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Die Ausländerbehörden stellen für Studierende oft hohe Hürden da - oft wird dort nicht einmal Englisch gesprochen.

© picture alliance / Arne Dedert/dpa

Wie sehr sind internationale Studierende willkommen?: „Beinahe wäre ich an Deutschland verzweifelt“

Ein FU-Student aus Venezuela soll kurz vorm Abschluss abgeschoben werden. Gibt es die vielbeschworene Willkommenskultur für internationale Studierende in Deutschland nur auf dem Papier?

„Vier Wochen hat man mir Zeit gegeben, mein Leben in Deutschland abzuwickeln“, sagt FU-Student Ricardo Cabalero (Name von der Redaktion geändert). „Vier Wochen für fünfeinhalb Jahre.“

Der aus Venezuela stammende Cabalero befindet sich auf der Zielgeraden seines Masterstudiums in Philosophie, als ihn der Brief der Berliner Ausländerbehörde – die seit Beginn des Jahres 2020 den einladenden Titel „Landesamt für Einwanderung“ trägt – zur zügigen Auswanderung auffordert.

Trotz einer überschwänglichen Studienprognose der FU-Professorin Hilge Landweer, die einen schnellen Abschluss seiner Masterarbeit über die deutsche Phänomenologie in Aussicht stellt und ihm hervorragende Leistungen bescheinigt, ist er in Deutschland nicht länger willkommen.

Behördliche Praxis vs. Kultur an den Unis

Das Interesse der Bundesrepublik an seiner Ausreise überwiege sein Interesse, zu bleiben – so der Tenor des Behördenbescheids, der im Sommer 2019 in seinem Briefkasten liegt.

Besonders die Berliner Bildungspolitik betont seit Längerem ihr Anliegen, die Hochschulen internationaler zu machen. Schaut man auf den Fall Ricardo Cabalero, könnte man auf die Idee verfallen, die behördliche Praxis stehe dem entgegen.

Gibt es die vielbeschworene Willkommenskultur für internationale Studierende nur auf dem Papier?

"Ich schicke Studienprognosen direkt an Anwälte"

Der venezolanische FU-Student Cabalero scheint mit seinen Problemen jedenfalls nicht alleine zu sein. „Es kommt immer häufiger vor, dass ich Studienprognosen direkt an Anwälte schicke“, sagt Hilge Landweer. Die langjährige Sprecherin des Bundesverbandes ausländischer Studierender (BAS), Maimouna Outarra, erzählt ebenfalls, dass sich Studierende aus Nicht-EU-Ländern häufig um juristischen Beistand bemühen.

(Lesen Sie zu dem Thema auch: Wie Deutschland Studierenden aus Nicht-EU-Ländern die Visumsvergabe erschwert.)

Auch Cabalero nahm sich einen Anwalt, den Experten für Ausländerrecht und ehemaligen Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht Berlin, Percy MacLean. „Angesichts seiner hervorragenden Studienprognose war der Übereifer der Ausländerbehörde, Ricardo Cabalero abzuschieben, für mich nicht ansatzweise nachvollziehbar“, sagt MacLean. Die Behörde habe eine enorme Mühe investiert, den jungen Mann am Abschluss seines Studiums zu hindern.

Was genau ist geschehen?

Im Frühjahr 2019 wird Cabalero in der Berliner Ausländerbehörde vorstellig, um sein auslaufendes Visum zu verlängern. Abgesehen von der Masterarbeit, deren Konzept bereits erarbeitet ist, hat er sämtliche Prüfungen erbracht – wartet aber nun auf die Ergebnisse, weshalb ihm die nötige Prognose noch fehlt.

Die Prüfungsleistungen sind überragend

Wie erwartet soll sein Aufenthaltstitel erst verlängert werden, wenn die Uni ihre klare Zuversicht über den Abschluss seines Studiums verkündet. Bis man endgültig entschieden habe, müsse er seinen Pass abgeben. „Zu diesem Zeitpunkt habe ich mir noch keine Sorgen gemacht“, sagt der Philosophiestudent.

