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Der 3-jährige Moheburrahman aus Afghanistan bekommt die Polio-Schluckimpfung.

© WHO Afghanistan/Tuuli Hongisto

„Wenn Bomben explodieren, kann man nicht impfen“: Der Kampf gegen Kinderlähmung geht in die entscheidende Phase

Milliardenzusagen sollen helfen, Polio endlich auszurotten. Das Virus zirkuliert nur noch in zwei Ländern. Dort aber ist es besonders schwierig zu besiegen.

Es könnte der letzte wichtige Schritt sein, um Kinderlähmung von der Erde zu verbannen. Bei einer Konferenz in Abu Dhabi haben sich diese Woche Geberländer und private Spender bereit erklärt, 2,6 Milliarden Dollar (2,35 Mrd. Euro) zur Verfügung zu stellen, um einen weltweiten Plan zur Ausrottung von Polio bis 2023 zu finanzieren.

Mit 1,08 Milliarden Dollar kommt ein großer Teil von der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung. Deutschland hat 105 Millionen Dollar zugesagt. Mit dem Geld sollen jährlich 450 Millionen Kinder gegen das Virus geimpft werden.

Eigentlich wollte die Weltgesundheitsorganisation WHO Polio bereits 2016 auf die Liste der weltweit ausgerotteten Krankheiten setzen. Das ist aber gescheitert, denn Polio ist hartnäckig.

Der koordinierte Kampf gegen das Virus begann schon 1988, als die Globale Initiative zur Ausrottung von Polio (GPEI) ins Leben gerufen wurde. Damals lähmte das Virus in 125 Ländern jedes Jahr etwa 350.000 Menschen, vor allem Kinder.

Durch Impfprogramme ist die Zahl der Poiliofälle seitdem um mehr als 99 Prozent zurückgegangen. Europa ist seit 2002 frei von wild zirkulierenden Polioviren, 2014 gelang das auch in Indien, nächstes Jahr könnte Nigeria als letztes afrikanisches Land folgen.

"Es gab sehr viel Fortschritt, aber wir sind noch nicht am Ziel", sagte Jay Wenger dem Tagesspiegel. Der Mediziner und Epidemiologe leitet die Strategie zur Polio-Ausrottung bei der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung, die sich seit 2000 für den Kampf gegen Polio einsetzt.

Ein Mädchen wird an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan gegen Polio geimpft.
Ein Mädchen wird an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan gegen Polio geimpft.

© Unicef/Jim Huylebroek

Polio wird von drei verschiedenen Virustypen ausgelöst. Zuerst gelang es, Typ 2 auszurotten, im Oktober verkündete die WHO, dass dies auch mit Typ 3 gelungen sei. Jetzt konzentrieren sich alle Anstrengungen auf den verbliebenen Typ 1. Der sei am widerstandsfähigsten, sagt Wenger. "Wir haben ihn aus fast jedem Land der Erde vertrieben, aber in Afghanistan und Pakistan zirkuliert er noch."

"Wenn Bomben explodieren, kann man nicht impfen"

In Afghanistan sei die instabile Sicherheitslage das größte Problem. Normalerweise besuchten kleine Impfteams von zwei bis drei Leuten etwa 100 Häuser pro Tag, sagt Wenger. "Sie klopfen an die Türen und fragen, ob Kinder unter fünf Jahren im Haushalt leben. Dann geben sie ihnen zwei Tropfen Polio-Impfstoff in den Mund", so der Mediziner. "Aber das geht nicht, wenn draußen Bomben explodieren und die Teams nicht sicher sind."

Weltweit hat die WHO in Krisengebieten immer wieder versucht, sogenannte "Days of Tranquility" zu vereinbaren, also Tage an denen die Waffen ruhen, damit Impfteams ihre Arbeit machen können. Das könnte auch eine Strategie in Afghanistan sein, wo dieses Jahr bisher 21 Fälle gemeldet sind.

In Pakistan markiert eine Impferin den Finger eines Kindes mit einem Stift.
In Pakistan markiert eine Impferin den Finger eines Kindes mit einem Stift.

© WHO/Anam Khan

Auch in Pakistan haben die Helfer mit Problemen zu kämpfen. Immer wieder werden dort Impfkampagnen durch Impfgegner und Attacken auf Impfhelfer behindert. Dieses Jahr wurden bislang 86 Poliofälle gemeldet, mehr als siebenmal so viel wie noch 2018. Die lokalen Behörden führten im Sommer Notimpfkampagnen durch.

In Pakistan kann sich das Virus schnell vermehren, weil viele Menschen auf engem Raum leben, oftmals in sehr schlechten hygienischen Bedingungen. Das Poliovirus vermehrt sich im Magen-Darm-Trakt. Nachdem Menschen ihn mit dem Stuhl ausscheiden, kann der Erreger bis zu zwei Wochen im Abwasser überleben und weitere Menschen infizieren, die es mit Essen oder kontaminiertem Waser aufnehmen.

Zwar verlaufen die meisten Poliofälle ohne Symptome, aber bei einem von 200 Infizierten kommt es zu Lähmungen, meist in den Beinen. Fünf bis zehn Prozent der von einer Lähmung Betroffenen sterben, weil die Atemmuskulatur beteiligt ist.

