zum Hauptinhalt
Eine Grafik zu Synonymen für das Verb schießen in der Fußballsprache.

© Simon Meier

Fußballsprache bei der WM: Zimmern, buttern, lümmeln – und 182 andere Synonyme fürs Toreschießen

Im Fußball stehen 185 Synonyme für das Schießen neben eher schlichten Floskeln. Der Berliner Linguist Simon Meier erforscht, warum das so ist.

Zuckern, buttercremen, tortenhebern. Diese Wörter stammen nicht etwa aus einem Lehrbuch der Konditorei, sondern aus deutschen Fußball-Livetickern. Sie sind Synonyme für das herkömmliche „schießen“. Die Ticker von 11 Freunde, „Kicker“, sportal.de und weltfussball.de haben auch noch andere Perlen auf Lager. Von martialisch (rammen, säbeln, donnern) über handwerklich (hämmern, schrauben, schweißen) bis hin zu neuartigen Wortschöpfungen (stehgeigen, schlenzschäkern) ist alles dabei. Soll noch einer sagen, Fußballsprache sei nicht kreativ.

Insgesamt 185 Synonyme haben Sprachwissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der Technischen Universität Berlin (TU) in ihrer Analyse der Liveticker ausfindig machen können. Der Linguist Simon Meier leitete das Unterfangen, für das mehr als 24 Millionen Wörter mit computerlinguistischen Methoden untersucht wurden. Die Forschungsergebnisse sind als interaktive Grafik auf Meiers Blog fußballlinguistik.de zu bestaunen, wo er neueste linguistische Methoden mit seiner Leidenschaft für Fußball vereint. Dabei habe er sich immer schon mehr für das Theater drum herum interessiert als für das Spiel selbst, sagt Meier, der derzeit eine Professur für Angewandte Linguistik an der Technischen Universität Dresden vertritt.

Rote Karte: Fußballsprache in der Alltagssprache

Für sein Leben gern liest der Sprachwissenschaftler Liveticker und Spielberichte. Aus einer linguistischen Perspektive ist die Fußballsprache für ihn interessant, weil sie eine Art Parallelsprache bildet. Anstelle einer reinen Fachsprache kommen viele Wörter aus der Alltagssprache zum Einsatz, wie „abstauben“ oder „mit angezogener Handbremse“ spielen. Gleichzeitig dehnt sich die Fußballsprache auf den Bereich der restlichen Sprache aus. Metaphern wie „jemandem die rote Karte zeigen“, „in der Championsleague spielen“ oder „den Ball flach halten“ sind auch in anderen Kontexten wie der Politikberichterstattung üblich.

Inzwischen hat Simon Meier gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen der TU einen riesigen Textkorpus aus Spielberichten, Livetickern und anderen Textsorten gesammelt. Mehr als 60 Millionen Wörter wurden linguistisch aufbereitet, ein großer Teil davon ist für die Öffentlichkeit zugänglich. Meier ist es wichtig, mit seiner Arbeit auch Menschen außerhalb der Wissenschaft zu erreichen und zu zeigen, was sich im Bereich der Digital Humanities tut.

Wer sind wir? Aufregung um Özil und Gündogan

Obwohl der Linguist seinen Blog eher als Spielerei betrachtet, sieht er auch die gesellschaftliche Relevanz einer Analyse der Fußballsprache. „Großereignisse wie die Fußballweltmeisterschaft sind immer auch Anlass für kollektive Selbstvergewisserung“, sagt Meier. „Der Fußball ist Anlass, sich als Gesellschaft zu fragen, wo stehen wir, wer sind wir, was wollen wir?“

Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Aufregung über das Foto der deutschen Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Erdogan. Aber auch die Frage, ob in Zeiten des erstarkenden Nationalismus ein angeblich unbeschwerter Party-Patriotismus mit fahnenschwenkenden Fußballfans noch zeitgemäß ist. Dass Fußball kein rein sportliches Ereignis ist, sondern durchaus politische Relevanz besitzt, wird auch bei einem weiteren Projekt Meiers deutlich. Gemeinsam mit seinem Kollegen Jürgen Hermes hat Meier den Twitter-Account @retrolivetext kreiert. Wenn Spiele aus der WM-Geschichte seit 2002 – dem Beginn der Liveticker-Ära – in dieser WM erneut stattfinden, tickert ein Bot die historischen Begegnungen unter dem entsprechenden Hashtag auf Twitter mit.

Mit der Aktion wollen Meier und Hermes auf die Bedeutung von Rückblenden beim Fußball aufmerksam machen. Keine Berichterstattung kommt ohne Statistiken vergangener Begegnungen aus und auch für das aktuelle Seherlebnis von Fußballfans spielen Erinnerungen eine große Bedeutung.

"Helden der Nation" gegen "frustrierte Wüstensöhne"

Meier selbst freute sich besonders auf die Vorrundenbegegnung Deutschland–Schweden, wo sein Bot das Achtelfinale der WM von 2006 tickerte, in dem Lukas Podolski in den ersten Minuten zwei Tore machte. Der Bot zeigt aber auch, wie sich die Gesellschaft und mit ihr die Fußballberichterstattung geändert hat. „Der Liveticker von 2002 über die Partie Deutschland gegen Saudi-Arabien ist nationalistisch und chauvinistisch, das würde sich heute keiner mehr trauen“, erzählt Meier. Dort ist von „frustrierten Wüstensöhnen“ die Rede, die von „unseren Helden der Nation“ nach Hause geschickt werden. Die Vorstellungen davon, wie über nationale Wettkämpfe geschrieben werden kann, haben sich also in den letzten Jahren verändert. Der Fußball ist für Simon Meier ein schöner Umweg, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen.

Den politischen Aspekten und dem Reichtum an Synonymen zum Trotz kommt keine Analyse der Fußballsprache aus, ohne auch die immer gleichen Phrasen zu betrachten, die seit Jahrzehnten reproduziert werden. Dazu gehören auch Plattitüden von Trainern, wie jüngst Jogi Löws „Jetzt müssen wir das nächste Spiel gewinnen“ nach der Niederlage gegen Mexiko. Die Floskeln stören auch den Linguisten, momentan ist „mit offenem Visier spielen“ für ihn die nervigste. Meier sieht in dieser vorhersagbaren Sprache aber auch einen Sinn, sie stellt für ihn das Gegenteil des Fußballspiels dar: „Um die Unvorhersehbarkeit des Spiels auszubalancieren, brauchen wir eine stereotype und schematische Sprache.“

WM-Tipp des Linguisten: Deutschland - Frankreich im Endspiel

Über das Spiel selbst ist durch die Analyse der Fußballsprache derweil nicht viel zu erfahren. Zwar ändert sich die Art und Weise, wie über Fußball geredet wird – der Ballbesitz spielt beispielsweise heute eine viel größere Rolle in der Berichterstattung als noch vor zehn Jahren. Doch Meier sieht darin eher eine Veränderung der Mode des Sprechens als eine Veränderung des Spiels.

Um die Frage zu beantworten, wer die Weltmeisterschaft gewinnt, kann die Fußballlinguistik also nicht weiterhelfen. Simon Meier, der Fußballfan, hat trotzdem einen Tipp: Im Endspiel gewinnen die Franzosen, mit zwei Toren von Antoine Griezmann. Ob der französische Fußballstar die Bälle dann eher ins Tor buttercremt oder schlenzschäkert, wird sich zeigen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false