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© imago/Westend61

Wenn immer Pfingsten wäre: Gestik - der Traum von der universellen Verständigung

Die Gestik ist eine universelle Sprache. Und in ihr steckt auch die Idee von der Gleichheit der Menschen. Aber sind Gesten wirklich so universell? Ein Essay.

Im Frühling 1528 erreichte der spanische Entdecker Álvar Núnez Cabeza de Vaca die Küste des heutigen Florida. Während der nächsten acht Jahre durchquerten er und seine kleine Gefolgschaft über tausende Kilometer das Land und fanden sich in einem neuen Babel wieder. Sie reisten von „einer fremden Sprache zur nächsten“. Bei den vielen Begegnungen mit Einheimischen konnten sie mit ihrer eigenen Sprache, dem Spanischen, wenig anfangen. Aber ihre Hände konnten sie sehr wohl gebrauchen. „Anhand ihrer Fragen und Antworten mithilfe von Zeichen hätte man denken können, dass sie unsere Sprache sprechen und wir ihre“, erinnerte sich de Vaca später.

Die Entdecker konnten es nicht ahnen, aber sie befolgten die Empfehlungen von Joseph Marie Degérando, einem französischen Philosophen mit Interesse für Anthropologie. Degérando schrieb 1800 eine Abhandlung, die praktische Hinweise für zukünftige Entdecker und „philosophische Reisende“ enthielt. Um mit der indigenen Bevölkerung zu kommunizieren, empfahl er den Rückgriff auf „Zeichen, die am nächsten an der Natur sind“. In anderen Worten: zurück zu den Gesten – der „Sprache des Handelns“.

Degérandos Vorschläge passten zum Zeitgeist westlichen Denkens. Die Vorstellung, dass Gesten eine natürliche Ausdrucksweise sind – eine, die alle kulturelle Barrieren überwindet – ist sehr alt. Im Jahr 95 schrieb der römische Rhetoriker Quintilian, dass „die Menschen und Völker dieser Erde, obwohl sie eine Vielzahl von Sprachen sprechen, die universelle Sprache der Hände gemeinsam haben“. Auch in den Jahrzehnten nach Quintilian verlor die Vorstellung von der Geste als universelle Sprache nicht an Glanz. Manche beriefen sich auf diese Idee, wenn sie über die evolutionären Ursprünge der Sprache nachdachten, andere bedienten sich ihrer für den Entwurf einer auf Gesten basierenden lingua franca. Diese Vorstellung fand ihren eloquentesten – oder zumindest enthusiastischsten – Verfechter wahrscheinlich in dem englischen Mediziner John Bulwer. In einer 1644 verfassten Abhandlung beschrieb Bulwer die Gesten der Hände als „die einzige Sprache, die den Menschen natürlich ist“, eine, die „alle Menschen jeglicher Gegenden der bewohnbaren Welt auf den ersten Blick und auf einfachste Weise verstehen“. Gesten, so schrieb er weiter, seien „glücklicherweise der Verwirrung in Babel entkommen“.

Wir sind in der Lage, die Universalität von Gesten zu prüfen

Inmitten all dieser aufgeblasenen Rhetorik blieben Belege für die These einer Universalität der Gesten auffällig abwesend: Niemand untersuchte tatsächlich, wie Menschen rund um den Globus ihre Hände und Körper zur Verständigung einsetzen. Was Quintilian, Bulwer, Degérando und andere Europäer an der Universalität der Gesten beeindruckte, war vor allem die Macht ihrer eigenen Intuition.

Erst Mitte des 19. Jahrhunderts begann man ernsthaft, systematisch Daten zu körperlicher Kommunikation zu erheben. In den vergangenen 50 Jahren hat sich dabei viel getan. Technische Einschränkungen sind überwunden. Videoaufnahmen sind günstig, die Kameras transportabel und einfach zu bedienen; Bilddateien können in riesigen Datenbanken gespeichert, getauscht und online veröffentlicht werden. Anthropologen, Linguisten und andere Wissenschaftler sind in alle Winkel der Welt ausgeschwärmt, um die Kommunikation hunderter Kulturen zu dokumentieren. Vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte sind wir heute in der Lage zu überprüfen, was an der uralten Idee der universellen Gesten-Sprache tatsächlich dran ist. Hält sie der Prüfung stand?

