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Blutbild. Der Fotograf Kilian Foerster hat menschliches Blut abgelichtet und dann Bild und Negativ nebeneinander präsentiert. In seiner Arbeit setzt er sich häufig mit der Stigmatisierung HIV-positiver Menschen auseinander.

© Kilian Foerster

Welt-Aids-Tag: Positiv und Negativ - die Angst vor HIV

Heute ist Welt-Aids-Tag. Aids, das war für unseren Autor immer die Krankheit der Anderen. Der Ärmeren, der Älteren. Dann reißt ein Kondom, und die Welt sieht anders aus. Ein Erfahrungsbericht.

Ich bin nicht HIV-positiv. Aber als ich angefangen habe, diesen Text zu schreiben, habe ich das noch nicht gewusst. Statt einer Recherche begann dieser Artikel mit einer aufregenden Begegnung in Berlin, mit Schmetterlingen im Bauch, einem Wiedersehen in Prag und schließlich einem romantischen Wochenende auf einer Insel in Brasilien, mit vielen schönen Dingen also, die in eine Katastrophe mündeten: Ein gerissenes Kondom und ein Geständnis des anderen, unter Tränen, dass er HIV-positiv ist.

Ich sitze auf der Kante des Hotelbetts und denke nur: „Scheiße. Das ist nicht gut.“ Als würde ich einen Zug wegfahren sehen, in dem ich eigentlich sitzen sollte. Im ersten Augenblick bin ich nur traurig, dass der Mann, in den ich verliebt bin, in seinem Blut und seinen Zellen dieses furchtbare Virus trägt. Dann der Gedanke: Wie konnte das ausgerechnet mir passieren, einem Wissenschaftsjournalisten, der so oft über HIV und Aids geschrieben hat? All die naiven Gedanken, die ich an jemand anders belächeln würde („Er ist jung, sympathisch, sportlich, er sieht halt, naja, gesund aus.“), habe ich auch gedacht.

Nur eines weiß ich sicher: Ich sollte jetzt sofort HIV-Medikamente nehmen. Wer sich mit einer HIV-verseuchten Nadel gestochen hat oder ungeschützten Geschlechtsverkehr mit einer HIV-positiven Person hatte, dem empfehlen Experten in der Regel, eine Kombination verschiedener HIV-Mittel zu nehmen, eine Postexpositionsprophylaxe, kurz: PEP. Die Medikamente sollen verhindern, dass das Virus sich im Körper festsetzt. Aber es ist spät am Abend und die letzte Fähre ist längst weg. Für eine lange, dunkle Nacht bin ich zum Nichtstun verdammt.

Am Tag darauf lehne ich an der Wand in einer öffentlichen Klinik in einem verschlafenen Küstenort und habe das Gefühl, ich bin in einem Kafka-Roman gefangen: ein langer dunkler Korridor, grüne Türen rechts und links, dutzende Menschen, die seit zwei Stunden auf den Arzt warten. Wir haben die erste Fähre zum Festland genommen, uns von Klinik zu Klinik telefoniert, bis wir schließlich im Büro von Julianna gelandet sind. Die junge Frau leitet ein kleines Aidsprogramm. Sie hört sich unsere Geschichte an, fährt uns zur richtigen Klinik, erklärt die Situation und lotst uns an die Spitze der Warteschlange.

Wir haben Glück gehabt. Aber ich lehne an der Wand, der Arzt ist nicht da, und meine Gedanken laufen Amok. Ich brauche den Arzt, damit ich ein Rezept bekomme. Ich brauche das Rezept, damit ich die Medikamente bekomme. Und ich brauche die Medikamente, damit ich nicht HIV bekomme. Aber der Arzt kommt nicht.

„Je später Sie mit der PEP beginnen, desto größer ist die Gefahr, dass Sie HIV-positiv werden“, heißt es auf der Website der amerikanischen Seuchenschutzbehörde CDC. Am besten, so habe ich es immer wieder gelesen, innerhalb von zwei Stunden. Aber inzwischen sind 24 Stunden vergangen. Und mit jeder Minute, die verstreicht, wird es unwahrscheinlicher, dass die Medikamente mir helfen. Ich stelle mir vor, wie die winzigen Viren sich an meine Immunzellen ranschmeißen, an ihnen kleben bleiben wie ein schmieriger Typ an der Bar und dann in sie eindringen.

