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Halt geben. Eine starke Bindung zu wichtigen Bezugspersonen wie den Eltern hilft Kindern, eine ausgeglichene Persönlichkeit zu entwickeln.

© iStock/Andrey Artykov

Was Kinder prägt: Wie entsteht Persönlichkeit?

Um das zu erklären, müssen Forscher ihre Grenzen überwinden. Es zeigt sich, dass Erbgut und Umwelt gleichermaßen wichtig sind – und manches Defizit ausgleichen können.

Die Eltern sind verzweifelt. Ihr Sohn oder ihre Tochter, um die 15 Jahre alt, lassen sich nichts mehr sagen, tun zu wenig für die Schule, nehmen Drogen, klauen, sprühen Graffiti oder mobben Mitschüler. „Wir haben uns solche Mühe gegeben, und nun das!“ In der Regel sollten Eltern nur versuchen, das „Schlimmste“ zu verhüten. Verzweifeln müssen sie aber nicht, denn meist geht mit dem Ende der Pubertät ein solches Verhalten von selbst zurück. Aus biologisch-psychologischer Sicht ist die Pubertät ein emotionales und kognitives Chaos, ausgelöst durch den Einfluss von Sexualhormonen und dem Drang nach Abnabelung und Selbstfindung. Doch all dies ist zeitlich begrenzt, am Grundgerüst der jeweiligen Persönlichkeit ändert sich wenig.

Lügen, Stehlen, Schikanieren

Sorgen müssen sich Eltern allerdings dann machen, wenn solche Verhaltensauffälligkeiten bereits im frühen Kindesalter auftreten. Wenn häufiges Lügen, Stehlen, Schikanieren von anderen, Rücksichtslosigkeit oder Tierquälerei hinzukommen und sich dieses Verhalten nach der Pubertät fortsetzt. Bei rund fünf Prozent der Jungen und ein bis zwei Prozent der Mädchen ist das der Fall. Das sind dann die „missratenen“ und „undankbaren“ Kinder, von denen die Weltliteratur voll ist – man denke nur an die Töchter von König Lear bei Shakespeare oder die von Vater Goriot bei Balzac. Die Eltern machen sich gegenseitig Schuldvorwürfe: „Woher hat er beziehungsweise sie das? Doch nicht von mir, das muss aus deiner Familie kommen!“

Besonders tragisch sind in diesem Zusammenhang Adoptionen russischer und rumänischer Waisenkinder nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Und zwar dann, wenn die Kinder körperlich und/oder psychisch misshandelt oder missbraucht worden waren und sie erst nach dem Ende des zweiten Lebensjahres zu ihren neuen Eltern kamen. Unter solchen Umständen entwickelten die Kinder trotz liebevollster Fürsorge schwere psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten. Manche Eltern versuchten sogar, die Kinder zurückzugeben. In vielen Fällen wussten sie nichts von der traurigen Vorgeschichte der Adoptivkinder oder dachten, man könne durch großen Betreuungseinsatz die Schädigungen ausgleichen. Es gibt aber auch genügend Gegenbeispiele, bei denen Kinder aus Herkunftsfamilien, die durch Elend, Gewalt und Drogenmissbrauch gekennzeichnet waren, doch zu „ganz ordentlichen Menschen“ wurden. Hatten sie genügend „gute Gene“ oder gab es rettende Personen oder Ereignisse?

Es ist zu kurz gegriffen, allein auf genetische Faktoren oder die Umwelt abzuheben

All das ließ in der Vergangenheit die Frage, warum Menschen zu dem werden, was sie später sind, rätselhaft erscheinen – sofern man nicht zum Pauschalisieren neigte. Biologisch-naturwissenschaftlich Denkende sahen die Antwort vornehmlich in „guten“ oder „schlechten“ Genen und der entsprechenden Hirnentwicklung. Für viele Psychologen und Sozialwissenschaftler waren es die positive oder negative Umwelt und für viele Geisteswissenschaftler und Juristen der Grad der selbst gesteuerten geistig-moralischen Entwicklung, welche die Persönlichkeit eines Menschen bestimmen.