Nicht alle Gesten bedeuten überall das Gleiche

Bevor diese Frage beantwortet wird, ein paar Anmerkungen vorweg. Soweit wir wissen, sind Gesten an sich tatsächlich universell. In jeder Gruppe, die bisher untersucht wurde, benutzen Menschen zumindest gelegentlich ihre Hände zur Unterstützung gesprochener Worte. Allerdings haben offensichtlich nicht alle Gesten überall die gleiche Bedeutung. Die meisten menschlichen Gemeinschaften greifen auf einen bestimmten Fundus von Handzeichen mit bestimmten Bedeutungen zurück. Sie werden oft „Embleme“ genannt. In vielen Teilen Europas sind das etwa die „Schsch-Geste“ (der Zeigefinger wird dabei vertikal über den Mund gehalten) und die Geste „Daumen hoch“. Anderswo können solche Gesten zu Verwirrung oder gar Schlimmerem führen. Die Okay-Geste – Daumen und Zeigefinger werden dabei zu einem Ring geformt – ist in den USA vollkommen harmlos, an anderen Orten eine Provokation.

Embleme mögen einem zwar als Erstes in den Sinn kommen, wenn man an Gesten denkt, aber in den Vereinigten Staaten und an den meisten anderen Orten werden sie eher spärlich gebraucht. (Versuchen Sie sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal „Schsch“ gemacht haben). Was Menschen deutlich häufiger benutzen sind bestimmte Gesten für „Ja“ oder „Nein“; außerdem zeigen Menschen auf Orte oder Dinge. Dies sind Gesten, die Objekte oder Handlungen andeuten und abstrakte Ideen durch optische Metaphern darstellen. Sie sind die eigentlichen Motoren des gestischen Ausdrucks. Und sie ähneln sich auf der gesamten Welt.

Kopfschütteln als "Ja" und "Nein"

Soweit wir wissen, haben alle menschlichen Gemeinschaften bestimmte Gesten um „Ja“ oder „Nein“ auszudrücken. In den meisten Teilen Europas schüttelt man für ein „Nein“ den Kopf, für ein „Ja“ nickt man. Diese Muster sind auch über die Grenzen Europas hinaus weit verbreitet. Schon Darwins Berichterstatter beobachteten sie in Sri Lanka, Guinea und China. Seitdem haben viele weitere Forscher das bestätigt. Eine solch weite Verbreitung lässt vermuten, dass diese Muster unabhängig voneinander in unterschiedlichen Gemeinschaften entstanden sind.

Biologisch determiniert sind diese Gesten allerdings nicht. In Griechenland, Teilen Italiens und anderen Gebieten im Mittelmeerraum symbolisiert eine nach hinten gerichtete kurze Kopfbewegung statt des Schüttelns ein „Nein“. In Bulgarien wird unser System in genau umgekehrter Weise verwendet: Kopfnicken bedeutet „Nein“, Kopfschütteln „Ja“.

Bemerkenswerte Ähnlichkeiten aber fallen auf, wenn man das große Ganze in den Blick nimmt: Nicht nur haben alle Kulturen bestimmte Gesten für „Ja“ und „Nein“. Alle Kulturen erzeugen die Ursprungsvarianten dieser Signale auch mit Bewegungen des Kopfes. Im Einzelnen aber finden sich kulturspezifische Gebärden.

