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In einem Hörsaal sitzen ältere Frauen und Männer und blicken nach vorne.

© Georg Moritz

Wissbegierige Senioren: Auf dem Höhepunkt des lebenslangen Lernens

Beim lebenslangen Lernen sind die Älteren nicht zu toppen. Erkundungen bei der 30. Berliner Sommer-Uni an der UdK zur Kulturgeschichte der Menschheit.

Plötzlich zerfiel ihre Rolle als fürsorgende Familienfrau. Gerade war die pflegebedürftige Schwiegermutter verstorben, die Kinder hatten das Haus verlassen, dann war auch noch der Hund überfahren worden. Und nun, mit fast 50? Erfand sie sich halt neu. Studierte Pädagogik und Psychologie, super Noten. Ob sie nicht noch promovieren wolle? So geschah es, mit 65 Jahren. Ihr Lebens- und Dissertationsthema: Wissenschaftliche Bildung im Alter.

Inzwischen fast 80, sitzt Dr. Helga Köhler (der Doktortitel muss sein, findet sie) jetzt in Berlin vor dem Konzertsaal der Universität der Künste (UdK). Sie ist, wie immer, aus Wuppertal zur einwöchigen „Berliner Sommer-Uni“ angereist. In diesem Jahr gibt es ein Jubiläum: Seit 30 Jahren richtet die „Berliner Akademie für weiterbildende Studien e.V.“ in Kooperation mit den hiesigen Unis das wissenschaftliche Weiterbildungsprogramm aus.

Hier finden sich lauter Menschen, deren Wissenshunger spät erwachte oder nie aufhörte. Das war auch die Gründungsidee, erzählt Traugott Klose. Seit den Anfangstagen ist er dabei, damals noch als Leiter der Abteilung für Studium und Lehre an der Freien Universität, inzwischen als langjähriger Vorsitzender der Berliner Akademie. Die erste Sommer-Uni fand 1986 mit 150 Leuten statt. Das Interesse stieg: 1988 waren es schon 200, nach der Wende bis zu 450 Teilnehmerinnen. Die Senatsverwaltung für Soziales unterstützte den Verein anfangs – auch, weil man jäh abgebrochenen Ost-Arbeitsbiografien mit einem Weiterbildungsangebot begegnen wollte. Seit 2000 trägt sich der Verein selbst.

Neues zu lernen gehört zur Selbstverwirklichung im Alter

„Wir wollen keine alte Uni sein“, sagt Johannes W. Erdmann, ehemaliger Vizepräsident der UdK und ebenfalls im Vorstand der Berliner Akademie. „Unser Ziel ist eine Öffnung des Blicks. Die Teilnehmer lernen durch die Vorträge die Welt kennen, in der sich ihre Kinder und Enkel bewegen.“ Jedes Jahr gibt es ein übergreifendes Thema für die Vorlesungen, Theaterbesuche und Exkursionen: kulturelle Vielfalt, Planet Erde, technische Innovationen. Orte der Sommer-Uni sind abwechselnd die Berliner Hochschulen; zum achten Mal schon gastieren sie nun an der UdK. Das Thema im 30. Jahr: „Mensch entwickle dich. Kultur, Kunst und Spiel“.

Ein paar Tage zuvor, Anruf bei Hans-Werner Wahl. Er ist Professor für Psychologische Alternsforschung an der Universität Heidelberg und Experte für Alte, die heute aber gar nicht mehr so alt sind. „Unser Bild vom Älterwerden verändert sich“, sagt Wahl. Zwar gibt es bedrohliche Begriffe: Demenz, Einsamkeit, Tod. Der Lebensabschnitt nach der Rente werde aber inzwischen als Zeit der Selbstverwirklichung begriffen. Studien zeigten, dass heutige 90-Jährige mental deutlich fitter sind als die 90-Jährigen der 1960er Jahre. „Es gibt ein neues Selbstbewusstsein.“

