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Weniger Gott, mehr Geld. Einer neuen Studie zufolge ist Toleranz und säkulares Denken Voraussetzung für eine florierende Wirtschaft – weil weniger Menschen von Aufstiegschancen ausgeschlossen werden.

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Wirtschaft profitiert von Toleranz: Gottlose Vaterlandsverbesserer

Abkehr von der Religion und Betonung der Individualität geht dem wirtschaftlichen Erfolg einer Gesellschaft voraus. Toleranz könnte erklären, warum das so ist.

Den Zusammenhang zwischen Säkularisierung und Wirtschaftswachstum kennt die Wissenschaft seit Langem. So ging etwa das „Wirtschaftswunder“ der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg auch mit einem Wertewandel einher. Doch wie genau sich dieser Zusammenhang gestaltet, wird intensiv diskutiert. Verursacht und ermöglicht wirtschaftlicher Wohlstand den Gesinnungswandel oder kommt doch erst, entgegen Brecht, die Moral und dann das Fressen?

Das traditionelle Verständnis sieht wirtschaftlichen Aufschwung im Rahmen von Modernisierung als den Treiber von Säkularisierung. „Wenn Gesellschaften wirtschaftlich wachsen, eröffnet dies Räume für Wertorientierungen, die weniger Ordnung und Sicherheit und dafür individuelle Selbstbestimmung ins Zentrum rücken“, sagt Detlef Pollack, Religionssoziologe an der Universität Münster. „Die wirtschaftliche Modernisierung geht oft mit Prozessen der Demokratisierung, dem Ausbau des Sozialstaats und auf dieser Grundlage auch mit einer zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft einher.“ Diese Aspekte der Modernisierung seien es, die auch die Säkularisierung erklären könnten: In einer Gesellschaft, in der mehr Wert auf individuelle Selbstverwirklichung gelegt wird, verlieren auf Autorität aufbauende Institutionen wie die Kirche an Bedeutung.

Säkularisierung geht wirtschaftlichem Wachstum voraus

Doch diesen oft als „Säkularisierungsthese“ bezeichneten Zusammenhang zwischen Modernisierung und Säkularisierung stellt eine gestern im Fachblatt „Science Advances“ veröffentlichte Studie nun radikal infrage. Demnach ging die Säkularisierung dem wirtschaftlichen Wachstum im 20. Jahrhundert voraus. „Dieses Ergebnis schließt ökonomische Entwicklung als plausible Ursache für Säkularisierung aus“, schreiben die Anthropologen Damian Ruck und Alexander Bentley von der Universität Bristol sowie Daniel Lawson von der Universität Tennessee in Knoxville, USA.

Sollten sich die Studienergebnisse tatsächlich bestätigen, wäre das „sensationell“, sagt Pollack.

Ausgefeilte Methodik

Die Forscher analysierten Daten aus 79 Ländern auf einen Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Wachstum und der Religiosität der Bevölkerung hin. Dabei überprüften sie auch andere Einflussfaktoren, etwa den Grad der Bildung oder die Toleranz gegenüber Andersdenkenden.

Bei ihrer Arbeit standen die Wissenschaftler allerdings vor einem schwierigen Problem. Um nachzuweisen, dass religiöser Wertewandel wirtschaftlichem Wachstum vorangeht, bedarf es zeitlich präziser Daten zu Wirtschaftswachstum und religiöser Einstellung. Während wirtschaftliche Entwicklung in Form des Bruttoinlandsprodukts (BIP) relativ gut erfasst ist, gibt es verlässliche Umfragedaten zur Werteorientierung der Bevölkerung erst seit den 1990er Jahren. Um dennoch Aussagen über die Wertvorstellungen von Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts machen zu können, sortierten die Forscher Umfrageergebnisse aus den Jahren 1990 bis 2015 zunächst nach Geburtsjahrgängen. Dann gingen sie davon aus, dass die Wertvorstellungen der Befragten im Laufe ihres Lebens relativ stabil bleiben. So stellten sie Gruppen von Befragten zusammen, die etwa 1910, 1920 und so fort geboren wurden, und verglichen dann, wie sich die Einstellungen der Menschen zu Religion und anderen Werten im Laufe des 20. Jahrhunderts veränderten.

Demnach entwickelte sich die Wirtschaft, gemessen am BIP, erst, nachdem Säkularisierungsschübe stattgefunden hatten. Auch wenn dies nicht beweist, dass Säkularisierung ursächlich für Wirtschaftswachstum verantwortlich ist, lasse sich aus den Ergebnissen doch klar ableiten, dass das Gegenteil – erst das Fressen, dann die Moral – nicht der Fall sein kann. Wirtschaftswachstum könne keine Erklärung für Säkularisierung sein.

Toleranz ist der Schlüssel zu wirtschaftlichem Erfolg

Darüber hinaus finden die Forscher aber noch einen weiteren interessanten Zusammenhang: Toleranz scheint eine Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum zu sein. Während der Grad der Säkularisierung einer Gesellschaft das folgende Wirtschaftswachstum in den 1990er Jahren nur mit einer statistischen Sicherheit von 40 Prozent vorhersagen könne, trage die steigende Toleranz mit 72-prozentiger Wahrscheinlichkeit zum gesteigerten Wohlstand bei.

Dafür gibt es auch eine plausible Erklärung: Toleranz wird in der Studie daran gemessen, wie sehr gesellschaftlich oft stigmatisierte Verhaltensweisen wie Suizid, Homosexualität und Abtreibung akzeptiert werden. Wer Frauen- und Minderheitenrechte akzeptiere, integriere diese Gruppen auch eher in die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung. Davon profitiert ein Land dann durch mehr Wirtschaftswachstum, argumentieren die Forscher.

Allerdings sei die Analyse von Ruck, Bentley und Dawson mit Vorsicht zu genießen, sagt Pollack: „Das Studiendesign ist ausgefeilt, macht die Ergebnisse aber auch angreifbar.“ So sei es etwa fraglich, ob sich die Werteorientierung von Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts tatsächlich aus mehrere Jahrzehnte später entstandenen Umfragen rekonstruieren lässt. Zudem passen die Modellierungsergebnisse teilweise nicht zu anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen. So zeige das Modell den Beginn der Säkularisierung in Großbritannien schon ab 1910 an, obwohl nach traditionellem Verständnis die Säkularisierung dort erst nach den 1960er Jahren Fahrt aufnahm.

Was trieb die Säkularisierung wirklich?

Selbst wenn die Studie recht hat, eröffnet sie im Grunde nur eine neue Frage: Wenn Säkularisierung und kulturelle Modernisierung dem Wirtschaftswachstum vorausgingen – was waren dann die Auslöser für Säkularisierung und die Entwicklung von Toleranz?

„Eine mögliche Antwort wäre, dass Veränderungen im kulturellen Bereich durch rechtliche und politische Entwicklungen angestoßen wurden“, sagt Detlef Pollack. Wie die Kausalitäten jedoch tatsächlich gelagert sind – das herauszufinden, bedürfe weiterer Forschung.

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