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Fingerabdrücke. Der Umgang mit kanonischen Texten ist aufschlussreich. Foto: dpa

© picture-alliance/ dpa

Wissenschaftsgeschichte: Warum die Mönche Rechtecke malten

Ob Bibel oder Nibelungenlied: Wie Wissenschaftshistoriker alte Editionspraktiken rekonstruieren, um mehr über den Geist der Zeit zu erfahren

Manche Texte sind wie Eintagsfliegen: Sie werden gelesen und vergessen. Andere bleiben: Sie prägen Kulturen über Jahrhunderte hinweg. Solche wegen ihrer andauernden Faszinationskraft kanonisierten Texte sind für Wissenschaftshistoriker besonders spannend. Die lange Rezeptionsgeschichte der kanonischen Schriften wird zum Schlüsselloch, durch das sich die vielen Interpreten, ihr jeweiliges Textverständnis und ihr konkreter Umgang mit Handschriften oder Inschriften beobachten lassen.

Das Neue Testament ist so ein Schlüssellochtext, durch das Wissenschaftshistoriker gerne blicken. Was sie sehen? Frühe Schreiber halten die Evangelisten noch für direkte Augenzeugen Jesu und zweifeln nicht an der Authentizität der einzelnen Berichte. In der späteren Überlieferung werden die abweichenden Erzählstränge problematisiert. Man beginnt zu überlegen, wie sich Markus, Matthäus und Lukas zueinander verhalten und entwirft immer verzweigtere Stammbäume. Argumentiert Lessing im 18. Jahrhundert noch für eine Art aramäisches Urevangelium, das die Evangelisten nur verschieden übersetzt hätten, entwickelt man später die Zweiquellentheorie: Sie konstatiert eine komplizierte Entstehung der Evangelien, erkennt Markus als ältesten Text und Vorlage für Matthäus und Lukas an und rekonstruiert weitere, teilweise verschollene Quellen.

Wie der jeweilige Zeitgeist die Editionen kanonischer Schriften prägt, untersucht jetzt eine internationale Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG). Nicht der Inhalt oder die Auslegung der Texte stehen also dabei im Zentrum, sondern die spezifischen Praktiken, die Gelehrte in Universitäten, Klöstern oder Verwaltung von der Antike bis zur Renaissance, in chinesischen, arabischen, indischen und europäischen Schrifttraditionen entwickelt haben: Aufschreiben, Umschreiben, Abschreiben. Korrigieren, Lektorieren, Edieren. Tradieren, Archivieren, Kanonisieren.

„Gelehrte Textpraktiken kanonischer Traditionen: Ein interkultureller Vergleich“ lautet der Titel des Forschungsprojekts, das gerade öffentlich vorgestellt wurde. Verantwortlich zeichnen Anthony Grafton, Historiker in Princeton, sowie der Altphilologe Glenn W. Most von der Scuola Normale Superiore in Pisa, die in diesen Wochen gemeinsam mit vierzehn weiteren Forschern in Dahlem zusammenkommen.

„Jeder Text trägt Fingerabdrücke seiner Entstehungspraktik – und wir sind die Detektive, die diese Fingerabdrücke sichtbar machen wollen“, sagt Most. In einigen Texten des Hochmittelalters haben diese „Fingerabdrücke“ die Form kleiner Rechtecke, Quadrate oder Kreise. Mönche haben sie neben den eigentlichen Text gemalt, etwa an einen theologischen Kommentar zu Platons naturphilosophischer Schrift „Timaios“. „Die geometrischen Abbildungen dienen nicht der Illustration der Textinhalte sondern zeichnen eine Denkbewegung nach. Sie sind Mittel der Kontemplation, welche die eigene geistige Auseinandersetzung mit dem Göttlichen sichtbar macht“, erklärt die Kunsthistorikerin Megan McNamee, eine der Gastwissenschaftlerinnen.

Die historische und geografische Spannweite der Arbeitsgebiete verspricht neue Einsichten: „Wissenschaftsgeschichte spielt sich noch zu häufig innerhalb des eigenen Faches ab“, sagt Most. So sind etwa die Editionspraktiken der Evangelien in der Theologie oder des Nibelungenliedes in der Germanistik jeweils gut erforscht. Daraus lassen sich zwar Rückschlüsse auf die Herausbildung einer kritischen Textpraxis in einer spezifischen Wissenskultur ziehen. Doch bleibt der Blick eurozentristisch, insbesondere wenn man diese Textpraktiken als Merkmal der Moderne versteht.

Erst durch den umfassenderen Vergleich zeigt sich nun: „In unterschiedlichen Textkulturen, über Orte und Jahrhunderte hinweg, haben sich nahezu dieselben Praktiken etabliert“, wie Anthony Grafton sagt. In der Chinesischen Philologie habe man bereits im 12. Jahrhundert genau jene editionswissenschaftliche Arbeit betrieben, die unter europäischen Gelehrten erst im 19. Jahrhundert ihren Anfang nahm. Hier wie dort habe man Manuskripte verglichen, unterschiedliche Handschriftenversionen in eine Stammbaumordnung gebracht, nachträgliche Veränderungen am Text notiert und kritisch bewertet. In der europäischen Editionswissenschaft hat man erst nach und nach davon Abstand genommen, bei antiken oder biblischen Texten nach einem „Original“ zu suchen, das es zu rekonstruieren gilt. In der chinesischen Philologie habe man die Änderungen immer schon als Verbesserungen verstanden, sagt Grafton: Statt eine scheinbare Degeneration des Textes zu bedauern, imaginiere man selbigen als immer neu und anders blühenden Baum.

Derartige Erkenntnisse wollen die Forscher an größere wissenschaftsgeschichtliche Diskurse anschließbar machen – wie an die Frage nach dem Beginn der Moderne.

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