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Grundschulkinder sitzen in einem Klassenraum.

© Patrick Pleul/picture alliance/dpa

Vor der neuen Iglu-Studie: Lesenkönnen – ein verweigertes Menschenrecht

Wie gut verstehen Kinder in Deutschland Texte? Die Ausgangslage ist eher mau. Ein Gastbeitrag.

Schwache Leistungen im Lesen beeinträchtigen das Lernen in der Schule und verringern die Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe, lebenslanges Lernen und persönliches Wachstum. Im Alltag kommt es zu Schwierigkeiten bei Vertragsabschlüssen, beim Ausfüllen von Formularen oder sogar beim Erwerb einer gültigen S-Bahn-Karte an den Automaten in Berlin.

Die EU-Kommission hat die Bedeutung der Lesekompetenz für den Wohlstand und die Wettbewerbsfähigkeit Europas erkannt und zeigt sich sehr beunruhigt über den Befund, dass sich die Anzahl der Kinder und Jugendlichen mit schwacher Lesekompetenz in den letzten 15 Jahren nicht verringert hat. Kürzlich hat die EU vier Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um ein europäisches Netzwerk von Organisationen zu gründen, die sich der Lese- und Schreibförderung widmen. In „Elinet“ arbeiteten rund 80 Partner aus 24 europäischen Ländern zusammen. Auf der Webseite (www. eli-net.eu) wird bereits eine beachtliche Sammlung guter Beispiele aus der Praxis vorgestellt.

Zum Lesen- und Schreibenlernen motivieren

Auch Deutschland ist dabei mit einer Reihe von Good-Practice-Programmen vertreten: Das Hamburger Fly-Projekt etwa wendet sich an Familien mit Migrationshintergrund und zielt – ähnlich wie das Berliner Projekt der Stadtteilmütter – auf die Unterstützung der Eltern bei der Lernentwicklung ihrer Kinder ab. Aus Wetzlar stammt das Programm „Vorlesen in der Familie“, aus Frankfurt ein Programm zur Förderung schriftsprachlicher Aktivitäten in der Kita, mit zahlreichen Anregungen, wie man Kinder im Vorschulalter durch eine schriftreiche Umgebung zum Lesen- und Schreibenlernen motivieren kann. Ebenfalls aus Frankfurt kommt das Projekt „Fußball trifft Kultur“, das Kindern aus bildungsbenachteiligten Familien einen besondern Zugang zum Lernen eröffnet.

Eine nachhaltige Förderung des Lesenkönnens muss grundsätzlich im Kleinkindalter beginnen – durch regelmäßiges Vorlesen, gemeinsames Betrachten von Bilderbüchern. Aber auch eine systematische Gesundheitsvorsorge kann ausschlaggebend für das Lesenlernen sein. Besonders beeindruckend ist hier Finnland mit dem umfassenden Gesundheitsprogramm „Neuvola“ (zu Deutsch Beratung), an dem so gut wie alle schwangeren Mütter und dann deren Kinder bis zum Schulbeginn teilnehmen.

Vorbild Finnland

Bevor sie mit sieben Jahren in die Schule kommen, haben Kinder in Finnland mehrere Dutzend Gesundheitschecks hinter sich, die alle Bereiche von den Zähnen bis zu Augen, Ohren, Motorik, Sprache und psychosozialem Verhalten betreffen. Bei Problemen wird sofort therapeutisch reagiert, auch mit dem Ziel, in der Schule Lernschwierigkeiten zu vermeiden. Die enormen Kosten dieses Unterfangens lohnen sich, so hat Finnland Schulleistungsstudien zufolge den geringsten Anteil von Kindern mit schwacher Lesekompetenz.

Eine Arbeitsgruppe von Elinet hat unterdessen die „Europäische Erklärung des Grundrechts auf Lese- und Schreibkompetenz“ verfasst. Lesenkönnen wird schon seit Jahrzehnten als Grundrecht angesehen, erstmals werden hier aber Voraussetzungen beschrieben, die erfüllt sein müssen, damit ein derartiges Recht auch realisiert werden kann. Inwieweit diese Voraussetzungen verwirklicht sind, dazu geben die umfangreichen Länderberichte Aufschluss, die ebenfalls im Rahmen von Elinet entstanden sind.

EU-Bericht für Deutschland: gute Projekte, keine Breitenwirkung

Der Länderbericht zu Deutschland zeigt, dass es um einige dieser Voraussetzungen nicht gut bestellt ist: Zwar gibt es, wie die genannten Beispiele guter Praxis zeigen, vielversprechende Projekte, sie sind jedoch punktuell und eine große Breitenwirkung ist nicht zu erwarten. Es fehlen in Deutschland systematische Unterstützungsangebote für Eltern aus bildungsfernen Schichten.

Eine qualitativ hochwertige vorschulische Erziehung und eine bessere Qualifizierung der Erzieherinnen werden seit Jahren gefordert, aber nicht realisiert. Es fehlt ein flächendeckendes Angebot an gut ausgestatteten öffentlichen Büchereien. Kinder brauchen gut ausgebildete Lehrkräfte. In Deutschland werden jedoch viele fachfremde Lehrkräfte eingesetzt, eine Fortbildung ist nicht obligatorisch. Kinder mit Leseschwäche haben keinen verbrieften Anspruch auf zusätzliche schulische Förderung durch ausgewiesene Experten oder Expertinnen. Die Förderung digitaler Kompetenzen steht in Deutschland zwar auf der politischen Agenda, aber es fehlt schon an der notwendigen Infrastruktur.

Sprachstandstest im Jahr vor der Einschulung - viel zu spät

Gefordert wird seit Langem, dass bei Kindern mit drei, spätestens jedoch mit vier Jahren eine verbindliche Sprachstandsüberprüfung stattfindet und dass ausnahmslos alle Kinder, bei denen sprachliche Rückstände festgestellt werden, eine sprachliche Förderung erhalten. Das gilt besonders für Kinder mit Migrationshintergrund, die schon im Vorschulalter sprachlich so gut gefördert werden sollen, dass sie bei Schulbeginn die Schulsprache beherrschen. In Berlin ist nur bei Kindern, die eine Kita oder Kindertagespflegestelle besuchen, im Frühjahr des letzten Jahres vor dem regulären Schuleintritt eine Sprachprüfung vorgesehen – viel zu spät, um noch wirksame Fördermaßnahmen einzuleiten.

Am morgigen Dienstag werden die Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) bekannt gegeben. Man darf gespannt sein, wie Deutschland im internationalen Vergleich abschneidet.

Renate Valtin war Professorin für Grundschulpädagogik an der Humboldt-Universität, ist Vorsitzende der Europäischen Lesegesellschaften (Idec) und Mitglied im Vorstand von Elinet sowie im deutschen Team von Iglu.

Renate Valtin

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