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Vogelschwärme: Performance am Forscherhimmel

Wie Giorgio Parisi das Verhalten von Vogelschwärmen mit Mitteln der Teilchenphysik entschlüsselt.

Stare lieben die milden Nächte Roms. Nachdem sie den Tag auf den Feldern außerhalb der Stadt verbracht haben, kehren sie in der Abenddämmerung in Italiens Metropole zurück, deren Palazzi, von der Sonne aufgeladene Akkus, nun ihre Wärme abgeben. „Am Abend gruppieren sich die Stare zu 5000 Vögeln und mehr“, erzählt Giorgio Parisi. Man erkenne die Schwärme schon aus zehn Kilometern Entfernung: eine Wolke, die näher kommt, schwarz gepunktet von Flügeln. Aber es ist keine Kugel, die da durch die Luft rollt. „Die Form ist eher die eines Pfannkuchens mit ausgefranstem Rand.“

Parisi ist kein Ornithologe, sondern Physiker. Vergangene Woche wurde er in Dresden mit dem höchsten deutschen Forschungspreis für theoretische Physik geehrt, der Max-Planck-Medaille. Der gebürtige Römer gehört zu der Spezies der Komplexitätsforscher. Er ist einer der Pioniere der numerischen, computergestützten Wissenschaft, ein Pendler zwischen Mathematik und Physik, zwischen Ordnung und Chaos. Professor für Quantenphysik an der Universität La Sapienza in Rom, aber in der Wahl seiner Forschungsthemen frei wie ein Vogel.

Man kann seine Publikationsliste nur bestaunen. Der heute 62-Jährige hat das Zusammenspiel von Elementarteilchen studiert, Supercomputer entwickelt und sich mit neuronalen Netzen befasst. Seit Jahrzehnten treibt ihn die Frage um, warum magnetische Systeme bei Temperaturen von minus 240 Grad Celsius und weniger nicht zu völliger Ordnung gefrieren. Wie er von diesem Thema zur Erforschung des Schwarmverhalten von Staren gelangt ist?

„Weil es mich interessiert“, sagt Parisi mit einem verschmitzten Lächeln, schaut nur kurz auf und dann wieder auf das vor ihm liegende Blatt Papier, auf das er die Umrisse eines Vogelschwarms zeichnet. Was aussieht wie die Kontur eines Geigenkörpers, wird rasch um ein paar Pfeile ergänzt. Die Pfeile symbolisieren die wechselnden Flugrichtungen des Schwarms. Als Nächstes skizziert er die Bewegung eines einzelnen Vogels.

Der dunkelhaarige Wissenschaftler stünde jetzt gerne vor einer Tafel. Ein schwarzes Brett und ein Stück Kreide in der Hand wären ihm lieber als die schmucke Lobby eines Dresdner Hotels, wo er in einem tiefen Sessel versinkt. Es ist nicht so, dass ein einzelner Vogel alle anderen anführt. Parisis Modellrechnungen legen nahe, dass der einzelne Star nur seine sechs oder sieben nächsten Nachbarn beachtet und die eigene Bewegung nach ihnen ausrichtet.

Umso mehr fasziniert ihn die abendliche Performance am Himmel. Die kreisende Ordnung der schwarzen Punkte erinnert an Eisenspäne auf einem Blatt Papier, unter dem sich ein Magnet bewegt. „Die Form des Schwarms bleibt auch dann erhalten, wenn die Vögel ihre Flugrichtung ändern“, sagt Parisi.

Parisis Forschergruppe macht Aufnahmen der Schwärme aus unterschiedlichen Blickwinkeln, um den Flug einzelner Stare in drei Dimensionen zu verfolgen. „Bei 5000 Staren und drei Raumkoordinaten für jeden Vogel sind das 15000 Variablen“, sagt er, während seine Brille vor dem hellblauen Pullover hin und her baumelt. Für Biologen seien derart komplexe Probleme kaum zu bewältigen.

Wie vielfältig dagegen die Forschungsgebiete der Physiker heutzutage sind, zeigt der Besuch bei der Jahrestagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft in Dresden. 7500 Teilnehmer hörten sich Vorträge über Gruppendynamik, die Ausbreitung von Influenzaviren oder über Biopolymernetzwerke an. Ein Physiker, der wie Parisi ausgefeilte mathematische Modelle entwickelt hat, unterscheidet nicht zwischen den Systemen. „Es geht immer wieder um viele Agenten, die miteinander in Wechselwirkung stehen und Informationen austauschen.“ Dabei verhält sich das Kollektiv anders als der einzelne Agent, ob es sich dabei um ein Neuron handelt oder einen Vogel.

