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Wirksame Hilfe. In Kenia bekommen inzwischen zwei Drittel der HIV-Infizierten antiretrovirale Medikamente.

©  Simon Maina/AFP

Weltaidstag: „Wir können Aids das Rückgrat brechen“

Bis 2030 soll die Aids-Epidemie beendet werden. Im Interview erklärt Unaids-Chef Michel Sidibé, warum er dieses Ziel für realistisch hält.

Herr Sidibé, etwa 1,8 Millionen Menschen stecken sich jährlich neu mit HIV an, rund eine Million sterben an den Folgen der Immunschwächekrankheit. Bleibt die Welt ohne Aids ein Traum?

Nein, ich glaube fest daran, dass wir unser Ziel erreichen können. Man muss berücksichtigen, wo wir angefangen haben. Aids war eine verheerende Seuche, an der bis heute 35 Millionen Menschen gestorben sind. Es gab zunächst keine Behandlungsmöglichkeit. Als es dann die ersten Medikamente gab, konnte sich die kaum einer leisten. Wenn Sie dagegen schauen, wo wir heute stehen, haben wir unendlich viel erreicht.

Was ist für Sie der größte Fortschritt?

Noch nie hat es in der Geschichte der Menschheit eine so große, weltweite Solidarität gegeben wie im Kampf gegen Aids. Der Schulterschluss zwischen Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft hat nicht nur die Krankheit selbst in die Zange genommen, sondern noch etwas ganz anderes bewirkt: Alle Menschen haben ein Recht auf den Zugang zu Medikamenten. Heute können wir zum ersten Mal sagen, dass mehr HIV-Infizierte mit einer Therapie leben als ohne. Von den weltweit 36,7 Millionen Menschen, die mit HIV leben, haben heute 20,9 Millionen Zugang zur antiretroviralen Therapie. Im Jahr 2000 bekamen in Südafrika gerade mal 90 Menschen eine Therapie, heute sind es vier Millionen. Das zeigt: Wir können Aids das Rückgrat brechen.

Sind die inzwischen preiswerteren HIV-Therapien der Grund, warum heute weltweit 53 Prozent der Infizierten eine Behandlung erhalten?

Das ist nicht der einzige, aber ein entscheidender Grund. Die ersten antiretroviralen Therapien gegen HIV haben pro Jahr und pro Patient 15.000 US-Dollar gekostet. Bis zu 18 verschiedene Medikamente mussten die Betroffenen täglich nehmen. Heute reicht eine Pille am Tag und die Jahrestherapiekosten sind auf 80 Dollar gesunken. Doch noch wichtiger ist, dass die Menschen mit der Therapie gesund bleiben und eine normale Lebenserwartung haben. Außerdem schützt eine frühe Behandlung auch zu 96 Prozent vor einer HIV-Übertragung.

 Michel Sidibé (65) stammt aus Mali und ist seit 2009 geschäftsführender Direktor von Unaids und Vizegeneralsekretär der Vereinten Nationen. Zuvor war er 14 Jahre bei Unicef.
Michel Sidibé (65) stammt aus Mali und ist seit 2009 geschäftsführender Direktor von Unaids und Vizegeneralsekretär der Vereinten Nationen. Zuvor war er 14 Jahre bei Unicef.

© AFP

Bis zum Jahr 2020 wollen Sie erreichen, dass 90 Prozent ihren HIV-Status kennen, 90 Prozent Zugang zu Therapien haben und bei 90 Prozent die Viruslast nicht mehr nachweisbar ist. Das sind keine drei Jahre mehr.

Wenn wir in unseren Anstrengungen nicht nachlassen, können wir das 90-90-90-Ziel schaffen. Vorausgesetzt, es geht im gleichen Tempo so weiter.

70 Prozent der HIV-Infizierten kennen ihren HIV-Status. Aber das bedeutet auch, dass ein Drittel ahnungslos und damit potenziell eine Quelle für Ansteckung ist.

Unkenntnis ist in der Tat eine der größten Herausforderungen. Deshalb müssen wir die HIV-Testung revolutionieren. Wir müssen Tests in die Kommunen und zu den Familien bringen und sie als Teil anderer regulärer Untersuchungen anbieten. HIV-Tests müssen zu einer Selbstverständlichkeit werden. Leider ist es momentan noch so, dass wir viele nicht erreichen. Dass im Süden Afrikas 80 Prozent der neu infizierten Jugendlichen junge Mädchen sind, liegt daran, dass sich die Männer nicht testen lassen.

Dennoch halten Sie an 2020 fest?