Dann endlich: der Arzt, das Rezept, die Medikamente. Drei Pillen alle zwölf Stunden, vier Wochen lang. Zweimal Kaletra, ein Kombipräparat, in dem Lopinavir und Ritonavir enthalten sind. Große, kränklich gelbe Tabletten, die beim Runterschlucken quer im Hals liegen. Die Chemikalien darin hemmen die HIV-Protease, gewissermaßen die molekulare Schere des Virus. HIV ist ein Wunderwerk der Ökonomie, der Erbgutfaden enthält nur das absolut Notwendigste. Sollte der Erreger in meine Zellen eindringen, kapert er ihre Schaltzentrale, den Zellkern, und beginnt, einen langen Eiweißfaden herzustellen. Die Protease zerschneidet den Faden an den richtigen Stellen und setzt so die Bausteine für neue Viren frei.

Im Kopf gehe ich Wahrscheinlichkeiten durch, wie ein Spielsüchtiger am Roulette-Tisch

Die andere Pille ist klein und rund und weiß. Sie enthält Farmivudin und Zidovudin, zwei Wirkstoffe, die das wichtigste Eiweiß des Virus, die Reverse Transkriptase, hemmen. HIV trägt sein winziges Erbgut als RNS, wenn das Virus sich in eine Zelle geschleust hat, übersetzt die Reverse Transkriptase es zunächst in DNS. In dieser Form liegt auch das menschliche Erbgut vor, so kann sich das Virus in mein Erbgut kopieren und für immer ein Teil von mir werden. Das ist HIV: ein schmaler Faden RNS. Ein paar Zeilen Code, die im Zellkern alles umprogrammieren und die Zellen, die mich beschützen sollen, in eine Fabrik verwandeln, die immer mehr von dieser Schadsoftware produziert.

In meinem Kopf gehe ich Wahrscheinlichkeiten durch, wie ein Spielsüchtiger am Roulettetisch. Ich weiß, dass HIV nicht so ansteckend ist, wie die meisten Menschen glauben. Meine Chancen stehen gut. Zwischen eins zu hundert und eins zu tausend liegt die Wahrscheinlichkeit, sich bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr mit einer infizierten Person anzustecken. Eine PEP sollte sie noch weiter senken, auch wenn ich die Medikamente spät bekommen habe. Aber Statistik ist eben Statistik, und ich bin ein Einzelfall – und da spielen zahlreiche Faktoren eine Rolle. Hat einer der Partner eine bakterielle Geschlechtskrankheit wie Gonorrhoe ist das Risiko einer Übertragung zwei bis fünf Mal höher. Das ist zum Glück nicht der Fall. Ist die Viruslast im Plasma des Partners sehr hoch (über 2500 Kopien pro Milliliter), ist das Risiko um das Zehn- bis Dreißigfache erhöht. Das ist bei mir leider der Fall. Trotzdem beruhigt mich die Zahl eins zu hundert zunächst irgendwie.

Erst Tage später, inzwischen bin ich allein und in Rio de Janeiro, kommt die Angst. Was, wenn ich eben Pech habe? Was heißt das für mein Leben? Was ändert sich? Der erste, absurde Gedanke: Ob meine Freunde, wenn sie demnächst ein Kind bekommen, vielleicht nicht wollen, dass ich mit dem Kind spiele („Wir haben ja keine Vorurteile. Aber das Kind... so ein Risiko eingehen... irgendwie unwohl... du verstehst das sicher...“)? Und wie sage ich das meinem Vater?

