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Es war der wichtigste wissenschaftliche Durchbruch des vergangenen Jahres: die Entwicklung des ersten Covid-Impfstoffs. Wie es dazu kam, erzählte Biontech-Gründerin Özlem Türeci auf der Falling Walls Konferenz in Berlin.

© Janine Schmitz/photothek.de/Falling Walls

Wissenschaftliche Durchbrüche 2021: Erfolge mit Langzeitwirkung

Die Falling Walls Konferenz feiert die wissenschaftlichen Durchbrüche des Jahres 2021. Dabei wird deutlich, dass Innovationen einen langen Vorlauf brauchen.

Seit mehr als zehn Jahren werden in Berlin am 9. November die „wissenschaftlichen Durchbrüche des Jahres“ gefeiert. Und die Menschen, die sie möglich gemacht haben. Triumphe von Forschung und Innovation, die scheinbar unüberwindbare Hindernisse wie die Mauer im Jahr 1989 zum Einstürzen gebracht haben. Dieses Jahr gab es mehr als 1000 Nominierungen aus 115 Ländern.

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Doch eigentlich sind echte, weltverändernde Durchbrüche binnen eines Jahres gar nicht möglich. Zwar wurde der diesjährige Durchbruch, der erste Impfstoff gegen Covid-19, in weniger als einem Jahr verwirklicht. Die schnellste Entwicklung eines Medikaments in der Geschichte der Medizin. 

Doch ohne jahrzehntelange Vorarbeiten wäre das nicht möglich gewesen. Darauf wies Özlem Türeci, gemeinsam mit ihrem Mann Ugur Sahin Gründerin der Mainzer Biotech-Firma Biontech, auf der Falling Walls Konferenz im Berliner Radialsystem hin. „Mauern einzureißen braucht viele Jahre Vorbereitung“, sagte die Medizinerin. Ein Satz, der für alle an diesem Dienstag vorgestellten wissenschaftlichen Durchbrüche gilt.

RNA-Impfstoffe – vom Krebs zu Viren

Als Türeci und Sahin vor über zwanzig Jahren mit mRNA begannen, hatten sie gar keinen Impfstoff gegen Viren im Sinn, schon gar nicht gegen das Sars-Cov-2-Virus, das damals wohl noch gar nicht existierte. „Krebs war der Feind“, sagte Türeci. Gemeinsam wollten sie einen Weg finden, das Immunsystem von Krebspatienten zu schulen, gegen Krebszellen vorzugehen. Dazu mussten die beiden dem Immunsystem die typischen Merkmale des Tumors zeigen, eine Art molekularen Steckbrief.

Selbst wenn Patienten am gleichen Prostatakrebs erkrankt sind, unterscheidet sich ihr individueller Krebs: Der Steckbrief, der dem Immunsystem sagt, welche Zellen krebsartig und zu attackieren sind, muss also bei jedem Patienten etwas anders aussehen.

Doch es ist sehr aufwendig, für jeden Patienten neu Dutzende oder Hunderte krebstypische Proteinstücke zu produzieren. Hier kommt die Boten-RNA (mRNA) ins Spiel, der Bauplan für Proteine. „Wir haben viele Technologien ausprobiert, aber realisierten bald, dass mRNA ein ideales Werkzeug ist“, sagte Türeci. 

Allerdings war RNA anfangs längst nicht perfekt: Die Immunreaktion, die die Moleküle hervorriefen, war zu schwach. Jahrelang optimierten Türeci und Sahin die RNA Stück für Stück. „Wir waren dabei nicht allein“, viele Forscher hätten dazu beigetragen. 2019 schließlich war die Immunreaktion auf einen RNA-Impfstoff tausend Mal so stark wie zehn Jahre zuvor.

Auch weil Türeci und Sahin inzwischen Wege gefunden hatten, die RNA in kleine Fettkügelchen zu verpacken und an den richtigen Ort in den Lymphknoten zu bringen, dorthin, wo das Immunsystem „lernt“. Die Herstellungszeit der RNA, die anfangs noch bis zu fünf Monate betrug, verkürzten die Spezialisten auf wenige Wochen.

All das habe sie vorbereitet auf das, was 2020 kam, sagte Türeci: die Pandemie und das Rennen um den ersten Impfstoff. Der Rest ist Geschichte.

Licht ins Dunkel von Erblindeten

Am Ende steht die erste gelungene, teilweise Rekonstruktion der Sehfähigkeit bei einem Erblindeten. Ganz am Anfang steht die Grundlagenforschung an einer einzelligen Grünalge. In den 1980ern hatten Forschende, darunter Peter Hegemann von der Berliner Humboldt-Universität, winzige Moleküle entdeckt, die auf einen Lichtreiz hin einen Tunnel durch die Membran der Algenzelle öffnen, Ionen hindurch lassen und damit ein elektrochemisches Signal an die Zelle geben, sich zum Licht zu drehen. 

