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Traumhaft. Das Phänomen ist weder mit dem Schlaf zu vergleichen, noch kommt es nur bei Minusgraden im Winter vor. Madegassische Makis und andere Tiere schalten auch in warmen Gefilden in den Sparmodus, genannt Torpor oder Winterschlaf.

© mauritius images

Winterschlaf: Schlafen bis der Frühling kommt

Den Winter einfach verpennen. Manche Tiere können das. Sogar Primaten. Und mitunter auch Menschen.

Jemand hätte Mitsutaka Uchikoshi raten sollen, das Picknick besonders zu genießen, denn es sollte die letzte Mahlzeit für die kommenden 24 Tage für ihn sein. Der 35-jährige Japaner stieg im Oktober 2006 mit Freunden auf den Hausberg von Kobe, eine Großstadt im Westen Japans, um zu grillen. Auf dem Rückweg trennte er sich von der Gruppe, stürzte von einem Felsen, blieb reglos in einem Waldstück liegen und dämmerte weg.

Drei Wochen ohne Essen und Trinken überlebt

Als ihn rund drei Wochen später ein Kletterer fand, war Uchikoshis Körpertemperatur auf 22 Grad abgefallen, sein Puls kaum spürbar und seine Organe arbeiteten nur noch auf Sparflamme. Doch er lebte. Da die behandelnden Ärzte sich nicht erklären konnten, wie ihr Patient mit einer derart niedrigen Körpertemperatur und so wenig Essen drei Wochen durchhalten konnte, kamen sie zu dem Schluss, dass Uchikoshi eine Art Winterschlaf gehalten haben musste.

Winterschlaf bei Menschen? Unwahrscheinlich. Zwar gefällt vielen Menschen die Vorstellung, sich von Oktober bis März einfach einzukugeln und den Winter zu überspringen, doch bislang deuteten alle wissenschaftlichen Erkenntnisse darauf hin, dass dieses Privileg Tieren wie Igeln oder Siebenschläfern vorbehalten war. Doch neueste Forschungsergebnisse zeigen, dass auch bei Primaten Winterschlaf möglich ist.

Kein Schlaf und auch nicht nur im Winter, sondern "Torpor"

Wissenschaftler wie Georg Heldmaier nennen den Zustand, den die Tiere im Winterschlaf eingehen, Torpor – lateinisch für Erstarrung. Der Begriff Winterschlaf führt in die Irre, denn weder schlafen die Tiere in dieser Zeit noch muss der Winterschlaf zwangsläufig im Winter liegen. Heldmaier, Tierphysiologe an der Universität Marburg, erforscht das Phänomen seit Jahren: mit Zwerghamstern, Murmeltieren und Mäusen. Während Zwerghamster relativ spontan und nur kurze Zeit in den Torpor verfallen, können Igel, unterbrochen nur von gelegentlichen Aufwärmphasen, mehrere Monate im Torpor verharren.

Neben dem langen Winterschlaf gibt es auch den kurzen „Tagestorpor“. Dabei wird der Stoffwechselverbrauch nicht so extrem abgesenkt wie beim Winterschlaf, der den Stoffwechsel um weit über 90 Prozent reduziert. Zu den bekannten Winterschläfern gehören Igel und Bären. In den Tagestorpor fallen Spitzmäuse, Rennmäuse, Zwerghamster, Fledermäuse und einige Vogelarten.

Der Tagestorpor hat nichts mit der sogenannten Kälte- oder Winterstarre zu tun. Während die Körpertemperatur von Reptilien, Amphibien und Insekten ausschließlich von der Umgebungstemperatur abhängt, fallen Vögel und Säugetiere in den Winterschlaf, weil ein kompliziertes Geflecht aus inneren und äußeren Faktoren sie dazu bringt. Wie genau die Tiere das machen, gehört nach wie vor zu einem der größten Geheimnisse des Winterschlafs.

Der Hypothalamus im Gehirn fährt die Körpertemperatur runter

Fest steht, dass zu Beginn einer Torporphase eine Region im Mittelhirn hohe Aktivität aufweist, der Hypothalamus. Hier bildet der Körper lebenswichtige Hormone und von hier aus wird die Körpertemperatur reguliert. Um den Torpor herbeizuführen, drehen die Tiere ihr körpereigenes Thermostat herunter. Wie weit die Temperatur fällt, hängt von der jeweiligen Tierart ab. Igel, die normalerweise 35 Grad warm sind, kühlen im Torpor auf vier Grad ab.

Die menschlichen Stoffwechselprozesse benötigen eine Körpertemperatur von rund 37 Grad, um optimal arbeiten zu können. Demnach hätte der Japaner Uchikoshi nach 24 Tagen bei einer Körpertemperatur von 22 Grad eigentlich erfrieren müssen. Warum ist das nicht passiert? Schlummert die von Tieren bekannte Fähigkeit, bei Nahrungsengpässen und großer Kälte in den Torporzustand zu verfallen, womöglich auch im Menschen?

Als Heldmaier die Geschichte des Japaners in den Zeitungen liest, setzt er sich an den Rechner und schreibt eine E-Mail an die behandelnden Ärzte in Japan. Höflich erkundigt er sich nach Herzfrequenz, Stoffwechselrate und Blutdruck des Patienten. Doch die Mediziner antworten nicht – wie so oft. Es ist nicht das erste Mal, dass Heldmaier versucht, Genaueres über das mysteriöse Überleben von Menschen in Erfahrung zu bringen. Immer wieder wecken aufsehenerregende Geschichten über überlebende Unfallopfer sein Interesse. So auch der Fall einer Norwegerin, die beim Wandern in eine Eisdecke einbrach und eine halbe Stunde im kalten Wasser dahintrieb, bevor sie lebend geborgen werden konnte. „Ihr Körper muss den Stoffwechsel komplett heruntergefahren haben, sonst hätte sie diesen extremen Sauerstoffengpass nie bewältigt“, sagt Heldmaier.

