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Draußen Proteine, innen Erbmaterial. So einfach sind Viren aufgebaut, aber in beidem stecken auch die Hauptprobleme in der Bekämpfung.

© Illustration: Getty Images/iStockphoto

Update

„Zahlen runterbringen, mit allem, was wir haben“: Neue Virusvarianten für Forscher „Grund zur Sorge“

Virologen sehen die Mutanten als Gefahr und fordern eine konsequente Infektionsvermeidung. Sonst könnten die Gesundheitssysteme überlastet werden.

Die neue, inzwischen auch in Berlin nachgewiesene Virusvariante B.1.1.7, aber auch noch mögliche weitere Mutanten des Erregers verändern die Gesamtsituation hinsichtlich des Umgangs mit Sars-CoV-2 in bedeutsamem Maße. Dies ist die Einschätzung mehrerer im Rahmen eines durch das Science Media Center Deutschland organisierten Expertengespräches am frühen Freitagnachmittag.

Als unmittelbare Konsequenz sei es sinnvoll und wichtig, sagte die deutsche Virologin Isabella Eckerle, Leiterin der Forschungsgruppe „Emerging Viruses“ der Universität Genf, „jetzt die Fallzahlen zu senken und Impfkapazitäten hochzufahren“.

Richard Neher, ebenfalls aus Deutschland stammender Leiter der Forschungsgruppe „Evolution von Viren und Bakterien“ am Biozentrum der Universität Basel, sagte, wichtigstes Ziel müsse bleiben „die Verbreitung einzudämmen“. Dies gelte für alle Varianten.

Noch drängender werde dies aber, da die neuen Varianten offenbar wirklich infektiöser seien. das erhöhe die Gefahr, dass die Gesundheitssysteme überlastet und damit Patienten bestmögliche Betreuung nicht mehr ermöglicht werden könne. Sinnvoll sei es aber auch, weil so das Virus weniger Chancen habe, in problematischer Weise zu mutieren.

Auch Andreas Bergthaler, Leiter der Forschungsgruppe Virale Pathogenese und antivirale Immunantworten bei der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, nannte Infektionsvermeidung als wichtigsten Baustein.

Die Verbreitung problematischer Varianten - im Virologen-Slang „Get-Crazy“-Mutanten genannt - sei dann weniger wahrscheinlich. Denn jede vermiedene Übertragung und jeder Mensch, der nicht zum Wirt für das Virus wird, reduziert die Möglichkeit, dass Mutationen entstehen - und vor allem dafür, dass diese sich ausbreiten.

Neher wies mehrfach darauf hin, dass die derzeitigen, zuerst in Südafrika und England nachgewiesenen Mutanten „nicht die letzten, die wir sehen,“ gewesen sei werden.

„Die Dynamik hält an“, sagt auch Bergthaler. Er bezeichnete die derzeitige Situation als „Weckruf“. Es würden weitere Varianten auftreten und es sei ein Fehler, zu denken „dass wir mit Impfstoffen am Ende des Marathons angekommen sind“.

Im Tagesspiegel hatten vor kurzem Fachleute das Auftreten der neuen Mutanten als "Beginn einer neuen Pandemie" bezeichnet.

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Derzeit ist bekannt, dass sich die beiden genannten neuen Varianten in Großbritannien und Südafrika, wo sie erstmals nachgewiesen wurden, und auch in anderen wie etwa Dänemark, überproportional ausbreiten.

Neher warnte jedoch davor, sich nur auf diese Regionen zu fixieren: „Beides sind Länder mit einem ausgezeichneten molekularen Überwachungssystem“. Im Klartext: Nur, wo häufig und „intelligent“, wie Eckerle es formulierte, Proben auch detailliert auf ihre Gensequenz untersucht werden, kann man auch mit hoher Effektivität Mutanten finden.

In Großbritannien werde derzeit etwa jede 20te Probe auf diese Weise untersucht, in Deutschland, soweit bekannt, nicht viel mehr als jede Tausendste. Um Mutanten zu finden, muss man also auch effektiv nach ihnen suchen. Deutschland müsse hier aufholen.