Nichts deutete darauf hin, dass Blinde von solch exotischer Grundlagenforschung irgendwann irgendeinen Vorteil haben könnten. Und doch gelang dem Team des französischen Arztes José-Alain Sahel von der Universität Sorbonne eben das, wie er im Mai 2021 im Fachblatt „Nature Medicine“ schrieb. 

Sahel griff auf ein völlig neues Forschungsfeld zurück, die Optogenetik, die nach Hegemanns frühen Experimenten Dutzende, weit bessere lichtinduzierbare Membrankanäle fand und etwa für die Erforschung des Gehirns weiterentwickelte. Sahel schleuste die Bauanleitung für solche Lichtrezeptoren in die Netzhautzellen eines Patienten, der als Jugendlicher durch die Augenerkrankung Retina pigmentosa erblindet war. Die Zellen bauten die künstlichen Lichtrezeptoren in ihre Membranen ein. Und tatsächlich kann er nun, mit Hilfe einer Spezialbrille, zumindest schemenhaft wieder sehen.

Dass diese Technik nicht allen Erblindeten helfen wird, weiß Sahel wohl. Seinen Vortrag auf der Falling Walls Konferenz beendete er daher mit einem Appell an die Gesellschaft. Erst ihr oftmals so ausgrenzendes Verhalten mache es Erblindeten so schwer, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Von der Natur abgeschaut

40 Prozent aller Plastikverpackungen landen in der Natur. Das müsste sich besser lösen lassen, hatte sich Anne Lamp gedacht. Die promovierte Verfahrenstechnikerin hat eine Technologie für nachhaltige Plastikalternativen entwickelt und eine Firma gegründet, die diese vermarkten soll.

Lamp hat ihre Idee von der Natur abgeschaut. Produziere doch die Natur eine Menge „Verpackungen zum Einmalgebrauch“, etwa Nussschalen. Statt als Müll übrig zu bleiben, sind sie kompostierbar und liefern den Stoff aus dem neue Nussbäume wachsen. „Das ist ein smartes Konzept“, sagte die junge Forscherin. Zusammen mit Johanna Baare hat sie die Firma Traceless Materials gegründet. Falling Walls zeichnet das Unternehmen nun als Durchbruch des Jahres 2021 in der Kategorie „Science Start-Up“ aus.

Die innovative Technologie soll eine Alternative zu Plastik und Bioplastik sein. Grundlage sind Abfallprodukte aus der Landwirtschaft. „Wir nutzen die natürlichen Polymere in diesem Material.“ Die Gründerinnen haben einen Weg gefunden, diese Polymere in ein neues Material zu konvertieren: Es entsteht ein Granulat mit vielen Eigenschaften des herkömmlichen Plastiks. 

Der Prozess sei einfacher, umweltfreundlicher und günstiger als die Produktion von üblichem Bioplastik. Im Gegensatz zu Bioplastik würden sich die natürlichem Polymere auch in wenigen Wochen spurlos in der Natur abbauen. Hinzu komme, dass man nicht mit der Lebensmittelproduktion konkurriere, das Material klimafreundlich, ungiftig und zu wettbewerbsfähigen Preis in hoher Qualität herstellbar sei.

Denkbare Verpackungen sind Snacktüten, Coffee-to-go-Becher oder Papierbeschichtungen. Die Nachfrage für das Material sei groß. Die Firma hat mittlerweile verschiedene Prototypen hergestellt – etwa eine Liefertüte für ein Versandhaus. Eine erste Pilotanlage soll nächstes Jahr Produkte auf den Markt bringen. „2030 wollen wir Marktführer für kompostierbare Plastikalternativen sein“, sagt Lamp, die bereits vier Patente besitzt.

Schneller Aufladen mit Niob

Elektrische Geräte sind feste Bestandteile des modernen Lebens – aber nur, bis ihr Akku leer ist. Dann heißt es einstöpseln und das Aufladen abwarten. Clare Grey, Chemikerin an der Cambridge University, will Ladezeiten auf wenige Minuten verkürzen. „Ich stelle mir eine Welt vor, in der man sich keine Gedanken um das Aufladen seiner Geräte machen muss“, sagte Grey. 

Ihr gehe es nicht nur um die Bequemlichkeit der verkürzten Ladezeit und auch nicht nur um persönliche Geräte wie Mobiltelefone und Laptops, sondern auch industrielle Roboter oder neue Fahrzeuge, mit denen der Transportsektor von fossilen Brennstoffen auf Elektrizität aus erneuerbaren Quellen umgestellt werden soll.

Doch erneuerbare Energie, etwa aus Sonne und Wind, ist nicht immer gleich verfügbar. „Wir müssen Angebot und Nachfrage aufeinander abstimmen“, sagt Grey. Dazu bedürfe es billiger, sicherer, leistungsstarker und lang haltender Batterien, idealerweise auch noch in kleinerem Format als dem heute verbreiteter Lithiumionen-Akkus. 