Ich kenne die Geschichten aus den 80er-Jahren. Ich habe in den Slums vor Kapstadt und in Kliniken in Tansania mit Betroffenen gesprochen. Aber Aids? Das war die Krankheit der Anderen. Der Älteren, der Ärmeren. Es ist absurd. Ich bin ein schwuler Mann in der HIV-Hauptstadt Deutschlands, und trotzdem hat Aids in meinem Privatleben nie eine Rolle gespielt. Keiner meiner Freunde ist HIV-positiv – oder ich weiß es nicht. Und dann stehe ich plötzlich da, gucke in den Spiegel und probiere den Satz „Ich bin HIV-positiv“ aus. Wie ein Kleidungsstück, das nicht richtig passen will, aber es jetzt eben muss. Mir wird das erste Mal wirklich klar, wie sich Stigma anfühlen könnte und dass es in beiden Köpfen entstehen kann, meinem und dem meines Gegenübers.

Inzwischen haben mich die Nebenwirkungen der Pillen voll erwischt. Ein paar Tage schlafe ich nur, verlasse mein Zimmer im Gästehaus kaum. Wenn ich Lebensmittel nur sehe, wird mir schlecht. Wenn ich sie rieche, möchte ich mich übergeben. Aber ich muss essen, wenigstens ein Stückchen Brot, bevor es schon wieder – viel zu früh – Zeit ist für die Pillen.

Die Pillen. Mit einem Mal sind sie das Kostbarste, das ich habe. Wenn mir mein Portemonnaie geklaut wird: Pech. Aber wenn mir die Medikamente geklaut werden oder ich sie verliere, dann habe ich ein Problem! Ich teile die Pillen auf, habe eine Hälfte immer bei mir, die andere Hälfte lasse ich im Zimmer. Ich stelle mir zwei Wecker, damit ich bloß nicht vergesse, sie rechtzeitig zu nehmen. Zugleich hasse ich die Medikamente. Wegen der Nebenwirkungen, wegen der Anstrengung, die es mich kostet, die großen gelben Kaletra-Pillen herunterzuwürgen, wegen der ständigen Erinnerung an das, was sein könnte.

Es ist die schwierigste Phase dieser sieben langen Wochen. Ich rufe einen Freund an, erzähle ihm alles. Natürlich hat er Mitleid, und natürlich ändert das nichts. Ich habe Angst.

Und mit der Angst kommt die Wut. Wie hat mir mein Freund das nicht sagen können?! Wie hat er mich diesem Risiko aussetzen können?! Andererseits, wann sagt man denn seinem Gegenüber, dass man HIV-positiv ist? Nach dem „Hallo“? Nach dem ersten Bier? Nach dem ersten Kuss? Plötzlich ist das keine theoretische Frage mehr. Gut möglich, dass ich bald eine Antwort darauf finden muss. Plötzlich fallen die Antworten nicht mehr so leicht.

Ich bin Schrödingers Katze

Und noch etwas wird mir klar: Zu Safe Sex gehören immer zwei, und ich habe ihn nie nach seinem HIV-Status gefragt. Ich habe die Möglichkeit überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Weil ich verletzlich war und ihm leichtfertig vertraut habe? Weil ich ein Vorurteil hatte, wie Menschen mit HIV sind oder aussehen, und er nicht in das Muster gepasst hat?

HIV-Medikamente haben die Welt verändert. Sie können die Krankheit Aids jahrzehntelang hinauszögern und reduzieren zugleich das Risiko infizierter Personen, andere anzustecken. Aber während das Leid der Betroffenen sinkt, steigen die Infektionszahlen in vielen europäischen Ländern. Es ist, als würden die Erfolge der Medizin aufgefressen von unserer Unfähigkeit, über diese Krankheit zu sprechen. Wie grenze ich eine Krankheit aus, aber nicht die kranken Menschen? Wie lehre ich Menschen, ein Virus zu fürchten, aber nicht die Menschen, die es in sich tragen?

Nach zwei Wochen fliege ich nach Hause. Ich begrabe mein Leben unter einem Berg von Arbeit. Schreibe, schlafe, schreibe, schlafe. Die Nebenwirkungen lassen nach, ich kann endlich aufhören, die Pillen zu nehmen.

