zum Hauptinhalt
Im Lesesaal einer wissenschaftlichen Bibliothek sitzen Menschen an Tischen und lesen oder schreiben an Computern.

© Mike Wolff

Wissenschaftsprosa: Vorsicht, süffig!

Gute Wissenschaft geht selten mit gutem Stil einher. Nur wenige Forscher trauen sich, frei zu erzählen. Eine Ausnahme ist der Historiker Martin Mulsow, den das Berliner Wissenschaftskolleg jetzt mit einem Preis auszeichnete.

„Anständig gearbeitete Texte sind wie Spinnweben: dicht, konzentrisch, transparent, wohlgefügt und befestigt. Sie ziehen alles in sich hinein, was da kreucht und fleucht.“ So beschreibt einer der großen wissenschaftlichen Autoren des 20. Jahrhunderts, Theodor W. Adorno, in dem Essayband „Minima Moralia“ die Anforderungen an guten Stil. Dass man den 1951 erschienenen Text immer noch ohne Weiteres zitieren kann, zeugt davon, wie transparent und wohlgefügt Adornos eigener Stil war. „Das Dickicht ist kein heiliger Hain“, mahnt er. „Es ist Pflicht, Schwierigkeiten aufzulösen, die lediglich der Bequemlichkeit der Selbstverständigung entstammen.“ Wer unscharf und redundant schreibt, hat nicht ausreichend gekürzt, überprüft, korrigiert. Und vielleicht auch noch nicht lange genug nachgedacht.

Adornos Worte verhallten ausgerechnet im deutschen Wissenschaftsbetrieb weitgehend ungehört. Bis heute ist guter Stil kein entscheidendes Kriterium für eine wissenschaftliche Laufbahn, bestenfalls eine angenehme Beigabe. Das Schreiben klarer, dichter Texte wird weder während noch nach dem Studium gefördert oder eingefordert.

Wer flüssig schreibt, gilt als Feuilletonist

Im Gegenteil: Dem angenehmen Textfluss haftet der zweifelhafte Geruch des „Feuilletonistischen“ an. Das akademische Vorurteil lautet: Wer zu süffig schreibt, der taugt vielleicht als populärer Sachbuchautor, als Wissenschaftler aber muss man ihn nicht ernst nehmen. Wer dagegen komplizierte Schachtelsätze mit Dutzenden Einschüben baut und sein großes Latinum dabei stets stolz vor sich herträgt, der beherrscht den anerkannten Hochschulduktus. Schreiben am Rande der Lesbarkeit ist vielleicht keine Tugend, aber ganz sicher auch keine Schande.

Diese Haltung hat Folgen. „Es gibt wahnsinnig viele schlecht geschriebene Texte“, sagt Christoph Möllers ganz unverblümt. Der Jurist ist derzeit Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und Teil einer vierköpfigen Jury, die vor einigen Tagen den Anna-Krüger-Preis für Wissenschaftssprache vergeben hat. Die Stifterin Anna Krüger war bis Mitte der 1960er Jahre Professorin für Didaktik der Deutschen Literatur im hessischen Weilburg. Als Hessen damals die Anforderungen für das Lehrerstudium drastisch heruntersetzt, protestiert sie öffentlich – und wird zur Strafe frühzeitig in Rente geschickt.

Der Anna-Krüger-Preis würdigt "gute und verständliche" Sprache

In den 80er Jahren begann ihr Briefwechsel mit dem Wissenschaftskolleg. Gemeinsam konzipierte man eine Auszeichnung für Wissenschaftler, die „ein hervorragendes Werk in einer guten und verständlichen Wissenschaftssprache geschrieben haben“. Als Anna Krüger 1991 starb, ging ihr Vermögen ans Kolleg. Seitdem wird der Anna-Krüger-Preis, der mit 20 000 Euro dotiert ist, alle drei Jahre vergeben. Auch der Sigmund-Freud-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zeichnet Wissenschaftler mit herausragendem Sprachstil aus, er wird sogar jährlich verliehen.