Menschen zeigen - immer mit Händen und Fingern

Folgendes scheint ein wiederkehrendes Motiv verschiedener gestischer Phänomene zu sein: Alle Menschen zeigen mit ihren Fingern auf Dinge – sie nutzen ihren Körper, um die Aufmerksamkeit anderer auf etwas Bestimmtes zu lenken. Berichte von ersten Begegnungen zwischen fremden Kulturen sind voll von diesen Gesten des Zeigens. Man zeigt auf den Mund, wenn man Essen oder Trinken meint oder auf die Sonne, um die Uhrzeit anzugeben. Bei genauerem Hinsehen stellen wir aber fest, dass die Geste des Zeigens kein einheitliches Verhalten ist. An manchen Orten ist es ein Tabu, mit der linken Hand zu zeigen. Anderswo darf man nicht auf einen Regenbogen zeigen. Soweit bekannt, zeigen jedoch alle Menschen mit den Händen und Fingern, nirgendwo nehmen sie den Ellbogen oder den Zeh. Dennoch haben verschiedene Kulturen diesem grundlegenden kommunikativen Werkzeug einen eigenen bestimmten Charakter gegeben.

Eine weitere Klasse von Gesten ist neben dem Kopfschütteln, Nicken und Zeigen das Beschreiben, also wenn Menschen ihre Hände benutzen, um Handeln nachzuahmen (um Beispiel Ziehen oder Kneifen), um die Größe und Form eines Tieres, einer Pflanze oder von Objekten darzustellen oder um Bewegungen im Raum zu verdeutlichen. Wenn zum Beispiel die einheimischen Bewohner von New Britain, einer Insel vor der Küste von Neuguinea, vermitteln wollten, dass sie Schweine und Ziegen von verschiedener Größe besitzen, ahmten sie Tierlaute nach und zeigten mit ihren Händen verschiedene Höhen vom Boden aus.

Zeit kann links und rechts sein, oder oben und unten

Das Beschreiben mittels Gesten ist eine Technik, die überall verwendet wird. Aber erneut lassen sich bei genauerer Betrachtung eine Vielfalt von Techniken identifizieren. Nehmen wir die Gesten, die Größe anzeigen. An manchen Orten hängt die Art und Weise, wie man Größe beschreibt, davon ab, was man gerade beschreibt. In einigen Teilen Mittelamerikas zeigt die Handfläche nach oben, wenn die Größe eines Tieres angezeigt wird, aber nach unten, wenn die Größe eines Gegenstands beschrieben wird und wiederum nach oben, wenn es um die Höhe einer Maispflanze geht. Ein Außenstehender würde die Kernaussage der Geste verstehen, die Feinheiten aber würden ihm entgehen.

Die letzte Kategorie von Gesten ist die abstrakteste, nämlich die Metaphern, die Menschen mit ihren Händen darstellen. Das am besten untersuchte Beispiel für solche Metaphern sind Gesten, die die Zeit beschreiben. Überall auf der Welt denken Menschen Zeit als etwas, das konkrete Raumeigenschaften hat – und nutzen entsprechende Gesten, so als hätten Ereignisse zum Beispiel tatsächlich eine Länge. Menschen, die Englisch sprechen, stellen sich Zeit entweder als Linie quer zu ihrem Körper vor (die Vergangenheit liegt zur Linken, die Zukunft zur Rechten) oder als Weg, den sie entlanggehen (die Vergangenheit liegt dann hinter ihnen, die Zukunft vor ihnen). Diese Modelle sind jedoch nicht universell. Wenn zum Beispiel Menschen in Papua-Neuguinea, die Yupno sprechen, Zeit mittels Gesten darstellen, verorten sie die Vergangenheit abwärts und die Zukunft aufwärts, egal, ob sie selbst gerade abwärts- oder aufwärtsgehen.