Die Noten treffen ein, seine Prüfungsleistungen sind – abgesehen von einer 1,3 – sämtlich mit 1,0 bewertet. Landweer schreibt ihre erste Prognose, in der es heißt, dass der „ausgezeichnete und sehr präzise arbeitende Student“ sein Studium im Frühsommer 2020 beendet haben wird.

Die sprachlichen Schwierigkeiten rechtfertigten die anberaumte Zeitspanne. Er schickt die fehlenden Dokumente an die Ausländerbehörde – inklusive eines Bescheides seiner Psychiaterin über schwere depressive Episoden, die das Befüllen des Credit-Point-Kontos schon mal etwas verzögern können.

Auf einmal die Auskunft: Das Visum wird nicht verlängert

Die Mühlen beginnen zu mahlen, zwei Monate wartet Cabalero auf Antwort. Dann ersucht er die Behörde um einen Termin – er braucht den einkassierten Pass, um zur Hochzeit seines besten Freundes nach Venezuela zu reisen. Nun eröffnet ihm die Sachbearbeiterin, dass man sein Visum nicht verlängern werde, er könne seinen Pass haben und ausreisen; einreisen dürfe er dann nicht mehr.

Cabalero will die Gründe wissen – die werde man ihm alsbald schriftlich eröffnen. Der junge Mann storniert seinen Flug und wartet zwei weitere Monate auf das angekündigte Schreiben.

Die psychische Belastung ist enorm. „In dieser Zeit hing ich völlig in der Luft“, sagt Cabalero. „Es war die reine Hölle für mich, jeden Tag bin ich ängstlich zum Briefkasten gegangen, ich habe kaum noch geschlafen und mir einen Fingernagel abgekaut.“ Er wendet sich an Percy MacLean, der die Verteidigung zunächst nicht vorbereiten kann, weil nach wie vor die schriftliche Anordnung fehlt.

Er soll Deutschland binnen vier Wochen verlassen

Schließlich bekommt er den erwarteten Brief: Mit fünfeinhalb Jahren im Master habe er zu lange studiert, ein weiteres Jahr für die Masterarbeit werde man ihm nicht gewähren. Es sei nicht nachvollziehbar, warum es noch Sprachhürden gebe, die seien in den ersten beiden Jahren zu nehmen. Auch die psychischen Probleme reichen als Grund für die Verlängerung nicht aus.

Kurz: Er soll Deutschland binnen vier Wochen verlassen. „Wie kann man sein über Jahre gewachsenes soziales Leben, Freundschaften und Liebesbeziehungen, mal eben so an den Nagel hängen?“, fragt Cabalero.

Nun kann niemand erwarten, dass die Beamten der Ausländerbehörde die Schwierigkeiten ermessen können, die aus dem Umgang mit den hochkomplexen Sprachwelten eines Edmund Husserl oder Bernhard Waldenfels erwachsen. Auch Muttersprachler haben hier ihre Probleme.

Gewünscht wird mehr Kooperation zwischen Unis und Behörden

Aber sollte man dann nicht auf die Experten hören? „Ich bin mir nicht sicher, wie ernst die Behörde unsere Empfehlungen nimmt“, sagt Landweer. Sie schreibe keine Gefälligkeitsprognosen, sondern prüfe genauestens den einzelnen Fall. „Besonders im Fach Philosophie hängt vieles an einem kompetenten Sprachgebrauch. Es ist völlig klar, dass ausländische Studierende hier länger brauchen.“ Sie habe nicht das Gefühl, dass es bei den zuständigen Stellen dafür immer genügend Verständnis gebe.

Landweer wünscht sich mehr Kooperation zwischen Universität und Ausländerbehörde. „Ich möchte, dass meine 40 Jahre währende Erfahrung in der Beratung von Studierenden berücksichtigt wird.“

Im Fall Cabalero schreibt Landweer eine zweite Prognose, in der sie die besagten Hindernisse benennt, auf die Notwendigkeit einer Vertiefung von Cabaleros Sprachkenntnissen und auf seine schweren Depressionen verweist.

