufe, die auf Macht und Kontrolle gerichtet sind (Polizist, Polizeipräsident, Pilot, Kapitän, Bürgermeister), aber auch auf Ruhm (Profi-Fußballer, natürlich aus der Nationalelf, Tennisprofi, Rennfahrer, berühmter Schauspieler oder „Pop-Star mit Tausenden Fans“). Weitere Berufe liegen im technischen Bereich: Computerspezialist, Weltraumeroberer oder „Automischaniker“.

"Ich möchte gesund sein und ein gutes Leben führen"

Die Mädchen nennen am häufigsten Tierärztin oder Ärztin. Und sie äußern durchaus Karriereambitionen: Chefin eines riesigen Kaufhauses, Managerin, Forscherin, Erfinderin. Ähnlich wie Jungen wollen auch Mädchen Ruhm und Anerkennung: als Olympia-Reiterin, Profi- Fußballerin, Tennisspielerin, Schauspielerin, Sängerin und Turniertänzerin. Anders als bei den Jungen werden von den Mädchen jedoch häufiger Berufe mit sozialer Verantwortung genannt, darunter Lehrerin und „Kindererzireren“.

Zwei Jungen schreiben: „Ich werde Millionär“ („Milioner“ bzw. „Miljoner“), ein Mädchen setzt eher auf die Heirat mit einem Millionär oder einem Prinzen. Die Texte der Kinder zeigen aber auch in anrührender Weise allgemein menschliche Wünsche nach Harmonie, Geborgenheit und Sicherheit: „Aber das einzigst Wichtigste ist, dass man gesund und glücklich ist.“ – „Ich möchte gesund sein und ein gutes Leben führen.“

Schüler in einer Berliner Grundschule arbeiten im Klassenzimmer an Laptops.
„In der Schule gibt es fast nur Roboter, die dir Aufgaben geben und helfen", stand in einem der Aufsätze von 2000. Neun Jahre später gab es immerhin die ersten Laptopklassen (Bild von 2009).

© Kitty Kleist-Heinrich

Für Eltern und PädagogInnen offenbaren die Zukunftsvorstellungen der Kinder Erfreuliches, aber auch Bedenkliches. Positiv ist das Bewusstsein der Kinder für Klima- und Umweltschutz, wenngleich die von ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen noch immer nicht umgesetzt wurden. Eine weitere glückliche Botschaft lautet: Für alle Kinder ist die Erwerbsarbeit ein selbstverständlicher Bestandteil ihres zukünftigen Lebens. Kein Kind reklamiert für sich das Nichtstun. Grundlos sind die Ermahnungen der früheren Kanzler; so befürchtete Kohl den „kollektiven Freizeitpark“ und Schröder betonte: „Es gibt kein Recht auf Faulheit.“

Fröhliche Konsumenten, die im Wohlstand leben

Auf der anderen Seite sind einige Vorstellungen der Kinder aber auch erschreckend. Da ist zum einen die naive Luxus- und Konsumorientierung. Fast alle Kinder schildern sich als fröhliche Konsumenten, die im Wohlstand leben. Bedenklich ist, dass die Kinder diese Errungenschaften nicht als Ergebnis von Arbeit, Strebsamkeit, Fleiß und Anstrengung darstellen und viele auch nicht den Wert des Geldes kennen.

„Als Beruf möchte ich Lkw-Fahrer werden. Dann werde ich vielleicht Millionär und dann werde ich im Haus ein Schwimmbad haben.“ Auch finden sich erhebliche Fehleinschätzungen in Bezug auf die „Kosten“ dieses Wohlstands: „Mein Job ist Rasen mähen, und ich arbeite bei McDonald’s. Nach fünf Monaten habe ich genügend Geld für das Auto.“

Bedenklich sind auch die geschlechterdivergierenden Vorstellungen, vor allem in Bezug auf die Berufswünsche oder auf Vereinbarkeit von Familie, Haushalt und Beruf, die Mädchen als ihr persönliches Problem ansehen, während die Jungen sich kaum Gedanken dazu machen.

Noch heute, 20 Jahre später, besteht ein weitgehend nach Geschlechtern segregierter Arbeitsmarkt, mit einer schlechteren Bezahlung und geringen Wertschätzung von typischen Frauenberufen im Dienstleistungs- und Fürsorgesektor. Im sechsten Monat seit der coronabedingten Schließung von Kindergärten, Kitas und Schulen ist klar: Mütter schultern die Hauptlast, wenngleich die Väter zuletzt ein bisschen aufgeholt haben.

Das Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird indes weithin nicht als gesellschaftliches, sondern als individuelles Problem gesehen. Schon bei den zehnjährigen Kindern deutet sich an, was heute als „Gender Care Gap“ bezeichnet wird – die ungerechte Verteilung von unbezahlter Sorgearbeit.

Renate Valtin

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