Das Tauziehen romantischer Ideale

Dass das Muster begrenzter Vielfalt bei Gesten immer wieder auftritt, ist vielleicht zunächst nicht sonderlich überraschend. Schließlich verfügen Menschen überall auf der Welt über dasselbe körperliche Rüstzeug: Unsere Hände, Arme und Köpfe sind gleich und sie strecken, beugen und drehen sich in derselben Weise. Wir denken ähnlich, das heißt, wir tendieren dazu, auf die dieselben Dinge aufmerksam zu werden. Und wir haben alle dieselben Kommunikationsprobleme: Wir müssen Aufmerksamkeit erzeugen, Missverständnisse korrigieren und Fragen stellen. Aber wir sind auch kulturelle Wesen. Wir sind unermüdliche Erfinder und wir ahmen nach, was andere um uns herum tun. So entsteht und verbreitet sich Neues.

Streng genommen kann man also nicht sagen, das Gesten „in allen bewohnbaren Gegenden“ der Welt gleich sind – obwohl sie es viel stärker sind, als manche behauptet haben. Und genau genommen ist das ohnehin nur eine Vorstellung von der Geste als Universalsprache. Eine andere ist, dass Menschen, die nicht die gleiche Sprache sprechen, aber kommunizieren müssen, das besser können, wenn sie ihre Hände und nicht ihre Stimmen nutzen.

In einer Studie haben Wissenschaftler Menschen die Aufgabe gestellt, sich auf verschiedenen Wegen über bestimmte Themen zu verständigen, über Gefühle (zum Beispiel Hunger), über Handlungen (zum Beispiel Flucht) und über Dinge (zum Beispiel Obst) – und zwar ohne dabei eine herkömmliche Sprache zu verwenden. Die Teilnehmer wurden aufgefordert, entweder nur Gesten, nur Töne oder eine Kombination aus beidem zu verwenden. Die Ergebnisse waren eindeutig. Diejenigen, die das Spiel nur mit Gesten spielten, verständigten sich viel effektiver, als jene, die nur Töne verwendeten. Töne und Gesten zu kombinieren, half auch nicht wirklich weiter.

Visuelle Körpersprache verständlicher als Vokalkommunikation

Wie kann man diesen Vorteil der Geste erklären? Wenn Menschen etwas bezeichnen wollen, haben sie im Wesentlichen drei Möglichkeiten. Sie können direkt darauf zeigen. Sie können versuchen zu zeigen, wie es aussieht. Oder sie können einfach eine Konvention nutzen, eine Abmachung, die besagt: Wenn ich meine Hände so oder so forme oder diese oder jene Tonabfolge verwende, dann weißt du, was ich meine. Das kommt natürlich nicht infrage, wenn man ein Entdecker des 16. Jahrhunderts ist. Also muss man auf etwas zeigen oder etwas beschreiben. Visuelle Körpersprache ist direkter und verständlicher als Vokalkommunikation – oder kann es zumindest sein. Das heißt aber nicht, dass jede Kommunikation über dieses Medium auch vollkommen verständlich ist.

Gesten zeigen auch Kulturen als geheimnisvolle Inseln

Die Idee von der universellen Sprache der Gestik ist uralt, intuitiv und alles in allem nicht falsch. Richtig ist, dass viele Gesten kulturell geprägt sind. Gleichwohl ist richtig, dass viele Gesten überall auf der Welt ähnlich sind. Sie sind das Produkt von Menschen mit einem ähnlichen Verstand, mit ähnlichen Körpern und ähnlichen Kommunikationsproblemen. Was auch immer die Verdienste der Idee der universellen Sprache sind – diese Idee wird nicht verschwinden. Sie ist Teil eines endlosen Tauziehens romantischer Ideale: einerseits der Idee, dass alle Menschen überall gleich sind, andererseits der Vorstellung, dass jede Kultur eine geheimnisvolle Insel sei. Beide Ideen haben etwas für sich, aber keine ist völlig richtig.

Kensy Cooperrider ist Kognitionswissenschaftler. Er lehrt an der University of Chicago. Dieses Essay erschien zuerst in "Aeon", einem englischsprachigen Online-Magazin für Wissenschaft, Philosophie und Ideen. Aus dem Englischen übersetzt von Anna Sauerbrey und Anna Thewalt.

Kensy Cooperrider

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