Sein mathematisches Rüstzeug hat Parisi in der Quantentheorie erworben. Sein Vater hätte ihn gerne im Ingenieurberuf gesehen. Den Sohn aber, schon als Schüler mathematik- und schachbegeistert, zog es zu abstrakteren Anwendungen seiner Rechenkünste: über die Statistische Mechanik zur Hochenergiephysik. So schrieb er seine Doktorarbeit über das mysteriöse Higgs-Teilchen, dem bis heute Forscher aus aller Welt mit milliardenschweren Apparaturen nachjagen, um so die Massen sämtlicher Materiebausteine erklären zu können.

In der Hochenergiephysik stößt der Reduktionismus an seine Grenzen. Zwar bestehen Atomkerne aus Protonen und Neutronen und diese wiederum aus noch kleineren Komponenten, aus jeweils drei Quarks. Doch das ist ein grobes Bild. Bei näherem Hinsehen bewegen sich Quarks in einem Meer flüchtiger Partikel. Nie lässt sich ein einzelnes Quark isolieren.

Das Gewirr ist typisch für die Mikrowelt. Selbst das Vakuum, das sprichwörtliche Nichts, ist nicht leer. Vielmehr ist es ein Reservoir, aus dem sich Partikel kurzfristig Energie borgen. Immerzu bilden sich Paare von Teilchen und ihren Antiteilchen, die sich bald darauf wieder gegenseitig vernichten. Solche Quark-Antiquark-Paare sind wesentlich für das Verständnis des Vakuums und der starken Kernkraft. Aber kann man so ein Durcheinander mathematisch beschreiben?

Physiker wie Parisi werfen Netze und dreidimensionale Gitter über die Mikrowelt. Gitter, in denen die Knotenpunkte weniger als ein Billionstel Millimeter voneinander entfernt sind. Je feiner das Gitter, umso verlässlicher lassen sich die Kernkräfte und die Massen der Teilchen ermitteln.

Die Rechenoperationen sind nur mit Supercomputern zu bewältigen. In den 80er und 90er Jahren konstruierten Parisi und seine Kollegen derartige Hochleistungsrechner. In Eigenregie, ohne Vorkenntnisse in der Hardware. Die Aneignung dieser völlig neuen Kulturtechnik erfüllt den Forscher mit Stolz.

Die „Array Processor Elements“ und nachfolgende Chips öffneten Parisi ein Fenster zu Computersimulationen. „Auch bei Vogelschwärmen kommt man nicht ohne Computer aus“, sagt er. „Es gelingt uns damit, die Positionen einzelner Stare bis auf zehn Zentimeter genau zu bestimmen und ihre Flugbahnen zu verfolgen.“

Im Schwarm blieben die Vögel eng beieinander. Sie hielten Abstände von nicht mehr als 80 Zentimeter ein. Wer in der Formation außen fliege, würde nach kurzer Zeit von einem weiter innen kreisenden Vogel abgelöst. All dies macht es Raubvögeln wie Turmfalken schwer, ein Opfer zu finden. Mit einer Spannweite von bis zu 80 Zentimetern kann der Falke nicht ohne weiteres in den Schwarm vorstoßen. Er riskiert dabei, sich die Flügel zu verletzen.

Auch im Labor ist Schwarmintelligenz gefragt. Parisi ist zwar ein international vielfach ausgezeichneter Experte für mathematische Physik. Doch um sich einen Reim auf die Bewegungen der Vogelschwärme über den Dächern Roms zu machen, arbeitet er mit Verhaltensbiologen zusammen. Der vielseitig e Wissenschaftler ist es gewöhnt, seine Erkenntnisse und Ansichten zur Diskussion zu stellen.

In Zeitungsbeiträgen mischt er sich auch in die italienische Hochschulpolitik ein. Aus Protest gegen Kürzungen im Forschungshaushalt verlegte er kürzliche seine Vorlesungen ins Freie. Die Sparmaßnahmen führten dazu, dass herausragende italienische Wissenschaftler außerhalb des Landes arbeiten müssten. Stars, von denen nur wenige irgendwann zum Schwarm zurückkehren.

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