"Es ist ein Problem, jedes Kind mit einem Impfstoff zu erreichen", sagt Wenger. Genau darin besteht die Herausforderung der "last mile", der Zielgeraden auf dem Weg zu einer poliofreien Welt. "Wenn wir es nicht überall ausrotten, kann das Virus sich auch in Gegenden verbreiten, wo es schon einmal ausgerottet war", so Wenger.

Das ist die große Gefahr: Solange irgendwo noch Viren frei zirkulieren, könnten sie etwa im Körper von Flugzeugpassagieren in andere Teile der Erde gelangen und dort innerhalb kürzester Zeit wieder Tausende Fälle verursachen. Die WHO geht von 200.000 neuen Fällen pro Jahr aus innerhalb von zehn Jahren aus – das wäre ein Supergau.

Der IS sieht Impfen als Intervention des Westens

Um Polio endgültig zu besiegen, braucht es viel Geld – der WHO zufolge etwa 3,3 Milliarden Dollar. Die ersten 2,6 Milliarden wurden jetzt bei der Konferenz in Abu Dhabi versprochen. Bei einer Telefonkonferenz zeigte sich Bill Gates gegenüber dem Tagesspiegel zufrieden, er ließ jedoch durchblicken, dass er sich erhofft hätte, dass beispielsweise die USA ihre Unterstützung über die gesamten fünf Jahre zugesichert hätten. "Wenn die Ausrottung einer Krankheit so nahe ist, kostet jeder einzelne Fall sehr viel", sagte Gates. "Aber wir müssen das Geld ausgeben, sonst geht die Fallzahl wieder hoch. Es geht also um viel."

Religiöse Oberhäupter in Pakistan werden zu den Vorzügen der Polioimpfung geschult.
Religiöse Oberhäupter in Pakistan werden zu den Vorzügen der Polioimpfung geschult.

© WHO Pakistan/Dawood Batozai

Auf die Frage, wie man die letzten Polio-Bastionen besiegen will, sagte Gates, riesige Herausforderungen habe es auch in Indien gegeben. Oder in Nigeria, wo die Ablehnung gegenüber der Impfung teils weit verbreitet gewesen sei. "Wir haben Kontakt mit den religiösen Oberhäuptern aufgenommen, und letztlich haben wir sie überzeugen können, dass man seine Kinder impfen lassen muss", so Gates. Ob das auch bei der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) funktioniert, die Teile von Afghanistan kontrolliert und Impfen als Intervention des Westens ansieht, ist allerding fraglich.

Neuer Impfstoff mit weniger Nebenwirklungen

Im Kampf gegen Polio setzt die WHO auf einen Schluckimpfstoff mit abgeschwächten, aber lebenden Erregern. "Die Kinder sollen möglichst drei Dosen in den ersten 14 Lebensmonaten bekommen", sagt Wenger. Die Schluckimpfung ist deutlich günstiger und auch etwas effektiver als die in Deutschland und den meisten anderen Industrienationen verwendete Impfung mit abgetöteten Viren.

Aber sie hat auch einen Nachteil: In seltenen Fällen können Kinder nach der Impfung Lähmungen bekommen, ähnlich der eigentlichen Krankheit. "Derzeit entwickeln wir einen neuen oralen Impfstoff, der diese Nebenwirkungen nicht hat", sagt Wenger. Feldversuche hätten bereits stattgefunden, gerade sei man in den finalen Tests. Mit etwas Glück könnte die Vakzine Ende 2020 zugelassen werden. Bill Gates zufolge habe die WHO schon ihre Bereitschaft für eine beschleunigte Zulassung signalisiert.

Ob es gelingt, die Kinderlähmung bis 2023 auszurotten, da wollen sich weder Wenger noch Gates festlegen. "Wir haben eine gute Chance, es bald zu schaffen, andererseits müssen wir zugeben, dass es schon länger dauert als erwartet", sagt Gates.

Aber wenn man die Welt poliofrei bekomme, dann sei das gleich auf mehrere Arten "magisch": Nicht nur, dass Kinder dann keine Lähmungen mehr von dem Virus davontrügen. "Wir können das Geld dann nutzen, um Krankheiten wie die Masern oder Malaria zu bekämpfen."

50.000 Kinder in Deutschland nicht vor Polio geschützt

In Deutschland wurde der letzte Polio-Fall durch ein wild zirkulierendes Virus 1990 registriert. Jedoch fallen hierzulande die Impfquoten gegen Kinderlähmung seit drei Jahren leicht ab. 2017 seien bei Schulstart nur noch 92,9 Prozent der Kinder gegen Polio geimpft gewesen, teilte das Robert Koch-Institut kürzlich mit. Damit seien fast 50.000 Kinder nicht mehr vor der Krankheit geschützt. Der Sprecher des Kinderhilfswerks Unicef, Rudi Tarneden, warnte vor einer "falschen Sicherheit", weil viele die dramatischen Auswirkungen der Kinderlähmung nicht mehr aus eigener Anschauung kennen würden.

Einen kompletten Schutz vor Kinderlähmung gibt es in Deutschland durch vier Impfdosen. Die Impfungen sollen der Ständigen Impfkommission am RKI (hier als PDF) zufolge innerhalb der ersten 14 Lebensmonate in Kombination mit anderen Schutzimpfungen erfolgen und im Alter von 9 bis 16 Jahren nochmals aufgefrischt werden.

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