zum Hauptinhalt
Bruch. Wenn ein Wald kein Urwald mehr ist, ist er bei Eingriffen auch nicht so anfällig für noch mehr Artenverlust. Wo Ökosysteme lange stabil waren, sind die Folgen dagegen massiv.

© Bernd Settnik / picture alliance / dpa

Wälder und Artenreichtum: Bitte nicht stören

"The first Cut is the deepest" sang Cat Stevens. Das gilt offenbar auch für Ökosysteme. Waren sie lange ungestört, wirken sich Eingriffe besonders stark aus.

Wälder mit einer ruhigen Vergangenheit ohne Brände, Vergletscherungen oder Tropenstürme verlieren besonders viele Arten, wenn Teile von ihnen gerodet werden. Zu diesem Schluss kommen Matthew Betts von der Oregon State University in Corvallis (Oregon, USA) und seine Kollegen in einer Studie, die kürzlich in der Zeitschrift Science erschienen ist. Sie analysierten Resultate von 73 Studien, in denen weltweit 4489 Tierarten untersucht wurden.

Vor allem in Tieflandregionen wie am Amazonas, in Zentralafrika und auf der Insel Borneo in Südostasien blieben solche Naturkatastrophen, die nicht den gesamten Wald, sondern nur einzelne Flächen darin zerstören, in den vergangenen zehntausend Jahren oft aus. Vor allem in diesen bisher nicht fragmentierten Wäldern sollten große zusammenhängende Flächen vor Äxten, Sägen und Brandrodungen bewahrt werden, fordern die Forscher.

Für viele Arten sind Lichtungen kein Lichtblick

„Auch wenn viele Wissenschaftler ein solches Ergebnis erwartet hatten, ist diese Arbeit doch sehr wichtig“, erklärt Tobias Kümmerle, der an der Berliner Humboldt-Universität über Naturschutz forscht. So vermuteten Wissenschaftler und Naturschützer schon lange, dass viele Tierarten bereits dann in Schwierigkeiten kommen, wenn in Wäldern nur einzelne Flächen gerodet werden, daneben die Natur aber vermeintlich unberührt bleibt. So entstehende Lichtungen und Schneisen stellen etwa Waldspezialisten oft vor Probleme. Aber auch die angrenzende Natur, in der gar keine Bäume gefallen sind, spürt die Auswirkungen: „Arten wie der Schwarzstorch in Mitteleuropa leben zurückgezogen und im Inneren von naturnahen Wäldern. Entstehen dort neue Lichtungen und nimmt der menschliche Einfluss zu, kommen diese Arten damit oft nicht gut klar“, sagt Kümmerle.

Bisher fehlte eine solide wissenschaftliche Grundlage. Denn obwohl sich das Verschwinden von Arten aus gerodeten Flächen in der Natur durchaus beobachten lässt, ist ein naturwissenschaftlicher Nachweis der Folgen für die von einer solchen Fragmentierung nicht unmittelbar betroffenen Flächen schon erheblich schwieriger. Seit Jahrzehnten diskutieren daher viele Forscher, welchen Einfluss die Fragmentierung von Lebensräumen tatsächlich bei der Dezimierung der Artenvielfalt hat. Betts und seine Kollegen liefern dazu mit einem Blick in die Vergangenheit einen wichtigen Hinweis: Die Forscher durchsuchten dafür einen großen Datensatz über Rodungen auf Zusammenhänge mit früheren Störungen, die eine Waldfläche in den vergangenen zehntausend Jahren fragmentiert hatten. Dazu gehören Waldbrände und tropische Stürme, die eine Schneise der Verwüstung in Wälder schlagen können, während unmittelbar daneben die Natur intakt bleibt. Auch die Gletscher der Eiszeit zermalmten zwar vielerorts Wälder, ließen aber oft die Bäume auf Höhenrücken gleich neben dem Eis stehen. Kamen Arten in diesen übrig gebliebenen Waldfragmenten mit den neuen Verhältnissen nicht zurecht, starben sie dort aus. Andere Arten passten sich dagegen an die neue Umgebung an und überlebten.

Bestimmte Tiergruppen sind besonders anfällig

„Aussterbe-Filter“ nennen Evolutionsbiologen diesen Vorgang, bei dem nur die Arten überleben, die sich an die neuen Bedingungen gut anpassen können. Nach einem solchen Härtetest könnten diese Spezies auch bei neuen Störungen robuster reagieren und zum Beispiel Rodungen besser überstehen. Und genau das finden Matthew Betts und seine Kollegen bei ihrer Analyse früherer Studien: Auf den Flächen, auf denen in der Vergangenheit weder größere Brände noch tropische Stürme oder Gletscher die Wälder zerstückelten, war unter den dort lebenden Tieren die Zahl der Arten, die mit einer nun doch eintretenden Fragmentierung große Schwierigkeiten bekamen, fast dreimal höher. Besonders stark war dieser Effekt bei Vögeln und bestimmten Gruppen wirbelloser Tiere wie Insekten und Spinnen.

Anders sieht die Situation bei Wäldern aus, die von Menschen in den vergangenen Jahrhunderten oder vor wenigen Jahrtausenden schon einmal gerodet worden waren, um dort Felder anzulegen oder Vieh weiden zu lassen. Dort war die Anpassungsfähigkeit an neue Rodungen deutlich geringer als auf Flächen, die seit vielen Jahrtausenden von Feuern und Stürmen heimgesucht wurden. Vielleicht hatte der Aussterbe-Filter dort einfach noch nicht genug Zeit für seine volle Wirkung gehabt, überlegen die Forscher.

Schutz großer, ungestörter Flächen wichtig

Vor allem in den bis vor Kurzem offensichtlich von solchen Naturkatastrophen und der Hand des Menschen verschonten Regenwäldern in den tropischen Tiefländern am Amazonas, in Zentralafrika und auf Borneo wurden die Arten dagegen bisher selten mit Störungen konfrontiert. Sie reagieren daher besonders empfindlich auf die Fragmentierung der Wälder. „Dort sollten daher große, bisher noch nicht zerstückelte Flächen geschützt werden“, sagt Kümmerle. Damit sagt er genau das, was auch Ökologie-Forscher aus Oregon aus ihrer Studie schließen.

In Europa sind dagegen nahezu alle Urwälder längst gerodet und in Äcker, Weiden, Kulturwälder und Siedlungen samt Straßen und Wegen verwandelt. „Bei uns“, sagt Kümmerle, „spielen daher auch kleine Urwald-Reste und naturnahe Waldfragmente eine wichtige Rolle und sollten unbedingt geschützt werden.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false