Ein Beispiel: Swasiland war bis vor fünf Jahren das Land mit der höchsten Infektionsrate weltweit. Heute hat der afrikanische Staat das 90-90-90 Ziel erreicht. Das zeigt, was trotz einer schlechten Ausgangslage machbar ist. Deshalb mag ich langfristige Visionen. Ohne diese Ziele hätten wir die Aids-assoziierten Todesfälle seit 2005 nie halbieren oder die Neuinfektionsrate seit 2010 um 16 Prozent und bei Kindern um 47 Prozent senken können.

Wie zuversichtlich sind Sie, wenn Sie nach Osteuropa und Zentralasien schauen? Dort steigen die Infektionsraten entgegen dem weltweiten Trend.

Das ist leider richtig. Seit 2010 registrieren wir in dieser Region 60 Prozent mehr Neuinfektionen, davon entfallen allein 80 Prozent auf Russland. Die Aids-Sterblichkeit nimmt ebenfalls weiter zu.

Woran liegt das?

Das hat etwas mit Stigmatisierung und Diskriminierung zu tun. 40 Prozent der Infizierten sind Transgender, andere nehmen Drogen, arbeiten als Prostituierte oder sind homosexuell. Diese Menschen sind in Russland quasi entrechtet, sie werden kriminalisiert. Darum verstecken sich die meisten und nehmen keine Hilfe in Anspruch. Wenn es uns nicht gelingt, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, wird sich an der Situation wenig ändern.

Wie kann man die Situation in Russland ändern?

Ich glaube, dass Deutschland hierbei eine entscheidende Rolle spielen könnte. Zum einen aufgrund der engen bilateralen Beziehungen. Zum anderen ist Deutschland heute weltweit führend in globalen Gesundheitsfragen. Das sind gute Voraussetzungen, um Russland zu überzeugen, entschieden gegen die HIV-Epidemie vorzugehen. Russland hat alle Ressourcen, um Aids bis 2030 zu beenden, und könnte sogar zu einem weltweiten Vorbild werden.

Braucht das Land mehr Unterstützung als Afrika?

Afrika hat andere Probleme und braucht darum eine ganz andere Form von Hilfe: Partnerschaften, Wissenstransfer, ganzheitliche Ansätze. Wir wissen aus einem Projekt der Weltbank in Mali, dass sich 60 Prozent weniger Mädchen mit HIV infizieren, wenn sie die Schule zu Ende machen. Dafür reichen zehn Dollar im Monat pro Mädchen. Wir könnten noch viel mehr erreichen, wenn mehr in Bildung und Sexualerziehung investiert würde. Es geht dabei übrigens nicht allein um HIV, sondern auch um assoziierte Krankheiten wie Hepatitis C und Tuberkulose. Einen Wissenstransfer kann ich mir auch dahingehend vorstellen, dass man afrikanische Länder in die Lage versetzt, selbst ihre Medizin zu produzieren. Ein Beginn wären Medikamente, deren Patentschutz bereits abgelaufen ist. Solche Partnerschaften könnte Deutschland durchaus voranbringen.

In Deutschland infizieren sich im internationalen Vergleich nur wenige Menschen. Allerdings steigt Experten zufolge die Gleichgültigkeit gegenüber HIV.

Gleichgültigkeit ist das, was mich mit am meisten beunruhigt. Weltweit sind es die jungen Menschen zwischen 14 und 24, die sich nicht mehr schützen. Das ist weltweit ein großes Problem.

Gefährdet das die Erfolge?

Die Erfolge stünden auf der Kippe, wenn wir uns jetzt auf dem Erreichten ausruhen würden. Solange Aids noch nicht aus der Welt ist, müssen wir weiterkämpfen.

Kann nur eine Impfung Aids ausrotten?

Ich glaube an die Impfung, aber sie wird HIV nicht auslöschen. Eine Impfung wird niemals hundertprozentig schützen, auch wenn sie etliche Infektionen verhindern könnte. Aids lässt sich nur besiegen, wenn wir an ganz vielen Fronten kämpfen. Dazu gehört vor allem, die Diskriminierung bestimmter Gruppen zu beenden. Dazu gehören die Verbreitung von Bildung und Wissen und natürlich der Zugang zu Tests und Medikamenten, und zwar für alle, auch Arme, die Unterprivilegierten und Kinder. Ich träume zwar von einer Welt ohne Aids, wäre aber schon zufrieden, wenn wir die Krankheit so weit unter Kontrolle bekämen, dass wir sagen können: Aids war gestern. Ich glaube, davon sind wir gar nicht so weit entfernt. Und wenn es meiner Generation nicht gelingt, dann der nächsten.

Die Fragen stellte Beatrice Hamberger.

Beatrice Hamberger

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