Was den Torpor startet, ist unbekannt

Doch wieso erfrieren oder ersticken dann jährlich Tausende von Menschen? Dass nach wie vor niemand genau weiß, welche Faktoren den Torpor einleiten, liegt auch daran, dass das Phänomen unter Wissenschaftlern lange Zeit keinen besonders guten Ruf genoss. So galt die Fähigkeit zum Torpor als rudimentäres Überbleibsel einiger sehr alter Tierarten. Erst seit bekannt ist, dass auch Fettschwanz- und Mausmakis auf Madagaskar in den Torpor fallen, hat die Forschung wieder an Schwung gewonnen.

Schon Charles Darwin äußerte 1845 die Vermutung, dass die madagassischen Makis zu Winterschlaf fähig sind. Doch Belege lieferte erst die Freilandforschungen der Tierphysiologin Kathrin Dausmann, die die Stoffwechselleistung und Körpertemperatur der Tiere im Torpor aufzeichnete. Makis sind Lemuren, die wie der Mensch in die systematische Kategorie der Primaten eingeordnet werden. Im Gegensatz zu den Makis gehört Homo sapiens jedoch zur Unterordnung der Trockennasenprimaten, während die Lemuren zu den Feuchtnasenprimaten gehören. Dennoch besteht eine gewisse Verwandtschaft. Kann der Mensch also unter bestimmten Bedingungen auch einen Zustand des Torpors aus den Tiefen des genetischen Gedächtnisses abrufen?

Während der Geburt sind die Babys in einem ähnlichen Zustand

Den Neonatologen Dominik Singer erstaunt es immer wieder, wie ähnlich der Zustand des Fötus im Bauch dem des Torpors ähnelt. „Die Anpassungsmechanismen des Neugeborenen um die Geburt herum weisen verblüffende Parallelen mit dem Torpor auf“, sagt er. Ähnlich wie ein harter Winter stelle die Geburt eine kritische Phase im Leben eines Säugetiers dar. Deswegen sorge der Organismus für Schutzmechanismen. So sei der Stoffwechsel eines Fötus im Vergleich zu seiner Größe erstaunlich niedrig, ähnlich wie bei Tieren im Torpor. Auch heizt der Fötus nicht selbst und sorgt für seine Körperwärme, sondern wird von der Mutter bebrütet. Im Geburtskanal kann es bei Schwierigkeiten zudem zu dem sogenannten Tauchreflex kommen. Die Herzfrequenz verlangsamt sich und die Stoffwechselprozesse werden heruntergefahren. „Eine Geburt ist für einen Säugling praktisch wie das Erwachen aus dem Winterschlaf“, sagt Singer.

Die Frage treibt auch Forscher der Nasa um. So reizvoll erscheint der Raumfahrtbehörde der Torporzustand, dass sie ihn gerne selbst auslösen würde. Die Hoffnung: Der Stoffwechsel von Astronauten könnte herabgesenkt werden, um die Fahrt ins All zu verkürzen und sie psychologisch zu entlasten. Seit Jahren experimentiert die Nasa mit Kühlkammern, um Menschen künstlich in den Torpor zu versetzen. Auch die Humanmedizin zeigt Interesse: Häufig kommt es bei Unfälle zu Sauerstoffengpässen. In einem torporähnlichen Zustand nähmen die Gehirne der Patienten weniger Schaden.

Gelerntes bleibt trotz Winterschlaf erhalten

Vom künstlichen Abkühlen des Menschen hält Gerhard Heldmaier nichts. Zu groß sei die Gefahr, dass es zu Herzkammerflimmern komme. Das Charakteristische am Torpor sei, dass der Organismus zuerst den Stoffwechsel herunterfahre und anschließend abkühle – nicht umgekehrt. Der Hypothermie genannte Unterkühlungszustand sollte also keinesfalls mit dem endogen herbeigeführten Torporzustand verwechselt werden. Um derlei Forschungssackgassen zu vermeiden, hat Heldmaier vor drei Jahren eine eigene Arbeitsgruppe bei der Europäischen Weltraumorganisation Esa gegründet. Regelmäßig tauscht er sich mit Neurowissenschaftlern, Biologen und Humanmedizinern über neueste Erkenntnisse rund um den Torpor aus.

Erst kürzlich konnte der Tierphysiologe einen Mythos über den Winterschlaf zerstreuen: Die Vorstellung, dass die Tiere während des Torpors Gelerntes vergessen. Eine Kollegin habe dazu in einem Versuch Murmeltieren beigebracht, zehn Mal durch eine Röhre zu rennen. Danach bekamen sie eine Banane. Nach dem Erwachen aus dem Winterschlaf spielte sie dasselbe Spiel mit den Murmeltieren. Das Ergebnis: Direkt nach dem Aufwachen im Frühling konnten die Tiere ihr antrainiertes Verhalten ohne Probleme abrufen. Alles andere wäre, übertragen auf die Astronauten, auch fatal, sagt Heldmaier: „Stellen Sie sich vor, die landen auf dem Mars und wissen nicht mehr, was sie dort wollen.“

Buchtipp: Lisa Warnecke: "Das Geheimnis der Winterschläfer – Reisen in eine verborgene Welt." C. H. Beck Verlag, München 2017. 208 Seiten, 19,95 €

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