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Eine junge Studentin sitzt zu Hause vor ihrem Laptop und schreibt in einem College-Block mit.

© privat

Wie Studierende und Lehrende die Pandemie bewältigen: „Ich beiße mich komplett alleine durchs Digitalsemester“

Im zweiten Digitalsemester seit Beginn der Coronakrise haben Studierende und Lehrende viel dazu gelernt – vermissen aber auch viel. Fünf persönliche Protokolle.

Wenn Ende Februar an den Hochschulen in Berlin das Wintersemester endet, dürfte eines gewiss sein: Auch das Sommersemester wird in großen Teilen im Zeichen der Online-Lehre stehen. Den Lernenden und Lehrenden an den Hochschulen wird von der Politik sehr viel eher als Schüler:innen und Lehrkräften zugetraut, weiterhin zu Hause am Laptop zu arbeiten.

Doch wie kommen Studierende und Professor:innen damit zurecht? Wir haben einige von ihnen, die uns im Frühjahr, Sommer und Herbst 2020 Auskunft gegeben hatten, jetzt noch einmal gefragt. Wie lässt sich das digitale Wintersemester durchhalten, wie hat sich die Online-Lehre in den letzten Monaten entwickelt – und was ist nur schwer zu ertragen? Fünf persönliche Berichte, protokolliert von Amory Burchard.

Seher Gülaçar studiert im ersten Semester Chemieingenieurswesen an der TU Berlin und war von einer virtuellen Erstifahrt und einem Spieleabend der Fachschaft zum Semesterstart begeistert.
„Nach einer Phase der Unsicherheit, ob unser Laborpraktikum trotz des Lockdowns noch in Präsenz stattfinden kann, bin ich sehr froh, dass wir weiterhin diese eine Veranstaltung an der Uni haben. Ich finde mich jetzt gut im Labor zurecht und vieles, das mir in den ersten Tagen total fremd war, ist inzwischen selbstverständlich.

Zuletzt haben wir eine Vollanalyse gemacht, bei der wir mit einem Trennungsverfahren bestimmen mussten, welche vier Kationen in einer Substanz enthalten sind. Inzwischen habe ich wider Erwarten so viel Spaß an der Chemie, dass ich meinen geplanten Wechsel in die Biotechnologie noch einmal überdenke. Überhaupt gefällt mir das Studium sehr gut, besser als an der Humboldt-Uni, wo ich 2019 in Adlershof mit Physik angefangen hatte.

Hier an der TU geben mir die Dozenten das Gefühl, dass sie Lust haben, zu unterrichten. Sie erklären die Dinge auch beim dritten Mal noch geduldig. Dass außer im Labor alles andere digital angeboten wird, finde ich mehr als akzeptabel. Es ist entspannter, sich durch asynchrone Lehrveranstaltungen die Zeit selber einteilen zu können. An Versuchen, die Lehrende in der Vorlesung vor laufender Kamera vorführen, sind wir jetzt auch einfach näher dran als im Hörsaal.

Der einzige Nachteil ist, dass man nicht persönlich nachfragen kann. Das wurde in einer Matheübung zum Problem: Ein Kommilitone hat ein paar seiner Lösungen in den Chat gepostet und andere, die dann bei den Hausaufgaben einen ähnlichen Lösungsweg gewählt haben, wurden des Plagiats bezichtigt. Ein totales Missverständnis, das uns Punkte gekostet hat, weil ich kein klärendes Gespräch mit dem Tutor führen konnte.

Die anderen meinten, es bringt auch nichts, ihm zu mailen, und dem musste ich mich beugen. Super läuft aber unsere WhatsApp-Gruppe, in der wir uns fachlich austauschen und auch quatschen. Ich bin der Fachschaft so dankbar, dass sie das initiiert hat und noch immer begleitet, falls wir selber mit Problemen nicht weiterkommen.“

Ein junger Student macht ein Selfie am Ufer Spree auf der Höhe des Futuriums.
Finn Jungenkrüger macht konsequent Arbeitspausen - am Spreeufer oder in seiner Wohlfühlecke.

