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Im Dienst der Antike. Marcus Cyron ist der erste „Wikipedian in residence“ hierzulande, am Deutschen Archäologischen Institut Berlin. Er soll Forschern beibringen, was aus Sicht der Online-Enzyklopädie relevant ist.

© Thilo Rückeis

Wissenschaft&Internet: Wikipedia forscht mit

Wissenschaftler haben große Vorbehalte gegen das Internetlexikon. „Wikipedians in residence“ in Forschungsinstituten sollen das ändern - wie Marcus Cyron, der erste Wikipedianer an einem deutschen Institut.

Die Zeit scheint stehengeblieben in der Podbielskiallee in Dahlem: In dem verwunschenen Garten blühen die Stauden, innen in der grauen Villa knarrt das Parkett. Im Haus Wiegand, der Zentrale des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI), spürt man immer noch den Atem des frühen 20. Jahrhunderts.

Aber längst auch den des 21. Jahrhunderts. „Wir versuchen, die Wikipediakultur ins Becken der DAI-Kultur zu werfen.“ Der Mann, der das sagt, heißt Reinhard Foertsch, seit Anfang August ist der Kölner Archäologieprofessor hier neuer Wissenschaftlicher Direktor für Informationstechnologie. Foertsch hat ehrgeizige Pläne, zumal für die Sichtbarkeit deutscher archäologischer Forschungsarbeiten im Internet.

Dass er dabei ausgerechnet mit Wikipedia kooperiert, ist keine Selbstverständlichkeit. Zwar nutzen viele Wissenschaftler die Webseite im Alltag, wissenschaftlich anerkannt aber ist das von Laien geschriebene Onlinelexikon nicht, geschweige denn zitierfähig. Warum will ein weltweit anerkanntes Institut, das 400 Mitarbeiter in 12 Ländern beschäftigt und auf eine fast zweihundertjährige Forschungsgeschichte zurückblickt, mit der Plattform eng zusammenarbeiten? Sogar ein hauseigener Wikipedianer – ein „Wikipedian in Residence“ – ist seit Kurzem am DAI engagiert.

Auch wenn das Institut in Deutschland Neuland betritt – international befindet es sich in guter Gesellschaft. Den Anfang machte 2010 der Wikipedia-Autor Liam Wyatt am British Museum in London, es folgten Wikipedianer in Versailles, am Museum of Modern Art in New York, am Museu Picasso in Barcelona und in vielen anderen Einrichtungen. „Das Residenceprogramm ist Teil der sogenannten GLAM-Bewegung in der Wikipedia-Community“, sagt Barbara Fischer vom Förderverein Wikimedia Deutschland. GLAM steht für Galleries, Libraries, Archives und Museums. Seit knapp zwei Jahren bemühen sich die Hobby-Enzyklopädisten, weltweit enger mit Archiven und Forschungseinrichtungen zusammenzuarbeiten. Unter dem Dach von GLAM finden gegenseitige Weiterbildungen statt, redaktionelle Zusammenarbeiten, die Erschließung digitaler Bestände sowie die Entwicklung neuer Formen der Wissensvermittlung.

Das alles ist jetzt auch die Aufgabe von Marcus Cyron. Er wird als Wikipedianer bis Ende 2012 am Deutschen Archäologischen Institut arbeiten. „Für mich geht ein Lebenstraum in Erfüllung“, sagt der 36-Jährige, der aus gesundheitlichen Gründen sein Studium nicht beenden konnte. Fachliche Qualifikationen bringt der ehemalige Student der Altertumswissenschaften, der seit sieben Jahren Wikipedia-Autor ist, trotzdem mit. Von den rund 26 000 Artikeln, die es in der deutschsprachigen Wikipedia zum Thema Altertum gibt, hat Cyron über 2000 geschrieben, darunter den Eintrag zum Pergamonaltar. „Außerdem habe ich mich ein wenig auf griechische Keramik spezialisiert“, sagt der Vielschreiber.

