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Renate Sternagel hilft, Millionen gesammelte Pflanzen in einem Online–Herbarium zu erfassen.

©  Susanne Donner

Vom Museumskeller ins Internet: Wie eine Herbonautin der Wissenschaft hilft

80 Jahre, Sütterlin-lesend und botanisch begeistert – Bürgerforscher wie Renate Sternagel holen alte Pflanzenexemplare in die digitale Welt.

Die Pflanze ist bräunlich, hat ovale, links und rechts vom Stängel abzweigende Blätter, wurde flach gepresst und auf ein vergilbtes Blatt Papier geklebt. "Das ist doch ein schönes Exemplar", sagt Renate Sternagel. Die Rentnerin sitzt am Schreibtisch in ihrem Arbeitszimmer in Berlin-Friedenau und zoomt sich auf ihrem Laptop routiniert die Beschriftung des eingescannten Pflanzenexemplars aus dem Bestand des Botanischen Museums in Berlin heran.

In krakeliger, verblasster Sütterlinschrift steht dort, wo und wann das Zweiglein von wem gefunden und bestimmt wurde. Ohne dieses Etikett wäre das Herbar wertlos. "Mai 1912", ruft die 80-Jährige begeistert. "Noch vor dem Ersten Weltkrieg!" Dann entziffert sie den Fundort: "Neu-Mecklenburg". Etwa Ostdeutschland? "Nein", lacht Sternagel, "da gibt es doch keine Pflanzen der Ordnung Gnetales."

Manch bröselige Pflanze ist 300 Jahre alt

Damals sei Papua-Neuguinea deutsche Kolonie gewesen und Neu-Mecklenburg eine der Provinzen. Zahllose deutsche Botaniker sammelten dort Pflanzen und schickten sie kistenweise gepresst und getrocknet an das Botanische Museum in Berlin. Dort liegen drei Millionen Herbarbelege bis heute zwischen säurefreien Spezialpapieren in ausgedehnten Kellergewölben. Wilder Thymian aus den Pyrenäen, Geißkraut aus dem Orient, Funde von Alexander von Humboldt und längst ausgestorbene Raritäten sind darunter. Manch bröselige Pflanze ist über 300 Jahre alt.

Dieses 300 Jahre alte Geißkraut aus dem Orient wird digitalisiert.
Dieses 300 Jahre alte Geißkraut aus dem Orient wird digitalisiert.

©  Susanne Donner

Diese Schätze zu digitalisieren und Forschern weltweit zur Verfügung zu stellen, dabei hilft dem Museum nun eine Schar von Bürgerwissenschaftlern. Freiwillig und unentgeltlich. Denn das Museum hat zu wenig Personal, um die handschriftlichen Etiketten zu entziffern und einzutippen. Und die Angestellten sind meist viel zu jung, um die alten Schriften, oft Sütterlin und Kyrillisch, überhaupt lesen zu können. Die studierte Germanistin Sternagel hingegen ist geradezu "süchtig" danach, so viel Spaß bereite ihr das Projekt.

Mit dem Einscannen kommt das Museum kaum nach

Die Idee, Bürger einzuspannen, um die jahrhundertealten Sammlungen in ein Online-Herbarium zu überführen, stammt aus Paris. Dort rief das Botanische Museum bis 2012 an Botanik interessierte Bürger zur Mithilfe auf, die schnell einen detektivischen Eifer entwickelten, die alten Beschriftungen an den Pflanzen zu enträtseln, die Namen längst vergessener Orte nachzurecherchieren und kryptische Abkürzungen zu entschlüsseln.

"Wir dachten, wir könnten das auch probieren", sagt Anton Güntsch, Leiter der Biodiversitätsinformatik am Botanischen Museum. "Wir hatten überhaupt keine Erwartungen." So war das "Herbonauten"-Projekt geboren – den das All erkundenen Astronauten gleich, erschließen sie das Universum der Pflanzen aus dem Tiefgeschoss des Museums.

Binnen kurzer Zeit klickten sich einige hundert Freiwillige durch die von Alexander von Humboldt und vielen anderen Forschern gesammelten Trockenpflanzen. Im Museum kommen sie mittlerweile kaum mit dem Einscannen nach. "Wir sind überwältigt von dem Erfolg, von der Akribie und Begeisterung, mit der uns viele Leute helfen", sagt Güntsch. Diese Erfahrung hat die Strategie des Museums verändert. "Wir denken künftig auch an die Bürgerwissenschaftler. Das wird für uns zu einem echten Faktor."