Alle drei Konzepte haben nur eine sehr begrenzte Erklärungskraft. Das zeigen Untersuchungen der vergangenen Jahre von Neurobiologen, Psychologen und Psychiatern. Die starre Entgegensetzung zwischen vermeintlich rein genetisch-biologischen Faktoren und reinen Umweltfaktoren ist überholt, ebenso das klassisch-romantische Bild des „aus sich selbst entwickelnden“ Individuums.

Die neuere Sozialphilosophie, vertreten etwa durch Jürgen Habermas oder Niklas Luhmann (wenngleich mit unterschiedlichen Begründungen), und ihre vielen gegenwärtigen Anhänger verstehen den Menschen im Wesentlichen als sozial-kommunikatives Wesen, bei dem die biologisch-neurobiologische Ausstattung keinerlei spezifische Bedeutung hat. Für sie wäre es absurd, die Merkmale sozialen Verhaltens wie Kommunikation, Sinn für Gerechtigkeit, Kooperativität, Streben nach Erkenntnis, Moralität und Freiheit im Gehirn zu suchen. Man stellt naturwissenschaftliches Erklären gegen sozial- und geisteswissenschaftliches Verstehen, Verhalten gegen Handeln, Ursachen gegen Gründe und so weiter.

Schädigungen des Gehirns können zu Persönlichkeitsstörungen führen

Jedoch ist seit Langem bekannt, dass Fehlentwicklungen, Erkrankungen oder Verletzungen bestimmter Teile des Gehirns zu tiefgreifenden Persönlichkeitsstörungen führen, einschließlich schwerer Störungen des Sozialverhaltens wie Gewalttätigkeit und Psychopathie. Spektakulär sind die Folgen einer akuten Verletzung des unteren und inneren Stirnhirns durch mechanische Schädigung oder einen Schlaganfall. Sie können aus einem friedfertigen und planvoll vorgehenden Menschen eine hochimpulsive und rücksichtslose Person machen.

Warum es zu diesen Persönlichkeitsveränderungen kommt, wurde mittlerweile aufgeklärt: In diesen Teilen des Stirnhirns befinden sich Gebiete, die im Laufe der ersten 20 Lebensjahre unter dem Einfluss von Erziehung und Sozialisation in spezifischer Weise „verdrahtet“ werden und entsprechend unser soziales Verhalten lenken. Dabei spielen Impulshemmung und das Erkennen und Berücksichtigen sozialer Risiken eine besondere Rolle. Andere Hirnbereiche haben mit Empathie und der Fähigkeit zu tun, das Denken und Fühlen der Mitmenschen nachvollziehen zu können. Für nahezu alle Aspekte sozial-kommunikativen Handelns wie gegenseitiges Verstehen, Liebe, Religiosität, aber auch Scham, Reue und mildtätiges Tun (um nur wenige zu nennen) haben Forscher Regionen gefunden, die zusammengenommen ein großes Netzwerk des „sozialen Gehirns“ bilden.

Die Fürsorge der Bezugsperson erzeugt Urvertrauen

Bereits in den 1940er Jahren erhärtete sich im Rahmen der von John Bowlby und Mary Ainsworth etablierten Bindungsforschung die Erkenntnis, dass die ersten Lebensjahre bei der Ausreifung dieses „sozialen Gehirns“ entscheidend sind. Und zwar im Rahmen der frühkindlichen Bindungserfahrung mit der primären Bezugsperson, also in der Regel – aber keineswegs notwendigerweise – mit der Mutter. Zum einen erfahren Säugling und Kleinkind die Wohltaten der Fürsorge durch die Bezugsperson, und dies erzeugt ein Urvertrauen. Gleichzeitig differenziert sich durch die emotional-kommunikative Interaktion die anfangs noch diffuse Gefühlswelt des Kindes langsam aus. Durch die Art, wie die Bezugsperson mit ihm umgeht, prägt sich deren Gefühlswelt dem Kind zumindest teilweise auf. Das betrifft besonders den Umgang mit Stress und Belastungen, etwa der vorübergehenden Trennung von der Mutter, die Fähigkeit, auf Belohnungen zu warten, spontane Impulse zu zügeln, Konflikte gewaltlos zu lösen oder eine Vorstellung vom Fühlen und Denken der Anderen zu entwickeln – also alles, was zu den grundlegenden sozialen Kompetenzen gehört.