© privat

Finn Jungenkrüger studiert im 3. Semester Geschichtswissenschaft und Regionalstudien Afrika und Asien an der Humboldt-Universität. Sein Tipp, um gut durch das Digitalsemester zu kommen lautete im Herbst 2020: Richtet euch zu Hause eine Wohlfühlecke ein, um vom Schreibtisch und vom Laptop wegzukommen.
„Ich beiße mich durch mein zweites Online-Semester komplett alleine durch. Es gibt wenig Möglichkeiten, sich mit anderen auszutauschen. Die Kontakte, die ich habe, stammen aus dem Wintersemester vor einem Jahr, das noch komplett in Präsenz stattfand. Jetzt bekommen wir in den Seminaren ein, zwei Texte, die wir vorher lesen sollen, beim nächsten Termin in Dreier- oder Vierer-„Räumen“ im Videokonferenzformat besprechen und anschließend im Plenum diskutieren.

Aber dann geht man wieder auseinander und sitzt vor dem schwarzen Bildschirm. Früher hätte man nach dem Seminar noch gefragt: Gehst du noch mit in die Mensa? Ein echter Fortschritt in diesem Semester ist die Möglichkeit, Breakout-Rooms für kleinere Gruppen im Seminar zu schaffen, und neben dem Videopodcast der Vorlesung einmal in der Woche eine Zoom-Konferenz mit dem Professor zu haben. Diesen Austausch gab es im ersten Digitalsemester nur im Chat auf unserer Lernplattform Moodle.

In der Vorlesung zum Nationalsozialismus moderiert der Prof das recht gut und ich traue mich auch, hin und wieder etwas zu meinem eigenen Projekt zu fragen. Ich versuche, die Ausbreitung der NS-Bewegung in meinem Heimatort in Nordrhein-Westfalen am Beispiel eines Vereins zu rekonstruieren. Ein bei uns bislang recht wenig behandeltes Thema. Der Professor beantwortet Fragen sehr detailliert und stellt hinterher oft noch Links dazu in den Chat.

Ein anderer Professor hält weiterhin stur seine 90 Minuten Vorlesung, die er vom Manuskript direkt in die Laptopkamera abliest. Das macht nicht nur mich müde. In den Arbeitspausen und abends freue ich mich dann wirklich auf meine Wohlfühlecke mit den gemütlichen Kissen und den Urlaubsbildern. Dort lese ich ein Buch, höre einen Podcast und gehe erst wieder an den Schreibtisch, wenn ich mich erholt habe. Das funktioniert – und das muss es wohl auch noch bis in den nächsten Herbst.

Eine Frau mittleren Alters steht an einem Geländer in einem Universitätsgebäude.
Gabriele Penn-Karras ist Mathematik-Dozentin am Institut für Mathematik an der TU - und vermisst die persönliche Ansprache.

© Alexander Rensch/TU Berlin

Gabriele Penn-Karras ist Mathematik-Dozentin an der TU Berlin. Kurz vor Beginn des ersten Digitalsemesters im Frühjahr 2020 wurde ihre klassische Vorlesung Analysis II für Ingenieurstudierende im Hörsaal 1:1 abgefilmt und für die Studierenden ins TU-Netz gestellt.
„Mein eineinhalbstündiger Tafelvortrag ganz allein im Hörsaal war damals eine schnell zu realisierende Notlösung. Mittlerweile mache ich zu Hause Videoaufzeichnungen, bei denen ich auf ein Blatt schreibe und die Studierenden mich außerdem klein im Bild sehen, wie ich mit Händen und Füßen erkläre. Meine Videos zur Lehrveranstaltung Analysis I und Linearer Algebra sind nun in Häppchen von 20 bis 30 Minuten unterteilt.