Boomende Bürgerwissenschaften

Bürger in die Forschung einzubinden ist keine neue Idee, doch über das Internet lassen sich die "Citizen Scientist" inzwischen so gut in laufende Projekte integrieren, dass sie zu einem wichtigen Faktor werden und manche Forschung, insbesondere personalintensive, überhaupt erst ermöglichen. Auf der Plattform buergerschaffenwissen.de etwa können ehrenamtliche Forscher unter diversen Bürgerforschungsprojekten wählen.

Da gibt es die Gruppe in Berlin, die Nacht für Nacht den Gesang der Nachtigallen in der Stadt aufzeichnet. In Kooperation mit dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig laufen Helfer einmal pro Woche Wanderrouten in ganz Deutschland ab und zählen Tagfalter. Hobbytaucher dokumentieren die Unterwasserpflanzenwelt in den Brandenburgischen Seen, und Schweizer Bürgerwissenschaftler befüllen ein Lexikon der Dialekte, indem sie ihre Mundart in die Hochsprache übersetzen.

In Bio zu Schulzeiten "sehr schlecht"

Voraussetzung für diese neue Welle der Partizipation sind die digitalen Technologien. Sternagel bekommt die Scans der Pflanzen über eine Onlineplattform zugespielt und trägt ein, was sie entziffert hat – mitunter erst, wenn sie mit anderen Herbonauten im Chat Zweifel ausgeräumt hat. "Fl steht für Flora nicht für Flecken", teilt etwa ein Bürgerwissenschaftler der Runde mit.

Germanistin Sternagel sei in Biologie zu Schulzeiten zwar "sehr schlecht" gewesen, wie sie sagt. Aber sie ist eine der besten Herbonautinnen, betont Projektleiterin Agnes Kirchhoff. Weit über 3000 Herbar-Etiketten hat die Rentnerin seit Dezember 2017 ins Digitale überführt. Sie beherrscht alte Schriften flüssig und kennt sich exzellent in Kolonialgeschichte aus, da sie mehrere Biografien über historische Persönlichkeiten veröffentlicht hat. Als Pflanzenliebhaberin besucht sie regelmäßig den Botanischen Garten und hat sich so auch in der Botanik späte Kompetenz erworben.

Mehrere hundert Herbonauten helfen dem Museum, darunter besonders aktive wie eine Hobbyforscherin aus Frankreich, die schon das Pariser Herbarium ins Digitale führte,und ein Biologe aus Berlin. Allesamt umtriebige Rentner, nur selten studierte Biologen. "Wenige exzellente Amateure machen fast die gesamte Arbeit", sagt Kirchhoff. "Das ist typisch für bürgerwissenschaftliche Projekte."

Wie tief die Top-Herbonauten in die Materie eintauchen, lassen ihre Chat-Dialoge erahnen: "Es handelt sich um die Anhöhen des Rio Yacotula, Nebenfluss des Rio Belen", wird dort der Fundort einer Pflanze penibel genau beschrieben. "Die gehen in einen Detailgrad hinein, den wir niemals leisten könnten", sagt Güntsch. "Das ist großartig."

Sofort lag eine Warnung im Postfach

Damit Bürgerwissenschaftler systematisch und einheitlich vorgehen, braucht es allerdings Mechanismen der Qualitätssicherung. Bei den Herbonauten gibt die Software erste Regeln vor. Jedes Etikett digitalisieren sicherheitshalber zwei Bürgerforscher unabhängig voneinander. Gibt es Abweichungen zwischen beiden, werden sie per Mail aufgefordert sich auszutauschen.

Einmal las Sternagel die Sammelnummer falsch ab. Sofort lag eine Warnung in ihrem elektronischen Postfach. Ist sie sich beim Ausfüllen unsicher, kann sie ein entsprechendes Feld ankreuzen, damit ein Museumsmitarbeiter ihre Angabe prüft. Die Bezeichnungen der Pflanzen dürfen die Bürgerwissenschaftler im Übrigen nicht vergeben. Diese Bestimmung ist den Museumsmitarbeitern vorbehalten. "Da ist ein Studium der Botanik doch hilfreich", sagt Kirchhoff.