Grey hat ein Material entwickelt, das unter anderem aus dem Metall Niob besteht. An der Elektrode der Batterie, zu der beim Aufladen positiv geladene Ionen wandern, lässt es den Teilchen mehr Raum sich anzuordnen. „Ein wenig wie ein Schwamm“, erklärt Grey. Dadurch geht weniger Energie als Wärme verloren und die Elektroden halten länger. Mit Erfolg: Grey zeigt eine Art Saugroboter, der sich mit einem der neuartigen Akkus innerhalb von 100 Sekunden auflädt.

Auf Eis durch die Polarnacht

„Wir möchten Sie mitnehmen auf unsere Reise zum Epizentrum des Klimawandels“, sagte Markus Rex vom Potsdamer Alfred-Wegener-Institut (AWI) eingangs seines Vortrags. Gemeinsam mit Stefanie Arndt vom AWI Bremerhaven berichtete der Physiker von der größten Arktisexpedition aller Zeiten, in die Weltregion, die sich dreimal so schnell erwärmt wie der Rest der Erde, um mittlerweile etwa drei Grad Celsius.

Ein internationales Forschungsteam an Bord des deutschen Eisbrechers „Polarstern“ ließ sich im Herbst 2019 im Meereis vor der Küste von Sibirien festfrieren. Von da an übernahm die natürliche Drift des Eises den Transport. Die „Polarstern“ wurde dicht am Nordpol vorbei quer durch das Polarmeer geschoben, erstmalig in der Polarnacht. Diese Route ist fahrenden Schiffen zu dieser Zeit monatelang durch dickes Meereis versperrt.

Das Eis, in dem die Polarstern eingeschlossen war, erwies sich bis auf wenige Zentimeter breite Risse stabil, sodass die Forschenden sicher arbeiten konnten.
Das Eis, in dem die Polarstern eingeschlossen war, erwies sich bis auf wenige Zentimeter breite Risse stabil, sodass die Forschenden sicher arbeiten konnten.

© Alfred-Wegener-Institut/Esther Horvath (CC-BY 4.0)

Die Polarforscher:innen bauten rund 100 Tonnen Messgeräte und Ausrüstung auf das Eis neben dem Schiff – immer auf Besuche neugieriger Eisbären gefasst. „Wir konnten ganz neue Daten aus dem Zentrum der Arktis mitten im Winter sammeln“, berichtet Arndt.

Das Team erlebte heftige Stürme, konnte dabei aber auch untersuchen, wie sie sich auf die Bewegung des Eises und die Durchmischung des Wassers darunter auswirken. „In der kompletten Dunkelheit des Winterhalbjahres fühlte es sich manchmal so an, als würde man einen anderen Planeten erforschen“, sagt Rex.

Die gesammelten Daten dienen aber der Erforschung des Klimas der Erde. Die Veränderungen in der Arktis haben Auswirkungen, die auch in anderen Regionen zu spüren sind. Sie tragen etwa zum Ausbleiben von Westwinden bei, das zu extremem Wetter in Europa führen kann. 

Die eigentliche Reise begann erst im September, als die Polarstern sich endgültig wieder vom Eis löste, sagt Arndt. „Wir haben mehr als 150 Terabytes an Daten gesammelt und viele Tonnen von Schnee- und Eisproben, die wir nun analysieren können.“

Besser lernen mit dem Handy

George Cowell zeigt einen kurzen Film. Die Jugendliche Gifty in Ghana tippt auf ihrem Handy herum, schaut etwas konsterniert – und dann sehr glücklich. Keine Spiele-App, sondern ein selbstlernendes Lernprogramm erfreut sie, der Chatbot-Tutor „Rori“, der nach drei Fehlversuchen einer Rechenaufgabe eine Erklärung liefert – und sich fürs nächste Mal schon merkt, was weiterhilft. 

Der Kopf hinter dieser Idee, der internationale Direktor des Rising Academy Network George Cowell, wurde dafür nun als Durchbruch des Jahres 2021 in der Kategorie „Future Learning“ geehrt.

Die Akademie bietet mehr als 50 000 Kindern in Sierra Leone, Liberia und Ghana Zugang zur Bildung – die Lern-App könnte Millionen Kindern weltweit helfen. In der Pandemie wurde deutlich, was es bedeutet, wenn die Schulen zu sind. 

Nun sind die Schüler zwar wieder im Unterricht, doch die Unesco schätzt, dass weltweit 617 Millionen Kinder im schulpflichtigen Alter die Grundschule ohne grundfertige Lese- und Rechenfähigkeiten beenden. Die gute Nachricht sei zwar, dass die meisten Kinder wieder zur Schule gehen können, die schlechte aber, dass sie dort oft nicht viel lernen, gerade auch in Afrika. 

Mit „Rori“ werde nun personalisiertes Lernen überall und jederzeit möglich. Nicht um Schulen und Lehrer:innen zu ersetzen, sondern um sie besser zu machen.

Und das mit hoher Reichweite, verfügen beispielsweise in Ghana 95 Prozent der Haushalte über Handys.

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