Die Jury des Anna-Krüger-Preises sichtet jedes Mal Dutzende Publikationen, beschränkt sich dabei aber ausdrücklich auf aktuelle Forschungsliteratur. Sachbücher, die lediglich den Stand der Forschung nacherzählen, bleiben außen vor. Was aber sind denn nun die konkreten Kriterien? „Guter Stil muss nicht umhauen oder in irgendeiner Form auffällig sein“, erklärt Möllers. „Er darf nicht manieriert oder gespreizt sein.“ Auch die Wissenschaftssprache sei jargonanfällig. Viele Autoren imitieren die rhetorischen Moden ihrer Zeit. Guter Stil dagegen ist haltbar, wenn nicht sogar zeitlos. „Das kann man zum Beispiel an Sigmund Freud sehen.“

Mulsow schreibt von Ketzern, Abenteurern und Visionären

Besondere stilistische Haltbarkeit hat die Jury in diesem Jahr dem Buch „Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der frühen Neuzeit“ (Suhrkamp, 2012) von Martin Mulsow bescheinigt. Der Historiker und Philosoph Mulsow zeichnet darin die Brüchigkeit des Wissens um 1700 nach. Er beschreibt Gelehrtennetzwerke, Forschungsreisen und Korrespondenzen, erläutert den komplizierten materiellen und inhaltlichen Transfer von Wissen, berichtet von systematischen Bücherverbrennungen, von verloren gegangenen Manuskripten, von Geheimzirkeln und magischen Beschwörungen. Wer die theoretischen Ausführungen der knapp 30-seitigen Einleitung geschafft hat, wird von Mulsow zur Belohnung auf eine Reise in die Vergangenheit mitgenommen, in der Wissenschaftler alles Mögliche waren: Ketzer, Abenteurer, Visionäre.

Mulsow lässt in seinen Kapiteln einzelne Protagonisten auftreten, deren Briefe und Nachlässe er jahrelang in Archiven studiert hat. Er kennt den Stoff genau – und hat gerade deshalb den Mut, sich von den staubigen Quellen zu lösen und frei zu erzählen. Die Anekdoten sind skurril und unterhaltsam und in einer Sprache geschrieben, die jeder verstehen kann. Etwa wenn es um den Münzforscher Jean Foy Vaillant geht: „Vaillant ist nämlich auf seiner zweiten Reise in den Osten von Piraten gefangengenommen und nach Algier geschleppt worden. Dort kam er nach vier Monaten frei, und als dann auf der Rückreise nach Frankreich nochmals Piraten gesichtet wurden, schluckte er kurzerhand 20 antiquarische wertvolle Goldmünzen mit dem Gewicht von zusammen etwa 150 Gramm, um sie zu retten. Aus der Kaperung wurde nichts, nur hatte Vaillant schreckliche Bauchschmerzen. Die Münzen hat er aber auf natürlichem Wege wiedererlangt.“

Erfrischender angelsächsischer Einfluss

Man glaubt fast, das leise Schmunzeln des Autors hinter den Zeilen zu hören. Mulsow scheut sich auch nicht, gelegentlich ,Ich‘ zu sagen und sich als Regisseur und Strippenzieher zu erkennen zu geben. Er moderiert die Szenen an und ab, schafft elegante Überleitungen, fügt mit leichter Hand die einzelne Anekdote in den größeren theoretischen Zusammenhang ein. Er zieht imaginäre Vorhänge auf und wieder zu. „Verlassen wir an dieser Stelle …“, schreibt er oder: „Suchen wir uns also ein geeignetes Milieu, um einige Antworten auf die anvisierten Fragen zu bekommen.“ Seinen Stil beschreibt Mulsow als eine Form von gemeinsamem Erkenntnisgewinn: „Ich versuche, die Leser an dem Suchprozess teilhaben zu lassen, den ich selbst durchmache.“ Am Ende soll dabei eine Geschichte entstehen, „die eine gewisse Spannung hat“.

Gelernt habe er das nicht, sagt er: „Mein Stil hat sich über die Jahre entwickelt.“ Martin Mulsow ist derzeit Professor für Wissenskulturen der europäischen Neuzeit an der Universität Erfurt. Vorher hat er lange in den USA gelebt und gelehrt. Seinem neusten Buch merkt man den erfrischenden angelsächsischen Einfluss an. Es wirkt, bei aller theoretischen Komplexität, klar und eingängig.

Aktuelle Rechtschreibung? Womöglich nur eine vorübergehende Mode

Nur in einem Detail bleibt „Prekäres Wissen“ merkwürdig altbacken. Das Buch ist durchgängig in alter Rechtschreibung geschrieben. Nicht mal mit dem seit 2007 verbindlich eingeführten „dass“ mag sich der Historiker anfreunden. Er schreibt beharrlich „daß“. Nachfrage im Lektorat des Suhrkamp Verlags: Ja, so habe es auch im abgegebenen Manuskript gestanden. Suhrkamp richtet sich in Sachen Rechtschreibung bis heute nach den Wünschen seiner Autoren. Viele ältere Professoren ignorieren in ihren Publikationen die aktuelle Rechtschreibung. Auch der 55-jährige Mulsow hat offenbar für sich beschlossen, sie für eine vorübergehende Mode zu halten, der man sich nicht unterwerfen muss.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false