Wer keine Mutanten sucht, findet auch keine

In weiten Teilen der Welt wird dies jedenfalls nicht getan. Mutanten könnten sich dort also über lange Zeit potenziell unbemerkt ausbreiten und auch Grenzen überschreiten. So sei, mit Ausnahme der Republik am Südzipfel, die Situation in fast ganz Afrika weitgehend unbekannt, so Eckerle.

In diesem Zusammenhang sei mehr internationale Kooperation und auch Unterstützung besonders wichtig, angefangen in der Europäischen Union, so Bergthaler: „Wir würden sicher profitieren, wenn wir wüssten, welche Mutanten in Rumänien zirkulieren.“

Darüber, inwiefern die neuen Varianten bezüglich der Wirksamkeit von Impfstoffen problematisch sein könnten, gibt es derzeit keine annähernd abschließenden Erkenntnisse.

Eine am Freitag veröffentlichte Untersuchung an sehr wenigen Testpersonen legt zwar nahe, dass zumindest die Vakzine von Biontech und Pfizer den in England erstmals aufgetauchten Stamm namens B.1.1.7 ebenso gut neutralisieren wie die bisherigen Varianten. Doch die Studie wird von Fachleuten auch bereits insofern kritisiert, als dass sie zwar Hinweise liefere, aber sicher keine Gewissheit bringe.

Grundsätzlich aber ist es durchaus möglich, dass neue Mutanten Eigenschaften entwickeln, die es ihnen ermöglichen, den durch Impfseren oder durchgemachte Infektionen vermittelten Abwehrmechanismen zu entkommen. Ein positiver Aspekt sei hier, dass die neue Technologie der RNA-Impfstoffe es ermögliche, schneller als mit früheren Verfahren diese an neue Varianten auch anzupassen, so Bergthaler. Eckerle wiederholte mehrfach eine Aussage, die für Wissenschaftler eigentlich ungewöhnlich ist: Man dürfe sich jetzt nicht darauf berufen, dass es noch nicht genügend und sichere Daten gebe. Es sei vielmehr wichtig, in Erwartung auch eher negativer Szenarien jetzt vorbeugend zu handeln. Also vor allem sogar besser als bisher Übertragungen zu vermeiden und mit dem Impfen voranzukommen.

Wie motiviert man die Bevölkerung?

Letzteres hat auch mit dem Verhalten der Bevölkerung zu tun. Bergthaler nannte die in Umfragen ermittelte Impfbereitschaft von nur etwa der Hälfte der Bürgerinnen und Bürger etwa in Österreich „erschreckend“.

Noch schwieriger sei es aber, die Bevölkerung „weiter zu motivieren“, sich an Abstandsregeln, Maskentragen, Besuchsverzicht und dergleichen zu halten. Dies allerdings würden auf absehbare Zeit die entscheidenden Faktoren bleiben, von denen abhänge, ob es gelingt, die Zahlen unter Kontrolle zu bekommen.

Erst dann wäre man auch wieder in der Lage, Infektionswege besser zu verfolgen und letztlich gezielter die Keimübertragung zu verhindern und die allgemeinen Maßnahmen lockern zu können. „Wir müssen die Zahlen runterbringen, mit allem, was wir haben“, so Bergthaler.

Ein wichtiger Aspekt hierbei sei auch die Frage, inwiefern Schulen und Betreuungseinrichtungen öffnen sollten. "Die Theorie, dass Kinder und Schulen keine große Rolle spielen, ist in der Wissenschaft inzwischen weitgehend ad acta gelegt", sagte Eckerle.

Dazu kommt, dass es zwar auch hier noch keine echten Belege, aber zumindest deutliche Hinweise gibt, dass sich die neuen Varianten unter jungen Menschen effektiver verbreiten könnten als die ursprünglichen. Insgesamt, so Eckerle, seien die neuen Varianten und die, die vielleicht noch kommen „Grund zur Sorge“.

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