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Siebtklässler sitzen in einem Klassenraum an ihren Tischen und tragen Mund-Nasen-Schhutz.

© Daniel Bockwoldt/dpa

Vor der Entscheidung über den Hybridunterricht: Kinder brauchen Bildung und Präsenz

Persönlichkeiten aus Bildungsforschung und Medizin plädieren in einem Gastbeitrag dafür, Schulen offen zu halten - um Schaden von den Kindern abzuwenden.

Vor erneuten Schulschließungen und vor einer breiteren Einführung eines Hybrid-Unterrichts, um die Pandemie einzudämmen, warnen Persönlichkeiten aus Bildungsforschung, Soziologie und Medizin in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel. Die Schulen in Deutschland seien dafür noch nicht digital aufgestellt, Kinder aus bildungsfernen Familien könnten noch weiter zurückfallen und zudem psychische und körperliche Schäden davontragen.

Autor*innen des Beitrags sind Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin, Nicola Fuchs-Schündeln, Professorin für Makroökonomie und Entwicklung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Johannes Hübner, Professor für pädiatrische Infektiologie am Dr. von Hauner’sches Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München, Andreas Schleicher, Bildungsdirektor der OECD, und Nicola Brandt, Leiterin des OECD Berlin Centre.

Kinder sind von Covid-19 als Krankheit weit weniger betroffen als Erwachsene. Es gibt aber wohl keine Gruppe, die stärker unter den Eindämmungsmaßnahmen zu leiden hatte. Insbesondere Kinder aus sozial schwächerem Umfeld wurden im Frühjahr weit zurückgeworfen. Damals schlossen Schulen und Kitas als erste öffentliche Einrichtungen - nur um sich dann ganz hinten auf der Öffnungsliste wiederzufinden.

Das Recht auf Bildung soll im zweiten „Lockdown light“ jetzt Vorrang haben, darüber besteht Einigkeit in der Politik. Das ist ein großer Fortschritt gegenüber dem Frühjahr. Doch was heißt Priorität für Bildung konkret? Über kaum einen Aspekt des Pandemiemanagements debattieren die Deutschen derzeit hitziger.

[Lesen Sie dazu auch: Was spricht gegen den Hybridunterricht - Fragen und Antworten aus der Redaktion]

Präsenzunterricht? Hybride Wechselmodelle, bei denen ein Teil der Schülerinnen und Schüler sich von zu Hause aus in das Klassenzimmer dazu schaltet? Oder soll man nicht doch wieder vorsichtshalber alles schließen, weil das Management von Quarantänefällen so kompliziert ist? Kein Wunder, dass das Thema weiter die Gemüter erhitzt und Familien verunsichert.

Bei der Digitalisierung erst am Anfang

Aus Sicht von OECD-Bildungsanalysen muss man sich in dieser Debatte zwei Fakten vergegenwärtigen. Erstens zeigen die PISA-Studien immer wieder: Das deutsche Schulsystem unterstützt auch in den besten Zeiten Kinder aus benachteiligten Elternhäusern nur unzureichend darin, Rückstände aufzuholen. Und zweitens steht das deutsche Bildungssystem bei der Digitalisierung erst ganz am Anfang.

Ein Porträtbild von Andreas Schleicher.
Andreas Schleicher, Bildungsdirektor der OECD und verantwortlich für die internationale Pisa-Studie.

© Federico Gambarini/picture alliance/dpa

Nur ein Drittel der Schulen verfügte 2018 über effektive Online-Lernplattformen. Damit rangiert Deutschland im unteren Drittel der PISA-Staaten. Es fehlt aber nicht nur an digitaler Infrastruktur sondern vor allem an geschulten Lehrkräften, die digitale Technologien sinnvoll in den Unterricht integrieren können, sowie technischem Personal, das die Lehrkräfte dabei unterstützt.

[Lesen Sie dazu den Artikel von Christian Füller über Laptops und Lernplattformen: Digitale Revolution im Schnelldurchlauf]

Zu spät, um den Pandemie-Winter zu bewältigen

Länder, die relativ problemlos in den digitalen Unterricht von zu Hause wechseln können, wie China, Singapur, Finnland, Kanada oder Estland, investieren schon seit vielen Jahren in Infrastruktur, innovative Unterrichtskonzepte und Kompetenzen der Lehrer im Umgang mit digitalen Technologien.

Man mag beklagen, dass die Politik in den vergangenen Jahren mehr hätte tun können. Fakt ist: Einen solchen Rückstand holt man nicht in wenigen Monaten auf. Investitionen in digitale Bildung lohnen sich. Um diesen Pandemie-Winter zu bewältigen, kommen sie aber zu spät.

Bei einem Wechsel in den Unterricht von zu Hause würden vor allem die schwächsten Schülerinnen und Schüler das Nachsehen haben. Das zeigt auch eine aktuelle Studie aus den Niederlanden. Obwohl das Land über exzellente Infrastruktur für digitales Lernen verfügt, haben die Schülerinnen und Schüler um ein Fünftel geringere Lernfortschritte im vergangenen Schuljahr mit einem relativ milden Lockdown gemacht als in normalen Jahren.

Am härtesteten hat es Kinder aus ärmeren Familien getroffen. Bei ihnen ist der Verlust an Lernfortschritten um mehr als 50 Prozent höher als bei Kindern aus Haushalten mit hohem Bildungsstand [einen redaktionellen Bericht über diese Studie finden Sie hier].

