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Inspirierend. Alexander von Humboldt in seinem Studierzimmer in der Oranienburger Straße in Berlin.

© imago/United Atchives International

Wissenschaft für die Gesellschaft: Humboldt ins Heute holen

Bei Zukunftsthemen wie Digitalisierung, Urbanisierung und Klimaschutz wird der große Forscher als Vorbild dringend gebraucht.

Alexander von Humboldt, dessen Geburtstag sich am 14. September zum 250. Male jährt, gilt vielen als großes Vorbild. „Weltwissenschaftler“, „zweiter Columbus“ und „neuer Aristoteles“ wird er genannt. Einer, der unter Strapazen hinauszog, den südamerikanischen Dschungel durchquerte und Vulkane bestieg, um die Welt zu verstehen. Der akribisch vermaß und dokumentierte, wie besessen sammelte und beobachtete, interdisziplinär forschte und stets den Blick fürs Ganze behielt. Wäre er nicht ein exzellentes Vorbild für heutige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler?

Wenn es denn so einfach wäre, Forscherleben über zwei Jahrhunderte miteinander zu vergleichen. So ist es schwer vorstellbar, dass eine Expedition heute Nichtschwimmer ein Boot besteigen ließen, das bald zu kentern droht – in einem Fluss voller Krokodile. Oder dass sich überhaupt staatliche Geldgeber fänden, die eine fünfjährige Forschungsreise auf einem fernen Kontinent finanzieren.

Wir brauchen Forscher, die den Gesamtzusammenhang verstehen

Vor allem hatte Humboldt die Freiheit, das zu ergründen, was ihn interessierte, weit über die Grenzen der Disziplinen wie Geologie, Botanik, Physik und Astronomie hinweg. „In dieser Hinsicht hat es in den vergangenen 100 bis 200 Jahren eine deutliche Veränderung gegeben“, sagt Stephan Rammler, Professor für Transportation Design & Social Sciences an der HBK Braunschweig und seit Herbst 2018 Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) Berlin. „Die Spezialisierung ist immer stärker ausgeprägt. Das führt einerseits zu einer Effizienzsteigerung in Forschung und Entwicklung, aber es erhöht andererseits die Gefahr, dass die einzelnen Forscherinnen und Forscher nicht mehr den Gesamtzusammenhang verstehen.“ Gerade dieser Blick sei nötig, um innovative Ideen zu entwickeln und voranzutreiben. Auch gegen Widerstände.

„Wir brauchen Forscher, die bereit sind, Zusammenhänge zu erklären und die in gesellschaftlichen Debatten Position beziehen“, sagt er und nennt als Beispiel die Klimaforschung. Ähnliches habe auch Humboldt getan mit seinem fünfbändigen Werk „Kosmos“, in dem er eine Gesamtschau seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse anstrebte. Einen weiteren, moderneren Zugang wählte der Wissenschaftler mit seinen „Kosmos“-Vorlesungen im Winter 1827/1828. Nicht an der Berliner Universität, sondern in der benachbarten Singakademie (dem heutigen Maxim Gorki Theater) hielt er 16 Vorträge. Der Saal war jedes Mal brechend voll, Zuhörer aus verschiedenen Schichten, Männer und Frauen, lauschten Humboldt, diskutierten über seine Thesen.

„Die Natur muss gefühlt werden“

Eine solche Wissenschaft für die Gesellschaft und inmitten der Gesellschaft wünscht sich Rammler. Er kritisiert, dass das gegenwärtige System viel zu stark auf Spezialisierung und lange Publikationslisten setze anstatt auf Dialog und echte Kooperation über die Fachgrenzen hinweg. „Es hängt aber auch von der jeweiligen Persönlichkeit und ihrer Art zu Denken ab“, sagt er. „Wir sollten bei der Förderung von Nachwuchswissenschaftlern mehr darauf achten, dass sie einen interdisziplinären Zugang zu ihren Themen haben und beispielsweise Sozial- und Ingenieurwissenschaften zusammenbringen.“

Für eines von Rammlers Forschungsthemen, die E-Mobilität, heißt das: Die bloße Analyse der Watt-Zahlen, der Batteriekapazitäten und der Anzahl der Ladesäulen genügt nicht, um die Entwicklung voranzubringen. Es muss auch berücksichtigt werden, welche Siedlungsstruktur es gibt, wie das Auto seit 150 Jahren unseren Alltag bestimmt, wie wir es gewöhnlich nutzen, was es für uns bedeutet. „Diese Dinge müssen unbedingt mitgedacht werden, um die Elektromobilität zu entwickeln und entsprechende Empfehlungen an die Politik zu formulieren.“ Auch hier scheint wieder so ein Humboldtscher Gedanke durch: „Die Natur muss gefühlt werden“, hatte er an Goethe geschrieben. Also neben dem objektiven Messen und Beobachten auch ein Zugang über Emotionen, um wirklich das Ganze zu erkennen. Dies sei insbesondere bei den Zukunftsthemen wie Digitalisierung, Urbanisierung sowie Individualisierung entscheidend, ergänzt Rammler. „Da können wir von Humboldt noch viel lernen.“
Stephan Rammler diskutiert am 6. Oktober mit Jutta Allmendinger, Sabine Kunst und Hermann Parzinger zum Thema "Der neue Forschergeist". Moderation: Sonja Kastilan

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