Eine depressive Mutter kann die Erkrankung über ihr Verhalten an die Kinder weitergeben

Das setzt allerdings voraus, dass die betreuende Person, also meist die Mutter, selbst über entsprechende Kompetenzen verfügt. Sind diese nicht oder nicht ausreichend vorhanden, zum Beispiel aufgrund eigener mangelnder Bindungserfahrungen, Traumatisierung durch Misshandlung, Missbrauch oder schwere Schicksalsschläge, dann prägen sich diese Defizite in verhängnisvoller Weise in die Psyche und Persönlichkeit des Kleinkindes ein. Sie bilden zudem die Grundlage späterer psychischer Störungen einschließlich mangelhafter Bindungskompetenzen im Jugend- und Erwachsenenalter. Es entsteht dann ein stark erhöhtes Risiko, dass eine depressive Mutter ihre Erkrankung über ihr Verhalten an ihre Kinder weitergibt.

Frühkindliche Einflüsse hinterlassen Spuren im Gehirn

Die Folgen solcher frühkindlicher negativer Einflüsse sind inzwischen im Gehirn von Jugendlichen und Erwachsenen durch verschiedene neurobiologische Verfahren nachweisbar. Das geschieht meist, indem man die Menge bestimmter für die Psyche relevanter Substanzen (Neurotransmitter, Neuropeptide, Neurohormone) misst und mit Ergebnissen der funktionellen Kernspintomografie kombiniert. Dabei zeigt sich, dass aufgrund frühkindlicher Schädigungen insbesondere diejenigen Gehirnteile betroffen sind, die mit dem Umgang mit Stress zu tun haben, mit Selbstberuhigung, Impulshemmung, Bindung und Empathie. Allerdings ist auch festzustellen, dass derartige Defizite sowohl im Gehirn als auch im Verhalten meist verschwinden, wenn innerhalb von rund zwei Jahren gute alternative Bindungserfahrungen gemacht werden.

Dies war der Fall, wenn – wie erwähnt – schwer vernachlässigte oder missbrauchte Waisenkinder, etwa solche aus Rumänien oder der damaligen Sowjetunion, in einem solchen Zeitraum fürsorgliche Adoptiveltern fanden. Wurden sie erst später adoptiert, waren die Bemühungen teilweise vergebens. Allerdings können in minder schweren Fällen auch spätere positive Erfahrungen, etwa im Kindergarten oder in der Grundschule, gute Wirkung zeigen. Eigentlich ist es dafür nie zu spät, obgleich eine Verbesserung der Befindlichkeit immer schwerer zu erreichen ist, je älter der Mensch ist.

Der Anblick der Mutter genügt, schon werden "Bindungshormone" ausgeschüttet

Die zugrunde liegenden Mechanismen wurden in den vergangenen Jahren intensiv erforscht. Sowohl in der frühen als auch späteren Bindung ist bei den beteiligten Personen die Ausschüttung des „Bindungshormons“ Oxytocin erhöht – zuweilen genügt schon der Anblick der geliebten Person oder gar das Hören ihrer Stimme. Dies führt dazu, dass die Menge an Stresshormonen wie etwa Cortisol zurückgeht. Zugleich wird vermehrt das beruhigend wirkende Serotonin gebildet sowie hirneigenen Belohnungsstoffe, die endogenen Opioide.

All das beruhigt und besänftigt das Kleinkind ebenso wie den Erwachsenen. Mütterliche Fürsorge beziehungsweise deren Ausbleiben wirken auf diesem Wege auf die Ebene der Regulation der Gen-Aktivität, „epigenetische Ebene“ genannt. Unter bestimmten Bedingungen können dort sogar Veränderungen hervorgerufen werden, die vererbt werden. Allerdings werden dabei nicht die Gene selbst, sondern die regulatorischen Mechanismen an die nächste Generation weitergegeben. Beide sind in den Keimzellen vorhanden.