Die Behörde bleibt stur

Es sei deutlich, dass er seine Probleme im Griff und mit der Masterarbeit begonnen habe, zudem wäre es nicht nur für ihn, sondern „auch für das Fach Philosophie und für die Freie Universität, die ja schon viel in seine Ausbildung investiert hat, ungemein tragisch, wenn Herr Cabalero, der so außerordentliche und vorzügliche Leistungen vorzuweisen hat, sein Studium nicht abschließen könnte“.

Die Behörde aber bleibt weiterhin stur. Cabalero reicht Klage ein. „Die Ausländerbehörde war zu keiner Einigung bereit“, sagt Percy MacLean. Selbst auf den Vorschlag des Gerichts, zunächst die vierwöchige Frist zu verlängern, habe man sich nicht einlassen wollen. Schließlich entscheidet die erste Instanz, dass er sein Studium abschließen darf. Doch noch immer ist der Spuk nicht vorbei. Die Ausländerbehörde klagt vor dem Oberverwaltungsgericht gegen die erstinstanzliche Entscheidung, um seine Abschiebung doch noch zu erzwingen.

Ein weiteres Dilemma erwächst Cabalero aus dem Umstand, dass parallel zu den Geschehnissen in Deutschland sein Einbürgerungsverfahren in Spanien läuft. Als Nachfahre von sephardischen Juden, die man 1492 von der Iberischen Halbinsel vertrieb, hat er die Möglichkeit, Landsmann zu werden.

Ist das "Versagen der Ausländerbehörde" ein bedauerlicher Einzelfall?

Hierfür aber müsste er in Spanien sein und einen gültigen Pass vorweisen, der nach wie vor im Aktenschrank des Landesamtes liegt. Erst als Wochen später auch die zweite Instanz zu seinen Gunsten entscheidet – ihn so kurz vor Abschluss seiner Masterarbeit abzuschieben, sei jenseits jeder Verhältnismäßigkeit –, erhält er endlich den Pass zurück. So kann er Ende Januar 2020, noch bevor das Coronavirus den Personenverkehr in Europa lahmlegt, nach Spanien reisen, um die Einbürgerung zu beantragen. Kurz darauf kehrt er nach nach Berlin zurück.

Ist dieses „Versagen der Ausländerbehörde“ (Percy MacLean) bloß ein bedauerlicher Einzelfall? Fühlen sich internationale Studierende in der beständig um ihr weltoffenes Image bemühten Stadt Berlin hinreichend willkommen?

Immerhin stammt ein Drittel der frisch eingeschriebenen Studierenden aus dem Ausland. Insgesamt haben allein an den elf staatlichen Hochschulen und der Charité gut 35 000 Menschen einen internationalen Pass.

Die Unis wollen eine Willkommenskultur pflegen (im Bild ein internationaler Tag an der Viadrina-Uni in Frankfurt/Oder. Sie müssen auch Erfolgsprognosen für internationale Studierende abgeben - doch die werden von den Ausländerbehörden manchmal ignoriert.
Die Unis wollen eine Willkommenskultur pflegen (im Bild ein internationaler Tag an der Viadrina-Uni in Frankfurt/Oder. Sie müssen auch Erfolgsprognosen für internationale Studierende abgeben - doch die werden von den Ausländerbehörden manchmal ignoriert.

© Patrick Pleul/dpa

Man müsse dafür Sorge tragen, dass sich die Studierenden im Berliner Hochschulsystem gut aufgehoben fühlen, erklärt Steffen Krach, Staatssekretär für Wissenschaft und Forschung, auf Anfrage des Tagesspiegels. Dazu gehöre auch eine professionelle Betreuung in den zuständigen Behörden, etwa wenn es um Visumsangelegenheiten gehe.

