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Ein Weibchen der Europäischen Sumpfschildkröte auf ihrem beschwerlichen Weg zum Ablegen ihrer Eier.

© Norbert Schneeweiß

Vom Aussterben bedroht: Die europäische Sumpfschildkröte ist in Gefahr

Wie die Schildkröte in Mitteleuropa bisher überlebt hat und was ihr heute das Leben schwer macht. Ausgerechnet der Wolf könnte ihr zur Hilfe kommen.

Ganze Wagenladungen voller lebender Sumpfschildkröten wurden noch im 18. Jahrhundert als begehrte Fastenspeise aus Brandenburg nach Schlesien geschafft. „In der Uckermark im Nordosten Brandenburgs wurden Sumpfschildkröten sogar noch vor dem Zweiten Weltkrieg in Gaststätten angeboten“, erklärt Norbert Schneeweiß vom Naturschutzverband NABU in Brandenburg.

„Heute sind das allerdings nur noch Anekdoten aus der Vergangenheit, inzwischen gilt die Europäische Sumpfschildkröte in Deutschland, Österreich und der Schweiz als vom Aussterben bedroht", sagt der Biologe weiter.
So hat Norbert Schneeweiß in den 1990er Jahren in der Uckermark die letzte natürliche Population in Deutschland gefunden. „Alle diese Tiere waren steinalt“, erinnert sich der Biologe. Offensichtlich hatte sich die Population schon längere Zeit nicht mehr vermehrt, die Schildkröten standen in Deutschland kurz vor dem Aussterben. 

Zwar waren auch in anderen Regionen des Landes einzelne Sumpfschildkröten gefunden worden. „Nur gehört nach unseren Erbgut-Analysen kein einziges dieser Tiere zur deutschen Population“, erklärt der 

Leiter des Museums für Tierkunde der Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden Uwe Fritz. „Diese Exemplare stammten zum Beispiel aus der spanischen Population und waren hier vermutlich ausgesetzt worden“, folgert er.

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Die einzige Hoffnung, die einheimischen Sumpfschildkröten zu retten, ruhte also auf den steinalten Panzern der letzten Überlebenden in der Uckermark. Zum Glück können sich auch solche hochbetagten Tiere oft noch fortpflanzen. Und tatsächlich entdeckten Norbert Schneeweiß und sein studentisches Team dann auch kleine Höhlen, die eine Schildkröte zehn bis 13 Zentimeter tief in den Boden gegraben hatte, um dort rund ein Dutzend Eier zu legen.

28,5 Grad sind in der Gelegehöhle nötig

„Allerdings fanden wir diese Gelege an ungeeigneten Stellen“, erinnert sich Norbert Schneeweiß. So lagen die Eier an Ackerkanten, die lange bevor die kleinen Schildkröten schlüpfen konnten, mitsamt dem Gelege wieder umgepflügt wurden. Oder der werdende Nachwuchs wurde auf Waldwegen unter den Reifen von Fahrzeugen zerquetscht.

„Normalerweise graben die Weibchen im Nordosten Deutschlands die Höhlen für ihre Eier an Stellen, an denen den ganzen Tag die Sonne scheint“, erklärt Norbert Schneeweiß. Eigentlich sind Schildkröten nämlich Tiere aus wärmeren Gefilden, die der Temperatur die Wahl des Geschlechts ihrer Nachkommen überlassen. 

Liegen die Tagestemperaturen im Gelege in den zwei oder drei Wochen in der Mitte der Entwicklung der Eier über 28,5 Grad, schlüpfen nur Weibchen. Bleibt das Gelege kühler, entwickeln sich Männchen. Mehr als 28,5 Grad in der Gelegehöhle werden so weit im Norden aber nur bei ganztägigem Sonnenschein erreicht. Finden die Weibchen solche Plätze nicht mehr, schlüpfen nur noch Männchen. Da Sumpfschildkröten möglicherweise hundert Jahre alt werden können, kann es  einige Jahrzehnte dauern, bis das letzte Weibchen stirbt und die Population erlischt. Früher fanden die Weibchen solche Plätze in der aus der letzten Eiszeit stammenden hügeligen Landschaft der Uckermark mit vielen Endmoränen oft. An deren Südseite gab es etliche gute Stellen für eine erfolgreiche Entwicklung der Eier. Zwischen diesen Hügeln gab es viele Feuchtgebiete mit Mooren und flachen Seen, in denen sich reichlich Schnecken, Krebstierchen und Larven von Insekten entwickelten, die wiederum die Nahrung der Sumpfschildkröten sind. 

Anfang Juni machten sich die Weibchen dann auf einen oft mühsamen Weg: Für Weibchen mit ihrem meist weniger als zwanzig Zentimeter langen Panzer, einem Gewicht von oft gerade einmal einem Kilogramm und Schwimmhäuten an den Füßen sind bis zu sechshundert Meter Luftlinie, die sie im Nordosten Brandenburgs bis zu einem solchen Südhang noch heute zurücklegen, dann eine durchaus anspruchsvolle Tages- oder sogar Mehrtages-Wanderung.

