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Eine Genforscherin arbeitet mit Schutzkleidung in ihrem Labor.

© imago/Westend61

Wiarda will's wissen: Klasse statt Masse bei Publikationen

Bringt Europa auf den Weg, was die Scientific Community seit langem umtreibt: den Publikationsdruck durch neue Qualitätsmaßstäbe für Forschung zu lösen?

Eines der gängigsten Vorurteile gegenüber der EU lautet, dass in Brüssel ein Haufen Technokraten viel Papier und immer neue Regeln produziert, die das Leben selten besser, aber stets komplizierter machen.

Die Wahrheit ist: Das mit dem Papier und der Komplexität mag stimmen, aber als Ergebnis entstehen, auch bezogen auf Bildung und Wissenschaft, manchmal echte Revolutionen. Erasmus zum Beispiel als weltweit bekanntestes Austauschprogramm mit Legendenstatus. Oder der European Research Council, der innerhalb weniger Jahre zu einem weltweit begehrten Flaggschiff internationaler Exzellenz-Förderung geworden ist.

Was derzeit von EU-Kommission, französischer EU-Präsidentschaft und führenden Forschungseinrichtungen vorangetrieben und von weiteren 200 unterstützt wird, passt da gut in dieses Schema. Ein Prozess, den man in der Verschachtelung seiner Beteiligungsformate und Stufen kaum in wenigen Sätzen erklären kann.

Aber die Ambitionen dahinter sind gewaltig. Am Ende könnte tatsächlich eine Reform wissenschaftlicher Leistungsbewertung stehen, die viele seit Jahren für überfällig halten, die es aber dennoch nie über den Stand wohlklingender Sympathiebekundungen hinaus geschafft hat. 

Viel zitiert und publiziert, mehr Drittmittel, mehr Stoff zum Publizieren

Wissenschaftlerkarrieren werden immer noch zu einem großen Teil über die Höhe der eingeworbenen Forschungsfördergelder (Drittmittel) und die Zahl der Publikationen und Zitationen in möglichst hoch gerankten wissenschaftlichen Journals gemacht. Wobei beides eng miteinander verknüpft ist: Wer viel zitiert wird und viel publiziert, hat bessere Chancen, dass seine Drittmittel-Anträge bewilligt werden. Womit er oder sie wieder mehr Stoff zum Publizieren hat.

Ein Porträtbild von Jan-Martin Wiarda.
Unser Kolumnist Jan-Martin Wiarda. Auf seinem Blog www.jmwiarda.de kommentiert er aktuelle Ereignisse in Schulen und Hochschulen.

© Privat

In solch ein System hinein kommt nur, wer sich von morgens bis abends und, wann immer nötig, nachts auf seinen Job konzentrieren kann und nebenher möglichst keine Kinder oder Angehörige versorgen muss. Und wer noch dazu möglichst wenig Zeit auf Hochschullehre, Wissenschaftskommunikation oder andere Formen des Engagements an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft verwendet.

Dass das zu einer demografischen wie auch inhaltlichen Verengung führt, liegt auf der Hand. Nur hat das lange in der Wissenschaft kaum jemand gestört, weil es ja dem verengten Blickwinkel derjenigen entsprach, die es auf diese Weise in Führungspositionen geschafft haben.

In den vergangenen Jahren gab es immerhin einen rhetorischen Umschwung, Tenor: Wir brauchen mehr Diversität in der Wissenschaft, denn nur dann ist sie in der Lage, kreative Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit zu finden. Deshalb müssen wir die Leistungsbewertung ändern.

Passiert ist aber wenig. Weil das Nutzen von Metriken so schön einfach ist. Und weil keiner die Initiative zum Verändern übernahm. Bis jetzt.

Zwei junge Wissenschaftler arbeiten in einer wissenschaftlichen Bibliothek an ihren Laptops.
Auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften sind möglichst lange Publikationslisten obligatorisch.

© Mike Wolff

Erstmals im März 2021 haben Wissenschaftler und Wissenschaftsorganisationen, organisiert von der EU-Kommission, darüber beraten, wie sich die angestrebte Reform so bewerkstelligen lässt, dass sie am Ende nicht nur auf dem Papier steht. Auf der Grundlage des dabei entstandenen Reports geht es jetzt weiter. Schritt 1: Alle Forschungs- und Fördereinrichtungen, die mitmachen wollen bei der Reform, wurden aufgefordert, sich zu melden. Über 200 sind dem Aufruf bereits gefolgt.

DFG und Helmholtz: "wesentliche Fragen unklar"

Schritt 2: Um den öffentlichen Erwartungsdruck zu erhöhen, veröffentlichte die „Paris Open Science Conference", unterstützt von der französischen EU-Präsidentschaft, Anfang Februar den „Paris Call on Research Assessment“, Hauptforderung: Forschende nicht mehr über die Zahl ihrer vielzitierten Paper zu bewerten, sondern neue verbindliche qualitative Maßstäbe zu finden, die auf den tatsächlichen Impact der Forschungsergebnisse schauen und auf die Art und Weise, wie sie zustande gekommen sind.

Ein Team aus EU-Kommission, European University Association und Science Europe geht jetzt an die Arbeit und formuliert die konkreten künftigen Kriterien und Grundsätze, eng begleitet von einer Kerngruppe europäischer Wissenschaftsorganisationen, zu denen für Deutschland die DFG und Helmholtz gehören. Ob DFG und Helmholtz in der Kerngruppe nur mitmachten, um die Sache auszubremsen, ist in Medien spekuliert worden, weil sie nicht gleichzeitig auf der Liste der Unterstützer stehen. Die DFG erklärt auf Anfrage, man habe sich bisher nicht bei den Unterzeichnern des Aufrufs eingereiht, da „wesentliche Fragen unklar“ seien, vor allem die Unabhängigkeit der Wissenschaft von der Politik und Konsequenzen einer Mitgliedschaft „hinsichtlich Reporting und Selbstverpflichtung“.

Auch das zeigt, wie komplex der Prozess tatsächlich ist. Da muss die EU sich wohl treu bleiben. Vielleicht braucht es am Ende aber gerade die Brüsseler Methode, damit aus all den schönen Reden endlich eine Revolution werden kann.

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