Der Herr auf dem Sitz nebenan nickt kurz weg

Der Konzertsaal ist jetzt gefüllt. Optisch dominiert der graue, aber flotte Kurzhaarschnitt. Das Vorlesungsverzeichnis, Notizheft und Zeitung (man liest den Tagesspiegel) stecken in Stofftaschen mit Kunstdruck (Museumsshop). Viele Blusen (Blumenprint) und farblich passender Modeschmuck. Der Herr auf dem Sitz nebenan nickt kurz weg. Andere Sitznachbarn diskutieren die Notwendigkeit der Brille, um nachher die Power- Point-Präsentationen lesen zu können. Vorne spricht UdK-Präsident Martin Rennert sein Grußwort: „Gesellschaften entwickeln sich nicht in Erstarrung“. Es brauche Engagement, erst recht der Alten und erst recht jetzt, wo die Flüchtlinge Hilfe bräuchten bei der Neugestaltung ihrer gebrochenen Biografien. Zwischenapplaus. Man ist hier politisiert.

Doch dann taucht die Sommer-Uni ein in ihr Thema, die Kulturgeschichte der Menschheit. Wolfram Schier, Archäologe an der FU Berlin, nimmt sein Publikum mit ins Neolithikum, jenen Abschnitt der Menschheitsgeschichte, als man sesshaft wurde. Es geht um den Begriff der „Innovation“: Wann und wo entsteht die Kupfermetallurgie? Südosteuropa, 5200 v. Chr. Warum haben Menschen begonnen, sich in Wolle statt Leinen zu kleiden? Wolle ist weniger verarbeitungsintensiv, wärmer, und erlaubt die Erschließung kühlerer Regionen. Allerdings erscheinen uns menschheitsgeschichtliche Innovationen nur im Rückblick so zielgerichtet. „Innovationen breiten sich diskontinuierlich aus“, sagt Schier.

Kleiner portionierte Lerneinheiten

Und wie merkt man sich das alles? „Effizientes Lernen im Alter ist möglich“, sagt Alternsforscher Wahl. Zwar verlangsame sich das kognitive Arbeitsgedächtnis: „Lerneinheiten müssen kleiner portioniert und intensiver wiederholt werden. Der Übungsaufwand ist größer.“ Doch sei die Motivation ein ausgleichender Faktor . „Wir sind ja keine Roboter. Die Biologie übernimmt im Alter nicht alles, sondern das Lernen bleibt unsere Conditio humana.“ Geistige Stimulation, das zeigen Studien, kann Demenzerkrankungen aufschieben. Dafür muss man allerdings lebenslang kognitive Reserven aufbauen. „Je mehr wir uns fordern, umso mehr Synapsen, umso besser die Neuronenleitgeschwindigkeit.“ Die Sommer-Uni ist also so eine Art Gehirnschmiere.

Für viele Frauen dieser Generation war die Uni nicht drin

Pause auf der Sonnenterrasse. Traugott Klose sagt, das Geschlechterverhältnis gleiche sich allmählich an, doch Frauen sind immer noch in der Überzahl. Hat das Damengrüppchen eine These dazu? „Wir sind aktiver, kommunikativer, offener.“ Stimmt’s, dass hier ehemalige Hausfrauen ihre verpasste Bildung nachholen? Nö. „Ich war Nuklearmedizinerin.“ Verwaltungsmitarbeiterin. Personalrätin. Sozialarbeiterin. Aber verpasste Bildung, ja. Für viele Frauen dieser Generation war die Uni, trotz intellektueller Neugier, nicht drin. „Ich bin gerade in Rente gegangen. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich nur für mich selbst Zeit habe.“

Weiter geht’s. Der Anthropologe Christoph Wulf spricht über Menschenbilder als „imaginäre und performative Grundlagen der Kultur“. Es geht um die UN, die in New York demnächst eine Resolution mit 17 Zielen zur Nachhaltigkeit verabschieden wird. Wulf wendet seine Theorie vom Wandel unseres Menschenbildes ins Politische: „Das ist der Versuch der Weltgemeinschaft, eine Utopie zu entwerfen.“ Anschließend sagt eine Teilnehmerin: „Es ist gut, wenn wir unseren Kopf nicht nur anstrengen, sondern ihn uns wirklich zerbrechen.“
Die Sommer-Uni geht bis zum 6. September; es gibt noch Tageskarten (Infos unter: www.berlinakademie.de).

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