Freunden, die fragen, wie ich mich fühle, sage ich: wie Schrödingers Katze. Das berühmte Gedankenexperiment stammt von Physiker Erwin Schrödinger: Eine lebende Katze wird mit einem instabilen Atomkern in eine Kiste geschlossen. Zerfällt der Atomkern, detektiert das ein Geigerzähler, und es wird Giftgas freigesetzt, das die Katze tötet. Aber ein Atomkern zerfällt nicht einfach, die Quantenphysik sagt, dass der Atomkern nach einer gewissen Zeit beides ist: zerfallen und noch nicht zerfallen. Physiker nennen diesen Zustand Überlagerung. Erst wenn jemand den Atomkern misst, „entscheidet“ sich das Universum gewissermaßen. Lächerlich, befand Schrödinger, denn dann müsste auch die Katze in einem überlagerten Zustand sein, müsste tot und lebendig zugleich sein, bis jemand die Kiste öffnet und nachschaut.

Aber genauso fühle ich mich in dieser Zeit. Ich bin Schrödingers Katze. Erst wenn ich die Medikamente zwei Wochen abgesetzt habe, liefert der HIV-Test ein zuverlässiges Ergebnis. Dann macht der Arzt die Kiste auf, und ich finde heraus, ob ich die ganze Zeit tot oder lebendig war.

Ich mag eigentlich keine Artikel, die mit „Ich“ anfangen. Die Aufgabe des Journalisten ist es, loszugehen und aufzuschreiben, was er sieht und hört und herausfindet. Für Menschen, die lieber von sich selbst erzählen, gibt es andere Berufe: D-Promi zum Beispiel. Oder Prediger.

Aber ich fühle mich auch verpflichtet. Ich habe mit genug Menschen auf der Welt gesprochen, die HIV-positiv sind. Ohne Erbarmen habe ich sie ausgefragt. Nach den eigenen Gefühlen und den Blicken der anderen. Ich habe in ihrer Seele gewühlt, weil ich wissen wollte, verstehen wollte. Ich habe sie für ihren Mut bewundert, für die Kraft, mit der sie sich gegen das Stigma stemmen, und ich habe getan, was Journalisten tun: Ich habe sie der Öffentlichkeit preisgegeben. Die Begründung war leicht: Gegen das Stigma hilft nur reden. So habe ich Menschen immer wieder ermutigt, mir Dinge zu erzählen, die doch im Grunde keinen etwas angehen. Was für ein Journalist wäre ich, wenn ich nun nicht auch meine eigene, viel weniger dramatische Geschichte erzählen würde?

Ich spreche mit Freunden und stelle plötzlich fest, es gibt einige, die dasselbe Erlebnis hinter sich haben. Nur haben sie nie darüber gesprochen. Jetzt sagen sie mir, wie viel Angst sie hatten. Und auf der anderen Seite immer wieder dieser Satz, für den Fall, dass es nicht gut ausgeht: „HIV ist heute auch nur noch eine chronische Krankheit.“ Vielleicht ist es das, was mir klar geworden ist: Wenn es um HIV geht, dann sind wir alle in einem überlagerten Zustand. Wir fürchten die Krankheit und reden uns zugleich ein, dass sie nicht so schlimm ist. Wir sind alle Schrödingers Katzen. Deshalb braucht die Diskussion um HIV und Aids das „ich“. Nur wer „ich“ sagt, kann andere zwingen, diesen Widerspruch auszuhalten.

Noch zwei Wochen warten, dann ist Montagmorgen und ich gehe zum Arzt und lasse mir Blut abnehmen. Schreiben, schlafen, schreiben, schlafen. Dann ist Freitag. Der Tag des Ergebnisses.

Am Morgen. Der Arzt, der schon, als er ins Wartezimmer kommt, sagt: „Jetzt können Sie aber gleich einen Champagner aufmachen.“ Die Katze lebt. Am Abend, Party. Bier und Beats, bis der Disconebel sich auch in meinem Kopf ausbreitet. Und schon am nächsten Morgen beim Aufwachen das Gefühl, dass alles nur ein schlechter Traum war. Und Kopfschmerzen.

Zwei Wochen ist das jetzt her. Und eine Frage bleibt, gerade heute am Welt-Aids-Tag: Was, wenn das Ergebnis anders gewesen wäre? Wenn ich HIV-positiv wäre? Hätte ich mich dann getraut, das hier zu schreiben? Ich fürchte, die Antwort lautet Nein – und wünsche mir eine Welt, in der ich ohne Angst Ja sagen könnte.

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