Aber um Becher oder Vasen geht es in den kommenden Monaten gar nicht. Cyrons Werkvertrag wird zwar sowohl vom Verein Wikimedia als auch vom DAI finanziert, als gefälliger Auftragsautor ist er aber nicht engagiert. Er wird keine neuen Artikel über archäologische Artefakte oder Ausgrabungsstätten produzieren. Für IT-Direktor Foertsch ist Wikipedia vielmehr eine Schnittstelle zwischen dem Rohmaterial der Datenbanken und den gedruckten Publikationen, die beide jeweils nur von einem kleinen Fachpublikum verstanden würden. „In der Wikipedia werden archäologische Erkenntnisse für eine breitere Öffentlichkeit greifbar.“ Diesen Gedanken will Foertsch aufgreifen, ihn in der Kommunikationskultur des Instituts verankern.

Marcus Cyron führt deshalb vor allem Workshops durch, bei der die Institutsmitarbeiter das Innenleben der Wikipedia kennenlernen. „Ich erlebe dabei erstaunlich oft, dass die Wissenschaftler zwar Wikipedia als Leser nutzen, aber das Partizipationsprinzip, das dahinter steckt, überhaupt nicht verstanden haben.“ Cyron zeigt den Forschern, wie man mitschreiben kann, was aus Sicht der Wikipedia relevant ist, warum und wo wilde Debatten toben. Und natürlich hat er eine politische Botschaft: Dass die Idee vom freien Wissen nicht nur von freiwilliger Mitarbeit, sondern auch von freien Lizenzen und Zugängen lebt. „Wenn ich es schaffe, wenigstens ein paar Wissenschaftler zur Partizipation zu ermutigen, wäre das ein großer Erfolg.“

Die Unterstützung des IT-Direktors hat er jedenfalls. „Man begibt sich mit Wikipedia in einen Diskursprozess“, sagt Foertsch begeistert, der am liebsten durchsetzen würde, dass DAI-Mitarbeiter auch in ihrer Arbeitszeit offiziell an Wikipedia-Einträgen mitwirken dürfen. Eine Einstellung, die noch lange nicht in allen Universitäten, Museen und Archiven salonfähig ist. Im Gegenteil: Meistens ist es für die ehrenamtlichen Wikipedia-Autoren schwer, sich überhaupt Zugang zu den Primärquellen zu verschaffen.

Zwar ist das Niveau der 1,4 Millionen deutschen Artikel mittlerweile beachtlich hoch, aber viele Einträge müssen regelmäßig überprüft und aktualisiert werden. Für die deutschen Wikipedia-Autoren, deren Zahl zurzeit bei 6500 stagniert, eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Wikimedia bemüht sich deshalb, weitere Wikipedianer in Residence zu vermitteln. Doch die Verhandlungen seien schwierig, sagt eine Sprecherin. Und das, obwohl der Förderverein die Kooperationen finanziell mitträgt. Noch aber herrsche großes Fremdeln seitens der deutschen Wissenshüter: „Da gibt es so viele Vorbehalte, das fängt bei Urheberrechtsbedenken an und geht bis hin zu der Sorge, dass im Museum die Besucher wegbleiben, wenn Abbildungen der Kunstwerke online zu sehen sind.“

Für Cyron zählen diese Einwände nicht. Seiner Meinung nach schade Wikipedia niemandem und nütze vielen. Weil es für die Wissenssuchenden oft die erste Anlaufstelle sei, und weil sie von hier aus weiterklicken: zu den Webseiten der Archive, Museen, Fototheken. Ob er aus seinem Intensivhobby eine berufliche Perspektive entwickeln kann, ist noch unklar. Die Zusammenarbeit mit dem DAI ist befristet, danach wird Cyron sich nach neuen Partnern umsehen müssen. „Mein Traum“, sagt er, „wäre eine Stelle als Wikipedianer in Residence auf der Museumsinsel. Den Ort liebe ich seit meiner Kindheit.“

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