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Die Fähigkeit zu verstehen, was andere Menschen denken und fühlen, entwickelt sich vor allem in der Grundschulzeit, so die Studie.

© imago images / Westend61

Wann Kinder lernen, andere zu verstehen: Grundschulzeit von großer Bedeutung

Eine Querschnittstudie betont die Bedeutung des Einfühlungsvermögens. Versäumnisse durch Corona sollten Schule und Eltern ausgleichen.

Die Grundschulzeit ist elementar für die Entwicklung der Fähigkeit von Kindern, andere Menschen zu verstehen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie von Christopher Osterhaus (Universität Vechta) und Susanne Koerber (Pädagogische Hochschule Freiburg), die aktuell in der Fachzeitschrift „Child Development“ erschienen ist.

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In der Forschung war man bislang in erster Linie davon ausgegangen, dass Kinder vor allem im Vorschulalter lernen, andere zu verstehen. Die beiden Wissenschaftler:innen konnten nun aber zeigen, dass sich diese Entwicklung in der Grundschulzeit wesentlich fortsetzt. 

Wichtiger Schritt mit sieben Jahren

Dieser Prozess verlaufe nicht linear und nach dem Vorschulalter werde mit ungefähr sieben Jahren dann ein zweiter wichtiger „Meilenstein“ erreicht, schreiben die Forschenden. Dies sei der Zeitpunkt, in dem Kinder konzeptuelle Einsicht darüber erlangen, dass mentale Zustände rekursiv sein können, also dass sich beispielsweise Gedanken auf andere mentale Zustände beziehen können. Dieser Prozess entwickele sich demnach während der gesamten Grundschulzeit weiter, eine Schlussfolgerung, die für die Forschung neu ist.

Daraus leiten die Autor:innen besondere Anforderungen für Schulen und Eltern ab. So seien zu Beginn der Grundschulzeit zwar schon grundlegende Fähigkeiten dafür vorhanden, zu verstehen, wie andere Menschen denken, fühlen oder handeln. Lehrkräfte und Eltern sollten aber wissen, dass sich in den ersten Schuljahren dazu noch vieles entwickelt.

Einschnitte durch die Corona-Pandemie

„Einige Aspekte entwickeln sich aller Wahrscheinlichkeit nach ohne großes Zutun, allein durch Erfahrung“, erklärt Christopher Osterhaus. Entscheidend sei, dass Kinder diese Erfahrung machen können. Hier allerdings habe es durch Distanzunterricht in der Corona-Pandemie Einschnitte gegeben, entsprechende Erfahrungen wurden von den Schüler:innen im Lockdown oft nur begrenzt gemacht.

Daher empfehlen Koerber und Osterhaus, in der Grundschulzeit nun Trainingsprogramme zu implementieren. Darin sollten beispielsweise Situationen besprochen werden, in denen jemand etwas über die Gedanken eines anderen annimmt, diese Annahme aber falsch ist.

Lehrer:innen wie Eltern sollten den Kindern erklären, warum die Beteiligten Bestimmtes denken und es an die Erfahrungswelt der Kinder rückkoppeln. „Wir haben festgestellt, dass Kinder bis zum Ende der Grundschulzeit viel Potenzial haben zur Entwicklung von sozial-kognitiven Fähigkeiten“, so Osterhaus. Soziale Kognition sei wichtig in vielen Bereichen im Leben von Kindern – nicht nur für soziale Aspekte wie etwa das Schließen von Freundschaften, sondern auch für schulische Fähigkeiten, zum Beispiel die Lesekompetenz.

Mit dieser Fähigkeit fühlen sich Kinder seltener einsam

„Kinder, die sich gut in andere hineinversetzen können, scheinen sich so seltener einsam zu fühlen und sie verstehen Texte, die sie lesen, besser als Kinder mit weniger weit entwickelten sozialkognitiven Fähigkeiten“, sagte Osterhaus dem Tagesspiegel.

Die Persönlichkeitsentwicklung sei ein Lernziel von Schule. Gerade bei Konflikten sei es wichtig, dass Kinder über die nötigen Instrumente verfügen, um sich in andere hineinzuversetzen und Konflikte so effektiv zu lösen. Schließlich sei die Kompetenz, andere zu verstehen, eine der wichtigsten Fähigkeiten des Menschen. Inwieweit sich die empfohlenen Übungen auch positiv auf schulische Kompetenzen auswirken, soll weiter erforscht werden.

Für ihre Studie haben Koerber und Osterhaus eine umfassende fünfjährige Längsschnittuntersuchung vorgenommen, insgesamt wurden 161 Kindergarten- und Grundschulkinder interviewt und bis ans Ende ihrer Grundschulzeit begleitet. Die Entwicklung der Kompetenzen wurde jährlich ermittelt. Die Schüler:innen erhielten dazu Testaufgaben, wie etwa die Frage, ob das versehentliche Ausplaudern einer Überraschungsparty auf einer Absicht beruht.

Das dem nicht so ist, konnten demnach rund 90 Prozent der Neunjährigen erkennen. Hinter der Fähigkeit, dies zu erkennen, vermuten die Forschenden einen recht einfachen Prozess: Die Kinder würden wahrnehmen und bewerten, was in ihrem sozialen Umfeld passiert. „Je mehr Erfahrung sie hierin haben, desto besser scheint diese Bewertung zu funktionieren“, erklärt Osterhaus.

Kinder entwickeln eine intuitive Psychologie

Koerber und Osterhaus konnten nachweisen, dass Kinder auf diesem Wege eine intuitive Psychologie entwickeln. Dies ermögliche ihnen bereits um das erste Schuljahr herum, Missverständnisse zwischen Menschen zu erkennen. Diese Einsicht sei eine wesentliche Grundlage für die weitere Entwicklung, um andere Menschen verstehen zu können.

Im Verlauf der Grundschule würden sich dann weitere komplexe Fähigkeiten des Verstehens entwickeln, etwa Sarkasmus zu erkennen, Gefühle anderer von den Augen abzulesen, sich in die Gedankenwelt anderer hineinzuversetzen oder auch einen Fauxpas zu erkennen.

Nach Erkenntnis der Forschenden gibt es auch Fähigkeiten, die sich offenbar nicht allein durch das Sammeln von Erfahrung entwickeln. Sie vermuten, dass das Verständnis dafür, dass Informationen von Menschen unterschiedlich interpretiert werden können, sich nicht alleine durch Erfahrung entwickelt, sondern vor allem auch durch Intelligenz.

Komplexe Funktionsweise des Denkens verstehen

Die Kinder müssten sich offenbar explizit mit dieser Frage auseinandersetzen. „Sie müssen also lernen, die komplexe Funktionsweise unseres Denkens zu verstehen und zudem eine Theorie darüber entwickeln, nach welchen Mustern komplexe soziale Interaktionen ablaufen“, schreiben Koerber und Osterhaus.

Zum tieferen Verständnis der „intuitiven Psychologie“ laufen aktuell an der Universität Vechta Kooperations-Studien mit anderen Hochschulen. So werden zusammen mit der Brock University (Kanada) systematische Reviewstudien vorgenommen, um die komplexen Fahrigkeiten für das Verständnis andere optimal erfassen zu können.

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