Selbst bei Minusgraden können sie überleben

Je nach Witterung schlüpften Mitte August die ersten Winzlinge aus den Eiern, und auch die kleinen Schildkröten, die noch Mitte September oder einige Tage später zur Welt kamen, hatten gute Chancen, in der Gelegehöhle den Winter zu überstehen. 

„Selbst wenn die Mini-Schildkröten dort bei Minusgraden durchfrieren, können sie das überleben“, erklärt Norbert Schneeweiß. Ohnehin ist diese Art hart im Nehmen: So überlebte eine Schildkröte in einem Erlenbruchwald im Wasser unter einer Eisschicht mehrere Wochen ohne den lebensnotwendigen Sauerstoff.
Solche Überlebenskünste aber kennen aus dem Süden importierte Tiere wahrscheinlich nicht. Deshalb ist das Überleben der letzten Population im äußersten Nordwesten des Verbreitungsgebietes auch so wichtig: Vermutlich kann nur sie die alten Traditionen der nördlichen Sumpfschildkröten weitertragen. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg aber funktionierten diese Überlebenstricks nicht mehr. „Damals musste die DDR sich selbst mit Lebensmitteln versorgen, daher wurden sogar die vorher nur als Wiesen genutzten Südhänge der alten Endmoränen umgepflügt“, schildert Norbert Schneeweiß den Beginn des Untergangs der letzten einheimischen Population.

Nach der Wende fand Norbert Schneeweiß dann die letzten Überlebenden, die sich aus eigener Kraft wohl kaum noch berappelt hätten. Also entnahmen die Naturschützer einige Eier aus den Gelegen und brüteten sie künstlich aus. Die Tiere aus dieser Erhaltungszucht liefern heute junge Schildkröten, die ausgesetzt werden und so die alternden Populationen unterstützen. Mancherorts bezahlten die Naturschützer die Bauern, die im Gegenzug ihre Äcker an den Südhängen wieder in Wiesen umwandelten, die nun nicht mehr gedüngt werden und daher nur ein- bis zweimal im Jahr abgemäht werden oder als Viehweide dienen. Dort fanden die Naturschützer dann auch bald junge Schildkröten.

Der Waschbär ist eine große Bedrohung

Dann aber gab es einen schweren Rückschlag: Seit Ende der 1990er Jahre vermehren sich die einst aus Pelzfarmen entkommenen Waschbären explosionsartig. Diese aus Nordamerika stammenden Eindringlinge gehen in den Frühjahrsnächten liebend gern in den flachen Gewässern auf die Jagd

Finden sie eine Schildkröte, greifen die Waschbären mit ihren langen Krallen in die Öffnungen des Panzers und ziehen Gliedmaßen oder auch den Kopf einfach heraus. „Bei bis zu 80  Prozent der heute zu Forschungs- und Naturschutzzwecken gefangenen Sumpfschildkröten finden wir daher Verletzungen bis hin zu abgebissenen Gliedmaßen“, erklärt Norbert Schneeweiß. „Derartige Verletzungen haben wir dagegen bei den vor dem Jahr 2000 gefangenen Tieren kein einziges Mal gesehen.“

Gegen die Waschbären wehren sich die Naturschützer um Norbert Schneeweiß inzwischen zum Beispiel mit Elektrozäunen um gute Brutgebiete von Schildkröten, die bisher kein Waschbär überwunden hat. In einem anderen Gebiet dezimieren Jäger die Waschbären kräftig und verbessern so die Chancen der Sumpfschildkröten deutlich. In einem weiteren Gebiet übernehmen die nach Deutschland aus eigener Kraft zurückgekehrten Wölfe den Job der Jäger: In Wolfsrevieren halten Waschbären sich zurück und die Schildkröten nutzen ihre Chancen. Zumindest, wenn der Klimawandel ihnen keinen Strich durch die Rechnung macht: „In den letzten Jahren häufen sich Trocken- und Dürreperioden, dadurch fehlt in Ost-Brandenburg inzwischen die durchschnittliche Regenmenge eines ganzen Jahres“, erklärt Norbert Schneeweiß. 

Trocknen Gewässer aus, versuchen Naturschützer zum Beispiel mit dem wieder Vernässen einst trocken gelegter Feuchtgebiete neue Lebensräume für die Art zu gewinnen. Und dann gibt es ja auch noch Projekte, die Europäische Sumpfschildkröte in geeigneten Gewässern im Rheingebiet und anderen Regionen in Süddeutschland, sowie auch in der Schweiz wieder anzusiedeln. Noch hat die Art in Mitteleuropa also eine Chance.

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