Die soziale Umwelt prägt sich dem Gehirn und der Psyche des Kleinkindes aber nicht nur innerhalb der ersten Lebensjahre über die primäre Bindungserfahrung ein, sondern bereits vor der Geburt. Dies geschieht vor allem über das Gehirn der Mutter, mit dem das Gehirn des ungeborenen Kindes über die Blutbahn verbunden ist. So können Stoffe wie das Stresshormon Cortisol, das im Gehirn der Mutter bei traumatischen Erlebnissen in Massen produziert wird, in das Gehirn des Ungeborenen gelangen. Dort kann das noch sehr unreife Stressverarbeitungssystem geschädigt werden oder es entstehen zumindest Vorbelastungen, die später zu einem erhöhten Risiko von Persönlichkeitsstörungen führen können. Dabei kann es zu einer viel größeren Stressempfindlichkeit etwa in Form von Angststörungen kommen oder im Gegenteil zu einer stark verminderten Stressempfindlichkeit, etwa in Form einer antisozialen Persönlichkeitsstörung, je nachdem wie stark die Einwirkung war und wie früh sie stattfand.

Frühe Bindungserfahrungen und Epigenetik formen die Persönlichkeit

Wir sehen also, dass das Gehirn des Menschen und damit seine Persönlichkeit auf mindestens drei Weisen von der engeren oder weiteren Umwelt gestaltet und geprägt werden. Die Gene im engeren Sinne spielen hierbei eine nur allgemeine Rolle: Sie legen fest, dass wir im biologischen Sinne Menschen sind und dass wir hinsichtlich unserer kognitiven, emotionalen und sozialen Merkmale von der Gesellschaft geprägt werden können. Wie sich im Einzelnen die Persönlichkeit entwickelt, hängt dann von den epigenetischen Vorgängen vor der Geburt, den frühen Bindungserfahrungen und den späteren sozialen Erfahrungen ab, wobei den ersteren beiden Einflussfaktoren eine besondere, wenngleich nicht unumstößliche Wirkung zukommt.

Diese Kenntnis lässt uns besser die eingangs geschilderten „Rätsel“ der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen verstehen. Denn die genannten Einflüsse können sich gegenseitig sowohl positiv wie negativ verstärken oder abschwächen. Vieles, was nach einer Herkunft aus einer „normalen“ Familie aussieht, kann psychische Traumatisierungen einschließen – von vorgeburtlichen negativen Einflüssen ganz abgesehen. Umgekehrt kann eine zeitlich begrenzte positive Bindungserfahrung mit Großeltern, Tanten und Betreuerinnen in der Krippe oder im Kindergarten negative Erfahrungen in der Herkunftsfamilie in minder schweren Fällen teilweise wettmachen.

Das Fazit lautet daher: Die Gene sind nicht das Schicksal, die Umwelt kann vieles, aber nicht alles wettmachen. Es ist das komplizierte Wechselspiel zwischen beiden, das während der Hirnentwicklung abläuft; es findet seinen Ausdruck in der individuellen und sozialen Persönlichkeitsentwicklung. Wir haben nicht zwei Naturen, eine (neuro-)biologische und eine soziale, sondern unsere soziale Natur erwächst aus der biologischen. Wir sind von Natur aus gesellschaftliche Wesen, und unser Gehirn spielt dabei die entscheidende Rolle.

Ein wichtiger Teil dieser Sozialisierung betrifft die Fähigkeit, unsere unmittelbaren Impulse zu zügeln, die möglichen Konsequenzen unseres Handeln zu überdenken und Alternativen abzuwägen. Dies verleiht uns Handlungsfreiheit. Frei ist nur der überlegte Wille, schreibt Jürgen Habermas. Und er hat damit recht. Allerdings erlangen wir eine solche Freiheit nicht durch einen Willensruck, sondern nur dann, wenn unser Gehirn in einer bestimmten positiven Weise von seiner jeweiligen Umwelt beeinflusst wird. Wir müssen also die Chance haben, uns zur Freiheit entwickeln zu können.

Der Autor hat zusammen mit seiner Mitarbeiterin an der Universität Bremen, Nicole Strüber, hierzu das Buch „Wie das Gehirn die Seele macht“ veröffentlicht (Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, 2014, 425 Seiten, 22,95 Euro).

Gerhard Roth

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