Weder Zeit noch Kompetenzen haben, um beim Lernen zu helfen

Bildung ist nicht allein der Transfer von Wissen, es ist immer Beziehungsarbeit und ein sozialer Prozess. Präsenzunterricht lässt sich nicht leicht ersetzen. Kinder, die gelernt haben selbständig zu lernen und zu Hause ein unterstützendes Umfeld vorfinden, haben im Lockdown weniger zu fürchten.

Das sieht anders aus, wenn Eltern arbeiten müssen und weder die Zeit noch das Geld oder die Kompetenzen haben, um beim Lernen zu Hause zu unterstützen. Dann leiden der Lernprozess, Bildungs- und Berufschancen, in vielen Fällen dauerhaft. Zwischen ein bis drei Prozent ihres Lebenseinkommens könnten die betroffenen Jahrgänge allein durch die Schulschließungen im Frühjahr einbüßen.

Was schwerer wiegt: Lernen baut auf zuvor erworbenem Wissen und Fähigkeiten auf. Deswegen verstärken sich die negativen Auswirkungen auf Berufs- und Lebenschancen, je länger Schulen und Betreuungseinrichtungen geschlossen bleiben. Für die Jüngsten ist es am schwierigsten, die Lernrückstände wieder aufzuholen.

Dabei geht es um die zukünftige Innovations- und Wirtschaftskraft des ganzen Landes, aber nicht nur. Schulschließungen wirken sich auch auf die Gesundheit der Betroffenen aus. Denn die wiederum stehen in engem Zusammenhang mit Einkommen und Bildung.

Jutta Allmendinger gestikuliert im Gespräch.
Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB).

© Mike Wolff

Aber für Kinder steht noch weit mehr auf dem Spiel. Es gibt ernst zu nehmende Berichte und Studien über steigende Gewalt gegen Kinder im Lockdown. Wenn Schulen und Kitas geschlossen sind, fällt das niemandem auf. Nachverfolgung und Prävention brechen zusammen. Kinder verbringen mehr Zeit vor dem Bildschirm, bewegen sich weniger und nehmen häufig zu.

Darunter leiden Motorik und kognitive Fähigkeiten. Auch die gesundheitlichen Schäden drohen von Dauer zu sein. Übergewicht im Kindesalter werden viele ein Leben lang nicht los. Das begünstigt nicht nur chronische Krankheiten, sondern auch einen schweren Verlauf von Virusinfektionen wie Covid-19 – dem nicht entgegenzuwirken, wäre eine kurzsichtige Gesundheitspolitik.

Trauer darüber, von den Freunden getrennt zu sein

Aber auch psychische Beschwerden als Nebenwirkungen von „Lockdowns“ dürfen wir nicht auf die leichte Schulter nehmen: Depressionen und Trauer darüber, von den Freunden getrennt zu sein, haben Kinderärztinnen und -ärzten zufolge im Frühjahr stark zugenommen.

Es gibt eine gute Nachricht: Gerade jüngere Kinder sind von Covid-19 nur selten betroffen. Wir müssen uns um unsere Kinder also nicht sorgen, wenn sie in der Kita oder der Schule weiter ihre Freunde treffen, mit ihnen spielen und lernen.

Zwar gibt es inzwischen auch mehr Ansteckungsfälle in Schulen und Kitas, wenn insgesamt die Infektionszahlen steigen, doch bislang scheint die überwiegende Mehrzahl verlässlicher Studien darauf hinzuweisen, dass besonders jüngere Kinder die Krankheit relativ selten weitergeben – anders als bei der Grippe, die bislang die Grundlage für Epidemiepläne bildete.

„It’s not the flu – es ist nicht die Grippe“ – das war im Frühjahr der Schlachtruf, der den Ernst der Covid-19-Pandemie verdeutlichen sollte. Der klingt hoffentlich auch weiterhin Politikerinnen und Politikern in den Ohren, wenn sie über die Zukunft für Schulen und Kitas in den kommenden Wochen und Monaten befinden.

Schulen können Risiken einschränken

Schließlich gilt: Während es in Schulen möglich ist, durch wirksame Hygienemaßnahmen das Verbreitungsrisiko einzuschränken, ist es viel schwieriger, dies außerhalb des schulischen Umfelds zu tun. Untersuchungen der Hamburger Schulbehörde zufolge haben sich Kinder sehr viel häufiger außerhalb als innerhalb der Schulen angesteckt.

[Über die Hamburger Studie und zur medizinischen Studienlage berichten Tilmann Warnecke und Sascha Karberg hier: Zahlenspiele, um Schulen offen zu halten]

Das Eindämmen von Infektionen in Schulen ist zwar kompliziert, doch es funktioniert bisher. Schulleiterinnen und Schulleiter leisten gerade Großartiges, um das zu managen.

Unternehmen und Beschäftigten kann der Staat mit Hilfszahlungen durch Lockdown-Phasen helfen. Die wirtschaftliche Erholung kann er wie im Frühjahr mit einem kräftigen „Wumms“ an konjunkturstimulieren Maßnahmen unterstützen. Doch den Schaden für Gesundheit, Entwicklungs- und Berufschancen für Kinder, die dauerhaft nur eingeschränkten Zugang zu Bildung und Kontakt zu ihren Freunden haben, den macht niemand wieder gut.

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