Es ist in diesen zehn Monaten unglaublich viel Routine dabei entstanden – im positiven Sinne.

Mein Kollege, der die Parallelvorlesung hält, arbeitet mit vorbereiteten Folien und bleibt bei den 90 Minuten. Auch das kommt bei den Studierenden gut an, eine Hälfte entscheidet sich für meine Vorlesung, die andere für seine. Die Beratungsangebote der Uni habe ich nicht in Anspruch genommen: Ich komme ganz gut mit der Technik zurecht und habe meinen eigenen authentischen Stil entwickelt.

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Die Forderung, dass Vorlesungen auch in Zukunft – ,nach Corona’ – als jederzeit abrufbare Videos angeboten werden sollten, kann ich nachvollziehen. Diese Form kommt den Studierenden gelegen, sie sind zeitlich flexibel und können zurückspulen. Aber es fehlt doch eine Dimension: die persönliche Ansprache, der Augenkontakt, dass sich die Studierenden wahrgenommen fühlen.

Auf jeden Fall sollten wir die jetzt entstandenen Vorlesungsvideos weiternutzen – aber nicht auf Präsenz verzichten. Ein Vorteil der Digitalisierung ist, dass wir jetzt viel mehr teilen können. Ein junger Mitarbeiter hat für seinen Ferienkurs Mathe-Quizze zur Auflockerung erfunden, die haben wir jetzt auch im regulären Semester angeboten. Wir müssen aber aufpassen, dass es nicht zu viel Material wird im unendlichen digitalen Raum.“

Eine Professorin steht vor ihrem Bücherregal im Arbeitszimmer.
Susanne Zepp ist Romanistik-Professorin an der Freien Universität - und beindruckt von der Solidarität der Studierenden.

© A. Zwirner

Susanne Zepp ist Romanistik-Professorin an der Freien Universität und hatte ihre Vorlesung im Sommersemester 2020 für Audio-Podcasts umgeschrieben und zu Hause mit dem Handy aufgenommen.

„Ich hätte die letzten Monate ohne den Dialog mit den Studierenden nicht in gleicher Weise durchgestanden. Auch wenn ich die Uni und den persönlichen Kontakt wirklich sehr vermisse, kann ich doch sagen: In den Online-Seminaren entsteht eine andere Nähe. Ich sehe alle Studierenden gleichzeitig, alle sind in der ersten Reihe.

Ich blicke in unterschiedliche Räume, Kinder oder Katzen kommen ins Bild. Und die Studierenden sehen mich an meinem Esstisch. Das verändert die Hierarchien, die es im Hörsaal allein durch die räumliche Aufteilung gibt. Und so entstehen andere Gespräche als früher. Das tut gut in diesem Winter, der für uns alle nicht leicht ist.

Die fehlende Präsenz ersetze ich wie viele meiner Kolleginnen durch ein Mehr an Betreuung – mit häufigeren Sprechstunden per Telefon oder Videocall und Gruppengesprächen auf WebEx. Durch in der Hochschullehre bislang kaum genutzte, jetzt für uns aber alltägliche Tools wie die interaktive Plattform Padlet kann ich den Studierenden schon im Entstehen eines Referats Feedback geben – und nicht erst, wenn es zu spät ist.

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Die Referate schauen sich alle asynchron an – und wir haben viel mehr Zeit für die Diskussion. Das sind Arbeitsformen, hinter die ich nicht wieder zurückgehen will.

Meine Vorlesung im Sommersemester wird ein Videopodcast in kürzeren Einheiten. Die Clips will ich so lebendig wie möglich gestalten, Schlüsselbegriffe und Grundlagentexte blende ich ein. Wir müssen jetzt weiter nach guten Wegen suchen, um den Stoff für die Studierenden gut aufzubereiten und dabei ihre veränderte Lernsituation anerkennen.