Mit Pullover im dunklen Keller

Was Bürgerwissenschaftler übernehmen können, richtet sich auch danach, wie komplex und zumutbar die Aufgaben sind. Am Ende quietschgelber und labyrinthartiger Gänge sitzt eine junge Frau in einem dunklen Raum im Untergeschoss des Botanischen Museums. Neben ihr hängt eine Kamera an einem Gestell und richtet ihre Linse auf einen Glastisch. Das ist der Herbarscanner und die junge Frau eine studentische Hilfskraft.

Behutsam legt sie ein DIN A4-Blatt mit einer getrockneten Pflanze auf das Glas. Einige tausend Herbarbelege haben sie und ihre Kollegen schon eingescannt. "Das kann niemand acht Stunden am Tag machen, auch kein Bürgerwissenschaftler: im Dunklen und bei 18 Grad im Keller", sagt Kirchhoff. Bei diesen Temperaturen hält sich die getrocknete Flora am besten. Im Pullover sitzen studentische Hilfskräfte jeweils für ein paar Stunden in der Woche am Scanner.

Zwei Stockwerke höher, bei Licht und molliger Wärme sortiert Kirchhoff die gescannten Trockenpflanzen zu "Missionen". Eine nannte sie etwa "Von Runen und Hieroglyphen". Sie umfasste Museumsbestände, deren Etiketten besonders schwer zu entziffern waren. "Das reizte die Herbonauten zu unserem Erstaunen besonders", sagt Kirchhoff. "In drei Wochen waren sie damit fertig."

Freiwillige machen manche Forschung erst möglich

Die Museumsmitarbeiter in den oberen Etagen, die studentischen Hilfskräfte im kalten dunklen Keller, die Herbonauten daheim, fernab des Geschehens – sieht so die neue Hierarchie in der Wissenschaft aus? Sind Bürgerwissenschaften nur unbezahlte Hilfskräfte, deren Arbeit ungewürdigt bleibt und nur der Karriere der Profiforscher nutzt?
An den Herbonauten wird deutlich: Die Museen sparen Personal, das nie vorgesehen war, nie bewilligt worden wäre. Manche Forschung macht der Beitrag der Freiwilligen überhaupt erst möglich. So hätte es ohne die Mitglieder des Entomologischen Vereins Krefeld wohl nie eine systematische Zählung von Insekten gegeben und damit erstmals handfeste Belege für das Insektensterben in Deutschland.

Das digitale Herbar, das die Herbonauten mit aufbauen, ist für Biologen, Klimatologen und Botaniker weltweit ein Werkzeug, mit dem sich nachvollziehen lässt, wie sich Pflanzenarten verbreiten, sich verändern. Wie sie auf die menschgemachten Veränderungen der Umwelt in den vergangenen zwei Jahrhunderten reagiert haben und im Zuge des Klimawandels künftig reagieren werden.

"Als Zollinger die Pflanze fand, war er ziemlich verkatert"

Aber muss nicht, wer am Aufbau eines solchen Wissensschatzes mitarbeitet, wenigstens gewürdigt werden? "Ich bin im Dezember 2017 aus ganz eigennützigen Gründen zu den Herbonauten gekommen", erzählt Sternagel. Sie arbeitete an einer Biografie über den Schweizer Botaniker Heinrich Zollinger. Er sammelte zur Kolonialzeit in den Südseegebieten Pflanzen. "Ich verstehe viel von alten Schriften und von Kolonialgeschichte. Aber von den Herbarien wusste ich nicht genug." Als sie dann zum ersten Mal zwei getrocknete Pflanzen von "ihrem Zollinger" auf dem Bildschirm vor sich hatte, war sie wie "elektrisiert".

Sofort blätterte sie in dessen Tagebuch und merkte schnell, wie hilfreich ihre eigene Forschung bei dem Projekt war: Denn so fand sie heraus, dass der Botaniker jene Pflanze auf der Südseeinsel Java bei Tjiringin gefunden haben musste. Auf dem Etikett fehlte der Fundort.

Sternagel trug ihn in das digitale Herbar ein. Sie las weiter in seinem Tagebuch: Als Zollinger die Pflanze fand, war er ziemlich verkatert. Am Vortag habe er "erst Bier, dann Bitter, dann wieder Bier, dann rothen, dann Rheinwein" getrunken. "So wurde ich besoffen", notierte er in sein Tagebuch. Auf dem Heimweg fiel er vom Pferd. Einheimische mussten ihn tragen. Es sind solche unglaublichen Geschichten hinter den Herbarien, die Sternagel begeistern.

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