Umbenennung in "Landesamt für Einwanderung"

Die Umbenennung der Ausländerbehörde in „Landesamt für Einwanderung“ mache indes deutlich, was der Anspruch sei. „Wenn konkrete Probleme an uns herangetragen werden, nehmen wir diese sehr ernst und gehen ihnen natürlich nach“, sagt Krach. Pauschale Vorwürfe der Abwehrhaltung seien aber ungerecht gegenüber den vielen engagierten Mitarbeitern.

Dass das Landesamt für Einwanderung internationalen Studierenden zuweilen wie eine „Abwehrbehörde“ erscheint, erzählt Maimouna Outarra. Entsprechende Vorwürfe habe sie in ihrer mehrjährigen Tätigkeit als BAS-Sprecherin immer wieder gehört, sagt die von der Elfenbeinküste stammende Politikwissenschaftlerin und Philologin. Was ihr häufiger berichtet wird – und was sie auch selbst erfahren hat –, ist eine Unfähigkeit oder Unwilligkeit von Beamtinnen und Beamten, mit Studierenden Englisch zu sprechen.

Die Abläufe sind oft unverständlich

Eine Einschätzung, die auch die wissenschaftliche Koordinatorin des Berlin International College of Research and Graduate Training (BIRT), Isabel Winnwa, teilt. „Es gibt viele administrative Hürden, die den Studierenden ihren Aufenthalt in Berlin erschweren.“

Die Bürokratie werde oft sehr unverständlich präsentiert, auch fehle in den Behörden mitunter die Bereitschaft, Studierenden entgegenzukommen. „Es braucht nachvollziehbare Erklärungen, wie Prozesse funktionieren, sowie mehr Ressourcen, mehr Personal und schlankere Bürokratie“, sagt Winnwa.

Für Maimouna Outarra gleicht der Umgang mit den Behörden oft einem kafkaesken Erlebnis. Sie wünsche sich mehr Sensibilität und interkulturelle Kompetenz. Außerdem sollten Mehrsprachigkeit und ein grundsätzliches Verständnis für die Lebenswelt der Studierenden perspektivisch zur Regel werden. Anders als die Ausländerbehörde hätten die Universitäten ihr Angebot zur Beratung und Betreuung von Studierenden aber kontinuierlich verbessert.

Die Innenbehörde widerspricht

Ein Sprecher der Senatsverwaltung für Inneres erklärt auf Anfrage des Tagesspiegels, dass die Berliner Ausländerbehörde seit mehreren Jahren an ihrer Zweisprachigkeit arbeite. Wesentliche Informationen würden auf Englisch angeboten. Es gebe regelmäßig Schulungen und einen „mindestens einmal im Jahr stattfindenden halbtägigen Erfahrungsaustausch mit allen öffentlichen Universitäten und Fachhochschulen“.

Davon, dass das Landesamt für Einwanderung eine „Abwehrbehörde“ sei, könne schlicht keine Rede sein: „Die Quote der Versagungen liegt pro Jahr bei ca. 1,6 Prozent. Im Jahr 2019 waren es 167 592 positive Entscheidungen zu 2754 Versagungen.“

Aber: Es gibt Luft nach oben

Sowohl die Senatsverwaltung für Inneres als auch der Staatssekretär für Wissenschaft und Forschung geben aber zu, bei der Willkommenskultur gebe es Luft nach oben. „Wir sollten sprachliche und interkulturelle Kompetenz weiter stärken. Auch eine durchgehend englischsprachige Website des Landesamtes wäre hilfreich“, sagt Krach.

Ricardo Cabalero jedenfalls fühlte sich im Angesicht der bürokratischen Maschine vorübergehend völlig verloren und in der Stadt, die sein Zuhause ist, unwillkommen. „Ohne meinen Anwalt, meine Professorin und meine vielen deutschen Freunde wäre ich an Deutschland verzweifelt.“ Sollte er als Nachfahre von sephardischen Juden in Spanien eingebürgert werden, wird er in Berlin als EU-Bürger leben.

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