Mich beeindruckt der gesellschaftliche Beitrag der Studierenden sehr. Sie kämpfen sich zuhause an ihren Laptops durch die Pandemie und tragen so wesentlich dazu bei, dass Kontakte eingeschränkt werden. Wie solidarisch sie dabei sind, habe ich in meinem Proseminar zum mittelalterlichen Epos erlebt.

Das belegen viele Studienanfänger:innen. In den ersten Wochen habe ich nicht verstanden, warum die wirklich sehr interessierten Studierenden sich nicht gezielt auf die Sitzungen vorbereitet haben, obwohl alle Materialien auf der Lernplattform bereitlagen. Ich bin in der dritten Sitzung einmal deutlich geworden – und habe erst aus den Reaktionen verstanden, dass ihnen gar nicht klar war, dass man das für Uni-Seminare so macht. Das schneiden sie sonst im Unialltag einfach so mit.

Doch plötzlich, von einer Sitzung zur anderen, hatten alle die Texte gelesen und die Diskussion lief fantastisch. Was passiert war? Sie hatten eine WhatsApp-Arbeitsgruppe gebildet, sich vorher gemeinsam über die Texte gebeugt und einander geholfen – und sind seitdem voll dabei.“

Ein Porträtbild von Nicolas Apostolopoulos.
Nicolas Apostolopoulos lehrt Medienpädagogik an der FU und fordert vom Bund finanzierte Lernclouds für die Hochschulen.

© Thilo Rückeis

Nicolas Apostolopoulos ist Gründer und ehemaliger Leiter des Centers für Digitale Systeme (1998-2017) und Honorarprofessor für Medienpädagogik an der FU. Im digitalen Sommersemester 2020 vermisste er „ein großes Hurra seitens der Lehrenden“.
„Kein Zweifel, die Hochschulen haben sich seit dem Frühjahr 2020 in der digitalen Lehre professionalisiert: Die Dienste, die man benötigt, um eine ordentliche Lehrveranstaltung anzubieten, haben sich verbessert. Die Webseiten sind besser geordnet und gefüllt, die Konferenztools und ihre Funktionen sind bekannter und wer Fragen zur digitalen Technik oder zur Didaktik hat, bekommt von den Servicestellen eine schnellere Antwort und eine gute Schulung, auch online.

Trotzdem muss ich sagen: Auch die Hochschulen haben bei der Digitalisierung den Sommer verschlafen, die Weiterentwicklung der digitalen Lern- und Lehrmittel verpasst. Verständlicherweise mussten sich alle nach dem überfordernden Blitzstart im Frühjahr etwas erholen und viele dachten, dass sie im Wintersemester zur konventionellen Lehre zurückkehren können.

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Das ist aber die Welt von gestern! Das klassische Präsenzstudium ist keineswegs überwunden. Noch immer fühlen sich Lehrende vor ihrer Laptopkamera zu Hause unwohl. Sie brauchen ein Medientraining, das es möglich macht, auch die eigene Performance zu überprüfen und Schwächen oder Fortschritte der Teilnehmer beim Lernen zu erkennen.

Zu wenig wird bislang didaktisch aufbereitete interaktive Lernsoftware eingesetzt. Oder Debatten- und Kollaborationstools, mit denen die Studierenden stärker motiviert werden, sich zu beteiligen.

Was fehlt, ist eine nationale Strategie und die entsprechende Finanzierung, um die Hochschulen für eine bessere, digitale Zukunft vorzubereiten und zu transformieren. Wir brauchen eine, oder besser zwei, drei vom Bund finanzierte Lernclouds, die jeweils eines der gängigen Videokonferenz-Programme und Lehr- sowie Lernumgebungen professionell unterstützen.

Diese Produkte müssen den Hochschulen als Infrastruktur bereitgestellt werden. Aber bisher hat die digitale Hochschulbildung leider keine durchsetzungsstarke Lobby.“

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